Spielsucht: Kopf oder Zahl

Etwa 250.000 Österreicher zocken „krankheitswertig“

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Kürzlich ereilte die heimischen Lottofans eine animierende Botschaft: Die „Österreichischen Lotterien“ wollen ab Herbst in den europäischen Spielpool „Euromillions“ einsteigen, in dem Hauptgewinne von zehn Millionen Euro aufwärts erzielt werden können. Lotterien-Generaldirektor Leo Wallner will sich damit jene Klientel sichern, „die um große Gewinne spielen möchte, und verhindern, dass sie im Ausland spielen“. Schon im Inland erreichten die Lotterien im Vorjahr einen Rekordumsatz von 1,35 Milliarden Euro, ein Plus von 4,6 Prozent im Vergleich zu 2002.

Der Spiellust der Österreicher, die sich pro Jahr und Einwohner mit geschätzten 300 Euro Einsatz niederschlägt und damit an der Spitze in Europa liegt, werden also immer spektakulärere Entfaltungsmöglichkeiten geboten.

Die Grenzen von der Lust zu Sucht sind allerdings fließend.

Sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung gelten als potenzielle „Problemspieler“, eine Dunkelziffer schätzt eine knappe Viertelmillion als wirklich „süchtig“ ein. Herbert Beck, Leiter der „Gäste-Angelegenheiten“ der Casinos Austria (siehe Interview S. 102), der mehrmals im Jahr zu den weltweiten Kongressen zum Thema Spielsucht reist und dem in seinem Unternehmen die gesetzlich verordnete Auflage des „responsible gambling“ obliegt, beklagt die Problematik der Diagnostizierbarkeit: „Spielsucht ist eine krankheitswertige Störung, die lange heimlich praktiziert werden kann, ohne dass es im Umfeld auffällt.“

Die erst seit 1990 von der Psychologie und Medizin offiziell als solche anerkannte Krankheit erfährt in Österreich seit ungefähr einem Jahr die bei weitem größte Zuwachsrate aller Suchtstörungen. Die aktuelle Wirtschaftskrise, die Angst vor der Altersversorgung und eine immer offensivere Werbestrategie der Glücksspielbranche wirken verstärkend.

Generell stammen die pathologischen Spieler aus allen Altersgruppen und Schichten: Neben Tragödien prominenter Glücksritter wie ORF-Moderator Peter Rapp, der beim Roulette ein Vermögen ließ, oder des Wiener Rechtsanwalts Wolfgang Jeannée, der 17,6 Millionen Euro Klientengelder veruntreute und seit 1999 eine siebeneinhalbjährige Haftstrafe verbüßt, existieren zigtausende Dramen, die alle denselben Plot haben: ein Leben, das aus den Angeln gehoben wurde.

Da gibt es den Spielzeugverkäufer, der mehr als 400.000 Euro aus der Firmenkasse in Rubbellose umsetzte; die Pinzgauer Hausfrau, die, unter dem Vorwand, eine Knieoperation bezahlen zu müssen, sich von ihren Freunden 120.000 Euro pumpte; den Kärntner Koch, der 99-mal in Geschäfte einbrach, um das Zock-Kapital für Karten-Casinos zu rekrutieren, und den langjährigen Geschäftspartner der Gemeinde Wien, der beim Roulette mehr als fünf Millionen Euro öffentlicher Wohnbaugelder durchbrachte.

