Die vergessenen Kinder

Kinder. Viele Eltern versagen in der Erziehung: Die Jugendwohlfahrt ist überlastet, die Politik sieht zu

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Ausgelassen kreischend stürzt sich eine Gruppe von Kindern auf ihren Rädern einen Hügel hinunter. „Aus dem Weg!“, rufen sie fröhlich. Gras, Dreck und Steine fliegen durch die Luft. Die kleine Parkanlage, die in der Mitte eines sehr idyllischen Häuserkomplexes liegt, haben sie schlichtweg in einen Mountainbike-Parcours verwandelt. Die meisten Büsche sehen schon sehr mitgenommen aus, der Boden ist mit tiefen Furchen durchzogen. Die Erwachsenen, die den Weg passieren, können manchmal nur knapp ausweichen. Man sieht diesen Mädchen und Buben nicht an, dass sie in ihrem kurzen Leben Dinge erlebt haben, die tiefe Verletzungen hinterlassen haben. Nicht umsonst sind sie hier im SOS-Kinderdorf in der Kärntner Gemeinde Moosburg in unmittelbarer Nähe des Wörthersees gelandet.

Der achtjährige Marco*
ist der geschickteste innerhalb der Radfahrertruppe. Er lässt alle laut kichernd hinter sich. Marco ist seit einigen Monaten Teil der Kinderdorf-Gemeinschaft. Seine Mutter leidet an einer bipolaren Störung und ist nicht nur nicht in der Lage, ihren Sohn zu betreuen, sondern wirkt auch extrem verstörend für das Kind. Die Nachbarn hatten die Kinder- und Jugendwohlfahrt alarmiert, als sie laut schreiend und halb nackt aus dem Fenster gehangen war.

Die kleine Janine*
, die mit ihrem knallrosa Rad eifrig den anderen hinterhertritt, hatte bei ihrer Ankunft im Kinderdorf nur ein mickriges Plastiksackerl dabei, in dem all ihre Habseligkeiten verstaut waren. Ihre Eltern sind alkoholabhängig und hatten das Kind oft ganze Nächte sich selbst überlassen. Janine konnte nicht mit Besteck essen, das Ritual des Zähneputzens war ihr völlig fremd.

Jedes Kind im Moosburger Kinderdorf, das eben sein 40-jähriges Bestehen feiert, hat seine eigene Leidensgeschichte mitgebracht. Alle vereint die soziale Verwahrlosung. Insgesamt existieren in Österreich elf SOS-Kinderdörfer, die rund 1500 Bewohnern ein neues Zuhause geben, 82 leben zurzeit in Moosburg. Doch längst platzt die vom damaligen Medizinstudenten Hermann Gmeiner 1949 ins Leben gerufene Institution aus allen Nähten. Der Staat ist für das eskalierende Bedürfnis an Betreuungsstätten alles andere als gewappnet. Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die fremdbetreut werden müssen, nimmt nämlich dramatisch zu. Waren im Jahr 2002 österreichweit noch 8995 solcher Fälle vermerkt, so musste die Kinder- und Jugendwohlfahrt im Vorjahr bereits 11.343 registrieren. Das entspricht einem Anstieg von über 26 Prozent. Zusätzlich müssen immer mehr Sozialarbeiter verzweifelte, hilflose und oft psychisch kranke Eltern bei der Versorgung ihrer Kinder unterstützen. Das heißt im Klartext, dass das Kind zwar im Familienverbund verbleiben kann, jedoch zusätzlich von der Jugendwohlfahrt betreut und unterstützt wird. In dieser „Zwischenstufe“ gibt es sogar einen Zuwachs von 87 Prozent.

