Spitzenforschung: Genies auf der Flucht

Die brutale Vertreibung der Wissenschafter

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Die Wiener Familie Weiser Varon hatte sich gerade zum Sabbat-Mahl versammelt. An diesem Freitag, dem 11. März 1938, sprach Ständestaat-Kanzler Kurt Schuschnigg im Radio sein historisches „Gott schütze Österreich“, bevor Haydns Kaiserquartett ertönte. Benno Weiser Varon, der im März 1938 vor dem Abschluss seines Medizinstudiums stand, betrachtete die Gesichter seiner Angehörigen und fragte sich, was aus seiner Familie wohl werden würde.

Weiser Varons Erinnerungen an den März 1938 sind Teil eines zum Gedenkjahr erscheinenden Buchs mit dem Titel „Anschluss und Ausschluss 1938“, das ein bisher kaum erforschtes Kapitel der nationalsozialistischen Macht­übernahme in Österreich beleuchtet: das Schicksal der vertriebenen Studierenden an der Universität Wien*). Das Buch ist vorläufiger Endpunkt einer ganzen Reihe von Forschungsergebnissen zum Themenkomplex „vertriebene Wissenschaft“, die seit den achtziger Jahren unter Federführung des Vorstands des Wiener ­Instituts für Zeitgeschichte, Friedrich Stadler, erarbeitet und publiziert wurden.

Ilse Aschner, eine andere in dem Buch ­zitierte Betroffene, studierte im März 1938 an der Universität Wien Germanistik und ­Psychologie. Auch sie saß in der Nacht auf den 12. März mit ihrer Familie vor dem Radio. Die sich überschlagende Stimme des Reporters mischte sich mit dem Geknatter rollender Panzer und dem hysterischen Gekreische der Bevölkerung am Straßenrand. In dieser Nacht erfuhr die evangelisch getaufte Studentin zum ersten Mal, dass sie vier jüdische Großeltern hatte und daher nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als „volljüdisch“ galt. Wenige Tage später wurde sie vor der Universität von einem jungen Mann in SA-Uniform angehalten und aufgefordert, ihren Ariernachweis vorzuweisen, den sie nicht besaß.

Jüdische Studierende durften fortan die Universität nicht mehr betreten, nicht mehr inskribieren und zu keinen Prüfungen antreten – oft auch dann nicht, wenn sie kurz vor dem Abschluss standen. Sie durften auch nicht mehr in die Bibliothek, aus deren Beständen der Nazi-Pöbel wenig später tausende Werke als „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“ auf die Straße warf und unter dem Gejohle der Umstehenden verbrannte. Jüdische Studenten waren Geächtete und Ausgestoßene wie ihre jüdischen oder aus politischen Gründen verfolgten Professoren. Zwischen dem 16. und dem 25. März 1938 kam es in Wien zu einer Welle von Hausdurchsuchungen bei Universitätsprofessoren, die aus „rassischen“ oder politischen Gründen auf der Liste der Gestapo standen. Felix Ehrenhaft, Vorstand des III. Physikalischen Instituts der Universität Wien, wurde in seiner Wohnung von bewaffneten Gestapo-Männern überfallen, beraubt und anschließend im Wiener Landesgericht in ein Pissoir gesperrt. Als er bat, mit einer amtlichen Stelle sprechen zu dürfen, sperrte man ihn in eine Telefonzelle, in der das Telefon abmontiert war. Am 21. März wurde Ehrenhaft von seinem Posten beurlaubt.