Kontrollverlust. So verschieden die Biografien sind, die symptomatischen Auswirkungen ähneln einander. Kontrollverlust, an Autismus grenzende Ignoranz für das soziale Umfeld, Lügenkonstrukte vor sich selbst und den anderen, um dem alles dominierenden Lebensinhalt nachkommen zu können. „Wenn dir in dem Zustand einer sagt“, bekennt ein chronischer Automatenspieler, „deine Frau wird soeben vergewaltigt, spielst du deinen Hunderter auf jeden Fall noch aus.“

In Österreich ist das Glücksspiel staatlich konzessioniert, fixer Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und gesellschaftlich so salonfähig wie der Alkoholgenuss. Im ORF wird mit der Lottoshow „6 aus 45“ seit 1986 allwöchentlich der Glaube ans schnelle Geld ohne Arbeit genährt; Armin Assinger mutierte mit seiner „Millionenshow“ zum Midas der kleinen Leute, zusätzliche Showvarianten rund um das Glücksspiel gehören zum fixen Programminventar. In den Presseberichterstattungen wird das Fieber vor allem durch das Vorführen von Jackpot-Knackern und Lottomillionären geschürt, die treuherzig versichern, dass sie trotz Weltreise, Cabrio-Gefährt und Reihenhäuser im Dallas-Stil ganz die Alten geblieben sind. In den Trafiken wird der Leidenschaft mit diversen Losen und Lottoscheinen Rechnung getragen.

In Kärnten, der Steiermark und Wien, wo im Gegensatz zu den restlichen Bundesländern das „kleine Glücksspiel“ (maximaler Einsatz 50 Cent; maximaler Gewinn 20 Euro) per Landesgesetz erlaubt ist, harren in Hallen und Lokalen tausende von Privatfirmen betriebene Geldspielautomaten ihrer Klientel. Spielsucht-Spezialisten diagnostizieren, dass achtzig Prozent der Erkrankten ihr Unglück am Automaten versuchen, weil Anonymität und leichte Erreichbarkeit die Hemmschwelle reduzieren.

Der Branchenführer im heimischen Automatengeschäft, die Firma „Novomatic“, wird im November dieses Jahres im Prater „ein gigantisches Automaten-Casino“, so ein PR-Sprecher, eröffnen. Dafür bekam die Firma, die in der Schweiz und Deutschland 30 „Grand jeu“-Casinos betreibt, von der Gemeinde Wien als einziger „Schausteller“ im Frühjahr einen 40-Jahres-Vertrag – ungeachtet dessen, wie das neue Prater-Konzept auch aussehen mag.

Alarmierend. 2003 ist noch nicht statistisch erfasst, doch schon 2002 lagen die Einnahmen des Bundes an Glücksspielen mit 429,14 Millionen Euro um 111 Millionen höher als jene aus der Alkoholsteuer für 2003. „Bis heute“, kritisiert die leitende Psychologin der „Anonymen Spieler (AS)“-Vereinigung Izabela Horodecki, „wurde in Österreich noch keine Grundlagenstudie in Auftrag gegeben. Wahrscheinlich auch deswegen, weil die alarmierenden Zahlen die staatlichen Gewinne schmälern könnten.“

Abgesehen vom Burgenland, steht in jedem Bundesland mindestens eines der insgesamt zwölf Casinos, die im letzten Jahr von insgesamt 2,7 Millionen Besuchern frequentiert wurden. Wettcafés schießen aus dem Boden, die natürlich zur Fußball-EM Hochkonjunktur haben. Ihr Marktleader ist die Firma Admiral Sportwetten, die im letzten Jahr 93,7 Millionen Euro Wettumsatz registrieren konnte und inzwischen österreichweit über 90 Filialen verfügt. Im Internet locken zahlreiche Wett-Websites, die Casinos Austria offerieren auf www.win2day.at u. a. ihr Lotto- und Totoangebot virtuell. Auf das Konto des Internets, so Casino-General Leo Wallner, ginge auch ein guter Teil des Umsatzplus von 40 Prozent im vergangenen Jahr.