Zurzeit sind allein in Wien über 1600 Kinder, deren Eltern überfordert sind oder selbst an psychischen Problemen leiden, in sozialpädagogischen Einrichtungen untergebracht. In den Wiener Familien- und Jugendämtern wurden aber im letzten Jahr 10.518 Gefährdungsmeldungen abgegeben. „Die Tendenz ist leider weiter steigend“, so Regina Brandstetter, Leiterin einer Wiener Regionalstelle, „die Probleme reichen von schwangeren Minderjährigen über häusliche Gewalt und Vernachlässigung bis zu Alkohol- und Drogenproblemen, sowohl bei Jugendlichen als auch bei deren Eltern.“

Seit Jahren weisen Experten wie Sozialarbeiter sowie Kinder- und Jugendanwälte auf die drohende Zunahme von ­Problemfamilien hin und fordern mehr Versorgungsressourcen. Georg Dimitz, Berufsvertreter der Sozialarbeiter, klagt im profil-Interview: „Wir schreien seit sieben Jahren um Hilfe. Die Jugendwohlfahrt ist schrecklich überlastet, immer mehr Sozialarbeiter leiden an einem Burnout. Doch die Politik sieht einfach nur zu.“

Das begleitende Drama für den stetig anwachsenden Krisenstatus der Jugend: Das österreichische Gesundheitssystem ist für die seelische SOS-Situation überhaupt nicht gewappnet. Die stationäre Akutversorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie liegt nicht einmal bei 50 Prozent des gesetzlich vorgegebenen Richtwerts, wie profil in seiner Cover-Geschichte „Das kaputte Kind“ (Nr. 34/2012) offenlegte. Was nicht nur moralisch fahrlässig ist, sondern auch von ökonomischer Kurzsichtigkeit zeugt: Verschleppte oder verabsäumte Therapien können seelische Störungen und Suchterkrankungen chronifizieren, und ein arbeitsunfähiger und behandlungsintensiver Erwachsener kostet die Kassen und den Staat in weiterer Folge ein Vielfaches.

Die Gründe für den Anstieg der Familien in der Krise, der im paradoxen Kon­trast zu den sinkenden Geburtenzahlen steht, sind vielfältig. Die Brüchigkeit von Beziehungen, die wachsenden Scheidungsraten und die steigende Zahl von alleinerziehenden und dementsprechend überforderten Müttern tragen ihren Teil bei. Durch die steigende Mobilität fällt auch der soziale Puffer der Großfamilie zunehmend weg, durch den Konflikte früher abgefedert werden konnten. Die Großeltern, die früher ums Eck wohnten und jederzeit bei der Betreuung der Kinder einspringen konnten, leben jetzt häufig Hunderte Kilometer weg in einer anderen Stadt.

Zusätzlich belastet der wachsende Arbeitsdruck die psychische Stabilität von Eltern. Das Einkommen der Männer alleine reicht oft nicht mehr, Frauen müssen trotz der Betreuung mehrerer Kinder ihren Teil zum Haushaltsbudget beitragen und sind dementsprechend überlastet. Die Überschuldung von Familien ist durch die Finanzkrise nochmals stark angestiegen. Solche Stresssituationen stellen die Weichen für höhere Gewaltbereitschaft, Sucht­erkrankungen und seelische Störungen. Eine effiziente Hilfe muss also heute oft an vielen Ebenen ansetzen, beginnend bei einer Schuldnerberatung bis hin zur Psychotherapie. Diese multikomplexe Hilfe ist jedoch teuer und logistisch schwer umzusetzen.

Der Wiener Sozialarbeiter Georg Dimitz glaubt auch, dass Eskalationen im Vorfeld verhindert werden könnten: „Wir sollten viel mehr auf Prävention setzen. Die Sozialarbeiter spielen heute oftmals nur noch Feuerwehr.“ So könnte beispielsweise wieder eine verpflichtende Elternberatung an den Mutter-Kind-Pass gekoppelt werden. Schwangere zeigen sich meist sehr aufgeschlossen und lernfähig. Erziehungsdefizite oder pädagogische Wissenslücken könnten schon früh festgestellt werden. Auch sollten grundsätzlich Psychotherapeuten und Sozialarbeiter in Schulen und Kindergärten vor Ort sein. In Skandinavien ist dies bereits seit Langem üblich. Auch ein verpflichtendes, bundesweites Kindergartenjahr könnte Verbesserungen in der Präventionsarbeit mit sich bringen. Doch für solche Maßnahmen fehlen die Ressourcen. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass bundesweit 550 Stellen in den Jugendämtern fehlen. Manche Experten sprechen von einer nötigen Verdoppelung des derzeitigen Personals.