Verfolgte Forscher. Auch Hans Thirring, Vorstand des Instituts für Theoretische Physik, der Zeuge des Überfalls auf Ehrenhaft geworden war, gehörte wegen seiner „politischen Unzuverlässigkeit“ zu den ersten Opfern der von der Gestapo an Österreichs Universitäten durchgeführten Säuberungsaktionen. Sein Schreibtisch wurde wegen Verdachts auf NS-kritische Aktivitäten versiegelt. Die Leitung des Ins­tituts musste er an einen Kollegen von der Wiener Technischen Hochschule abgeben.
Schon am 15. März wurde per Erlass die Vereidigung der Beamten des Landes Österreich, zu denen auch die Hochschullehrer gehörten, „auf den Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler“ befohlen. Jüdische Beamte waren aufgrund der Nürnberger Rassengesetze von 1935 nicht zur Vereidigung zugelassen. Und wer nicht auf den Führer vereidigt war, konnte nicht länger Beamter und damit auch nicht Hochschullehrer sein. Schon fünf Wochen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich hatte das zuständige Dekanat eine Liste mit allen zu beurlaubenden oder zu entlassenden Personen zu erstellen. An der Universität Wien wurden entlassen: 132 von 197 Medizinprofessoren respektive Dozenten (siehe auch Kasten Seite 66), neun von 28 Hochschullehrern der Physik, zehn von 20 der Chemie, fünf von 14 der Mathematik, fünf der Zoologie und Biologie sowie einzelne Lehrpersonen in vielen anderen Fächern. Dazu kamen österreichweit etwa 500 entlassene Techniker. Ein beträchtlicher Teil der entlassenen Hochschullehrer emigrierte, zumeist in die USA und nach Großbritannien, bei den Chemikern waren es 40 Prozent, bei den Physikern und Mathematikern jeweils mehr als 21 Prozent. An der Universität Innsbruck wurden bis Jahresende 1938 32 von 153 Bediensteten ihrer Funktion aus „rassischen“ oder politischen Gründen enthoben oder in den Ruhestand versetzt. Der in Wien geborene und an der Universität Prag tätige Professor für Organische Chemie, Hans Weiss, wurde ins KZ Theresienstadt verschleppt und kam dort um.

Freigekauft. Von der Universität Graz wurden gleich drei Nobelpreisträger vertrieben. Der Pharmakologe Otto Loewi, Nobelpreisträger des Jahres 1936, wurde in den Märztagen 1938 gemeinsam mit seinen beiden Söhnen verhaftet. Mithilfe des von der Nobel-Stiftung ausgelobten Preisgeldes konnte er sich allerdings freikaufen. Loewi ging nach New York, wo er 1961 starb. Victor Franz Hess, der 1936 für seine Entdeckung der kosmischen Strahlung den Physik-Nobelpreis erhalten hatte, wurde aus politischen Gründen entlassen. Er emigrierte in die USA, wo er seine Arbeiten an der Fordham University in New York fortsetzen konnte. Und schließlich Erwin Schrödinger, der nach heftigen Loyalitätskonflikten mit den Nazis 1938 nach England emigrierte. Doch die Frage, welche die mit dem Thema befassten Zeitgeschichtler immer wieder beschäftigt, lautet: War der März 1938 ein in seiner ganzen Gewalt unvorhersehbares und durch keine anderen Entwicklungen eingeleitetes, singuläres Ereignis? Oder war er vielmehr dessen Gegenteil, wie Zeit- und Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler meint: nämlich ein heftiger – und freilich in seinem Ausmaß einzigartiger – Pendelausschlag in einem österreichischen Kontinuum, das von der Gegenreformation über die nie ernsthaft vollzogene Aufklärung und die nie wirklich stattgefundenen bürgerlichen Revolutionen bis in die Gegenwart reicht?

Der Soziologe Josef Langer sieht Österreich als ein Land, in dem sich der Kapitalismus langsamer durchsetzte als in den meisten Staaten im Nordwesten Europas. Das Land lag an der Peripherie des europäischen Städtegürtels, der sich zwischen Oberitalien und den Niederlanden hinzog. „Noch Ende des 19. Jahrhunderts hinkte die Donaumonarchie in der indus­triellen Entwicklung Dekaden hinter Nordwesteuropa nach“, sagt Langer. Der Widerspruch zwischen drängenden ökonomischen Problemen und einer selbstgewissen Machtstruktur habe zu einer frus­trierten Gesellschaft geführt. Da genügte der anhaltende Zuzug von Migranten, vorzugsweise aus den östlichen Teilen der Donaumonarchie, um die innere Balance zu stören. Die Juden bildeten die ideale Projektionsfläche für die eigenen Defizite. Und diese Projektion wiederum bekamen besonders jene zu spüren, die bestimmte Dinge neu dachten, die innovativer und moderner waren als die Vertreter der tradierten Denkschulen.