Der deutsche Spielsucht-Experte Gerhard Meyer hat ermittelt, „dass die Anreize der Umwelt inzwischen so stark geworden sind“, dass sich die Zahl der pathologischen Spieler in Deutschland in den letzten fünf Jahren verdoppelt hat. 74,1 Prozent der davon Betroffenen sind verschuldet. Die Psychologin der Spieler-Hilfsorganisation Anonyme Spieler, Izabela Horodecki, schätzt, dass in Österreich 84 Prozent der dem Glücksspiel Verfallenen verschuldet sind. „Jeder Spieler hat im Durchschnitt 40.000 Euro Schulden, aber jeder achte mehr als 70.000.“

Während junge Männer oft noch vor der Volljährigkeit in Kaffeehäusern und Spielhöhlen ihrer Spielleidenschaft nachkommen, erliegen Frauen dem Virus in der Regel erst ab dem Alter von 35.

Nach dem Überwinden der Schwellenangst stimuliere die Frauen weniger die Aussicht auf Gewinn als die Aura der Selbstständigkeit und die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen. Wenn die Lust jedoch zur Last wird, „agieren Frauen genauso hemmungslos wie Männer“, so der Psychiater Peter Berger, „und sind am Ende genauso zerstört“.

Alkoholismus und Spielsucht gingen beim Gros der Betroffenen, so Herbert Beck von den Casinos Austria, Hand in Hand. Auslöser für das beginnende Krankheitsbild wäre meist eine Krisensituation wie das Scheitern einer Beziehung, der Verlust der Arbeit oder eines Partners. Vor allem Frauen würden durch plötzlichen Witwenstatus, häufig angeregt von Freundinnen, erstmals ein Casino betreten.

Beziehungskrise. Heinrich F. zum Beispiel, 65 und ehemaliger leitender Angestellter, begann im Zuge zunehmender Eheturbulenzen zu spielen und zu trinken und stellt somit den klassischen Typ des Beziehungskrisenspielers. Vor allem auf Automaten fixiert, vergönnte ihm das Schicksal vor 20 Jahren „die verheerenden Gewinne der Anfänger“, doch in der Verlustphase war Heinrich F. längst nicht mehr in der Lage aufzuhören: „Ins Kriminelle ging das bei mir nie, aber ich habe das Konto ständig überzogen, Kredite aufgenommen und insgesamt sicherlich eine Eigentumswohnung verspielt.“ Seinen Alkoholismus bekam der Mann sechs Jahr früher in den Griff als seine Spielsucht. Erst nach der Behandlung im Kärntner Spezialkrankenhaus „De la Tour“ in Treffen konnte er nach 15 Monaten „einen Automaten ohne Adrenalinstöße“ angreifen. Die stationäre Behandlung war „zuerst meine Schutzhaft und dann meine Rettung“.

Weniger glimpflich verlief das Spielerschicksal des ehemals zweitgrößten Autozubehörhändlers von Österreich, Wilhelm Gizicki, der im Laufe von 19 Jahren rund 1,4 Millionen Euro, vorrangig am Roulette-Tisch, vernichtet hatte. Als Nebenschauplatz zur Spielsucht entwickelte der heute 87-jährige Gizicki, der so seine Existenzgrundlage zerstörte, eine Tablettenvorliebe, die zwischen Aufputschern und Schlafmitteln pendelte. Den Anfang seiner Talfahrt machte ein Gewinn von umgerechnet 20.000 Euro, den der reputierte Unternehmer 1960 anlässlich seiner Kommerzialrat-Ernennung bei einem Casinobesuch ergattert hatte. 1979 begab er sich in Behandlung des Suchtexperten Günter Pernhaupt und gründete 1986 die ursprüngliche Selbsthilfegruppe „Anonyme Spieler“, die sich aber längst als Behandlungs- und Beratungsorganisation begreift. Gizicki: „Als ich am Rosenhügel war, kam in mir der Wunsch auf, meinen Schicksalsgefährten zu helfen. Ich hatte Gott sei Dank in dieser schlimmen Zeit meine Frau, die zu mir hielt, aber viele werden auch fallen gelassen.“