Auch die Kärntner SOS-Kinderdorf-Geschäftsführerin Maria-Theresia Unterlechner sieht den wesentlichen Handlungsbedarf in der Präventionsarbeit: „Viele Kinder verwahrlosen unbemerkt bis zu ihrem fünften Lebensjahr. Im besten Fall im Kindergarten oder aber erst mit dem Eintritt in die Schule werden Missstände von Außenstehenden überhaupt bemerkt.“ Meist werden aber auch dann nur Extremfälle an Verhaltensauffälligkeit registriert. Die meisten Fälle, die im Kinderdorf landen, fallen in die Rubrik „vernachlässigt”, was vor allem an verschiedenen Entwicklungsbeeinträchtigungen und auch groben körperhygienischen Defiziten augenscheinlich wird. Die Vernachlässigungen machen zwei Drittel aller Fälle aus. An zweiter Stelle rangiert die psychische Gewalt mit 26 Prozent, körperliche Gewalt haben 15 Prozent der Kinder erlebt, sexuellen Missbrauch zwei Prozent.

Durch die zu spät genutzte Möglichkeit der frühzeitigen Intervention sind viele Kinder schwer traumatisiert, bevor sie überhaupt in eine Einrichtung kommen. Sie bedürfen besonders intensiver Betreuung, wie Anton Magometschnigg erklärt, der für eine SOS-Kinderdorf-Kriseneinrichtung für schwere Fälle verantwortlich ist: „Viele dieser Kinder haben bereits massive Bindungsprobleme und vertrauen zunächst niemandem. Sie reizen oft alle Grenzen aus, sind aggressiv und zerstören in ihrer unbeherrschten Wut ihre Umgebung. Sie wollen einfach austesten, wie weit sie gehen können, ob sie fallen gelassen werden oder ob wir uns ihrer ehrlich annehmen.“

Diese Phase müssen Betreuer mit ihnen durchstehen, bevor sie eine tragfähige Beziehung aufbauen können. Das kommt einer nervlichen Zerreißprobe für alle Beteiligten gleich. Denn manchmal stellen solche Kinder auch eine große Gefahr für alle anderen Kinder in der Einrichtung dar, da sie um sich schlagen oder ihre Mitbewohner bedrohen. Deshalb werden solche Härtefälle oft von einer Institution in die nächste geschickt und durch diese Odyssee wiederum traumatisiert.

Dass destruktive Verhaltensmuster innerhalb von Familien über Generationen weitergegeben werden, ist ein statistisch nachweisbares Faktum, das zusätzlich zeigt, wie wichtig Früherkennung und Präventionsarbeit sind. Viele der von profil befragten Sozialarbeiter berichten, dass sie bereits Familien in der dritten Generation betreuen.

Solchen kontinuierlichen Problem­familien kann oft nur im Verbund geholfen werden. Das SOS-Kinderdorf nimmt etwa manchmal ganze Familienverbände auf, um den Eltern die gesamte Alltagsbewältigung und den Umgang mit Stress- und Störfaktoren beizubringen. Dies ist ein sehr teures Unterfangen und nur ­selten möglich – Bedarf gäbe es jedoch genug.
Tatsächlich sind in Österreich umfassende Reformen dringend nötig, um eine funktionierende Jugendwohlfahrt aufzubauen. So existiert nicht einmal ein bundesweites Kinder- und Jugendschutzgesetz. Ein entsprechender Entwurf kreist seit Jahren in der Warteschleife. Doch die Bundesländer wehren sich vehement dagegen, da ein solches Gesetz eine enorme Ressourcenaufstockung vorschreiben würde, die mit hohen Kosten verbunden ist. Erst im April haben die Steiermark, Oberösterreich und das Burgenland den mittlerweile vierten Gesetzesentwurf von Wirtschafts-, Familien- und Jugendminister Reinhold Mitterlehner erneut abgelehnt.