Suspekte Denker. Der „Wiener Kreis“, eine Gruppe von innovativen Denkern des logischen Empirismus, diskutierte Fragen der Philosophie und der Logik fächer­übergreifend und propagierte eine wissenschaftlich fundierte Philosophie. Da dieses Denken den tradierten Rahmen verließ und viele der Protagonisten im weltanschaulichen Spektrum eher liberal oder links angesiedelt waren, wirkte die neue Bewegung auf andere, dem katholisch-deutschnationalen und häufig antisemitischen Lager zuzurechnende akademische Lehrer wie eine jüdisch-marxistische Verschwörung. Daher setzten sie alles daran, dieser Konkurrenz-Gruppe den existenziellen Boden zu entziehen.

Im Juni 1936 wurde Moritz Schlick, der Spiritus Rector des „Wiener Kreises“, von einem ehemaligen Studenten auf der Rampe der Wiener Universität erschossen. Der von paranoiden Wahnvorstellungen geleitete Täter versuchte, den Mord nach dem März 1938 als Tat im Kampf um die nationalsozialistische Idee darzustellen und für seinen Vorteil zu nutzen.
Ähnlich wie dem „Wiener Kreis“ erging es zahlreichen neuen Denkrichtungen wie etwa der Soziologie oder der Psychoanalyse (siehe auch Story ab Seite 92), deren Vertreter von den Nazis als „Seelenzerfaserer“ diffamiert wurden. Und regelmäßig gehörte zu dieser Diffamierung die rassistische nationalsozialistische Behauptung, dass es sich bei den neuen Denkschulen um „jüdische Volkszersetzung“ handle. So wurden mit der antisemitischen Flut die Protagonisten neuer wissenschaftlicher Denkweisen in die Emigration gezwungen, darunter der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, der Individual­psychologe Alfred Adler und der Soziologe Paul Lazarsfeld. Sie emigrierten nach Großbritannien oder in die USA, wo ihre Arbeiten mit großem Interesse und zumeist auch mit großer Wertschätzung aufgenommen wurden, weil sie Wissenschaft und Forschung nachhaltig bereicherten. Dass es nach 1945 seitens des offiziellen Österreich oder der Universitäten kaum Initiativen gab, die vertriebenen Wissenschafter zur Rückkehr einzuladen, entspricht jenem Kontinuum, das Zeitgeschichtler Stadler und seine an der Aufarbeitung der Vertreibung beteiligten Kollegen in ihren Analysen zeichnen. Historisch betrachtet wundert dies freilich kaum: Die Stellen waren schließlich längst durch Kollaborateure oder Nutznießer der Arisierung besetzt. Und für die Parteien galt das Opportunitätsprinzip.

Existenzprobleme. Den Emigranten ging es in den Gastländern, in denen sie zumeist erst nach monatelangem bürokratischem Hürdenlauf Aufnahme fanden, keineswegs so gut wie von der nationalsozialis­tischen Propaganda (und vielfach auch noch nach 1945) dargestellt. Es gab Sprach- und Existenzprobleme, viele muss­ten sich in der Anfangszeit als Hilfsarbeiter verdingen. Dazu kam die berufliche, kulturelle und persönliche Entwurzelung.
In den fünfziger Jahren kursierte unter den in New York lebenden österreichischen Emigranten eine Anekdote, die ihre Situation trefflich charakterisiert: Zwei Vertriebene kamen mit demselben Schiff in New York an, begegneten einander aber all die Jahre nie wieder. Eines Tages treffen sie sich zufällig auf dem Broadway. „Are you happy in America?“, fragt der eine. „Of course I’m happy here“, sagt der andere. „Aber glücklich bin ich nicht.“

Von Robert Buchacher