Zu den „AS“ im fünften Wiener Gemeindebezirk kommen die Leute meistens erst, wenn Miete, Gas und Strom nicht mehr bezahlt werden können, wenn die Schulden bei Banken, Freunden und Kollegen eskalieren. Sie treffen dort auf einen Stab, ausgebildet in Psychologie, Psychotherapie, Sozialarbeit und Schuldenberatung. Die Hilfesuchenden sind zu 85 Prozent männlich, weil Frauen vielfach noch nicht wagen, sich als „bekennende pathologische Spielerinnen“ zu deklarieren. Obwohl die Anzahl der Spielabhängigen innerhalb der letzten zwanzig Jahre um mehr als das Zwanzigfache stieg und allein im vergangenen halben Jahr „noch um 35 Prozent mehr Notfälle dazukamen“, so Izabela Horodecki, gibt es für die „AS“ weder vom Bund noch der Gemeinde Wien und den Krankenkassen auch nur einen Cent Unterstützung.

Gizicki ärgert, „dass in den USA und in Kanada beim Bau jedes Casinos per Gesetz eine Suchtklinik mitgebaut werden muss, hierzulande aber der Ruin, der oft auch schuldlosen Angehörigen und Mitarbeitern einer in Konkurs gegangenen Firma die Existenz kostet, noch immer als reine Privatangelegenheit angesehen wird und der Staat sich nicht dafür interessiert“.

Als Sponsoren stellen sich paradoxerweise die Profiteure der pathologischen Klientel ein: die Casinos Austria AG und ihre Tochter Österreichische Lotterien, die das Projekt mit knapp 70.000 Euro jährlich unterstützen, der Automatenbetreiber Novomatic, der 140.000 Euro sponsert, sowie die Wettcafé-Kette „Admiral Sportwetten“ mit 20.000 Euro.

Die „AS“-Spezialisten unterteilen die Via dolorosa eines Spielsüchtigen in vier Phasen: In der „Gewinnphase“ entwickelt der noch „lustvoll erregte“ Glücksritter „Wunschträume“. Er isoliert sich in der „Verlustphase“, wo die diversen Einbrüche bagatellisiert werden, und sediert sich mit erlogenen Gewinnen. Der krankhafte Spieler, der im Gegensatz zu Alkohol- und Drogensüchtigen keine äußeren Verfallserscheinungen aufweist, ist unter allen Süchtigen derjenige, der am längsten und gleichzeitig trickreichsten die Fassade aufrechtzuerhalten imstande ist.

Doch irgendwann bricht auch dieses Kartenhaus ein. In der „Verzweiflungsphase“ fängt er an, sich äußerlich zu vernachlässigen, und beschafft sich ohne jegliches Schuldgefühl legal und/oder illegal Geld, gerät außer Sichtweite einer Spielmöglichkeit in Panik und ist mitunter schon artikulationsunfähig. Die Verzweiflungsphase mündet in der Hoffnungslosigkeit. 40 Prozent denken in diesem Stadium an Selbstmord, sieben Prozent versuchen auch, sich das Leben zu nehmen. In der letzten, der „kritischen Phase“, muss der Spieler lernen, eine Krankheitseinsicht und Therapiewilligkeit zu entwickeln.

„Immer wieder landen Spieler“, so die „AS“-Sozialarbeiterin Elisabeth Merkinger, „auf der Straße, dann im Obdachlosenheim, um dann langsam wieder Alltag zu lernen. Viele werden natürlich auch von ihren Angehörigen aufgefangen.“ Obwohl diejenigen, die aus eigener Kraft den Wiederaufbau bewältigt haben, viel schneller fähig wären, wieder „ein Selbstwertgefühl zu entwickeln“. Als wichtigsten Heilungsschritt erachtet die Psychotherapeutin Monika Gumhalter-Scherf bei der Reintegration ins Leben, dass der „gestrauchelte Mensch sich selbst verzeihen kann, auch wenn das sehr lange dauert“.