Doch ohne ein bundesweit gültiges Gesetz können keine großen Maßnahmen gesetzt werden. Es ist zurzeit nicht einmal eine Bestandsaufnahme möglich. Da die Jugendwohlfahrt im Zuständigkeitsbereich der Bundesländer liegt und jedes Land eine andere Dokumentation erstellt, können keine vergleichbaren aussagekräftigen Daten für ganz Österreich erhoben werden. Die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits kritisiert diese Zustände seit Jahren: „Es ist eine Schande, dass so ein kleines Land wie Österreich nicht einmal eine bundesweite Administration schafft.“

Auf internationalen Kinder- und Jugendschutzkongressen wird Österreich belächelt, da sogar Entwicklungsländer mit entsprechend aussagekräftigen Berichten aufwarten können.

Bei den Querelen zwischen Bund und Ländern bleiben immer mehr Kinder und Jugendliche auf der Strecke. So gibt es nicht einmal einheitliche Standards, die besagen, ab wann ein Kind überhaupt aus einer Familie genommen werden muss. Diese Entscheidung fällt oft ein einzelner Sozialarbeiter. Grundsätzlich sollten jedoch mindestens zwei speziell geschulte Experten im Vieraugenprinzip derartig gravierende Maßnahmen treffen – aufgrund der vielen Fälle ist dies jedoch immer seltener möglich. So kann es passieren, dass ein Kind manchmal zu früh aus der Familie genommen wird. Oder zu spät, wie Tragödien wie der Fall Luca aufzeigen. Der Druck bei den Sozialarbeitern ist deshalb dementsprechend groß, da sie im Falle dramatischer Konsequenzen auch persönlich belangt werden können.

Michael Gnauer, Kinder- und Jugendrechtsbeauftragter der SOS-Kinderdörfer, beschreibt, zu welchen Absurditäten dieses fehlende Gesetz in der Praxis führt: „Was einem Kind in einer Krisensituation genehmigt wird, variiert oft von Bezirk zu Bezirk. So erhält das eine Kind sofort eine Therapie, ein anderer Jugendlicher bekommt keinerlei Unterstützung und muss sogar etwas von seiner Lehrlingsentschädigung an das Land abgeben. Das ist absurd! Solche Ansprüche gehören endlich gesetzlich festgeschrieben.“

Gnauer fordert auch, dass fremdbetreute Jugendliche mindestens bis zu ihrem 21. Lebensjahr begleitet werden sollen. Laut Gesetz gelten sie bereits mit achtzehn Jahren als erwachsen und müssen ab ­diesem Alter für sich selbst sorgen können. Verlängerungen werden nur in Aus­nahmefällen genehmigt. Das heißt, dass schwer traumatisierte Jugendliche, die teilweise nicht einmal eine abgeschlossene Schulbildung, geschweige denn eine fixe Arbeitsstelle haben, selbstständig leben müssen. Zur Wohnungsmiete bekommen sie zumindest vom SOS-Kinderdorf am Beginn noch einen Zuschuss von 350 Euro. Doch viel wichtiger wäre die individuelle, professionelle Betreuung – da viele niemanden haben, an den sie sich mit ihren Problemen wenden können. Schwer belastete Jugendliche müssen sich also bereits früh alleine durchs Leben schlagen, während immer mehr junge Menschen ihre Kindheit künstlich verlängern. So ­leben heute 38 Prozent der 27-jährigen Männer in Österreich noch im Hotel Mama. Gnauer sieht angesichts dieser gesellschaftlichen Entwicklung auch für die Länge der Betreuung Anpassungsbedarf: „Wenn junge Menschen offensichtlich immer länger brauchen, um selbstständig zu werden, warum sollen ausgerechnet unsere Jugendlichen ihr Leben schon mit 18 alleine meistern können?“