Sprachpolizei

Kriminalistik. Sprachlicher Fingerabdruck: Linguisten überführen Täter

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Von Heike Wippenfürth

Es wäre der perfekte Mord gewesen – hätte der Täter nicht verräterische Spuren besonderer Art hinterlassen: Schimpfworte, mit roter Farbe an die Wand gesprüht. Sheri Coleman und ihre beiden Kinder waren tot, erwürgt im eigenen Bett. Schon Wochen davor war die US-Hausfrau mit anonymen Briefen und E-Mails bedroht worden. Die Polizei, die vom Ehemann an den Tatort gerufen wurde, weil er seine Frau nicht auf dem Handy erreichen konnte, entdeckte die Leichen am 5. Mai 2009 im Schlafzimmer ­ihres Wohnhauses im US-Bundesstaat ­Illinois. Ein Fenster stand offen, durch das ein potenzieller Täter hätte fliehen können.

Doch das war eine Finte. Das Schimpfwort an der Wand war ein wichtiges Beweisstück für die Jury, um letztlich den Ehemann Chris Coleman für schuldig zu befinden. Auf die forensische Linguistik, ein junges Teilgebiet der Sprachwissenschaft, stützte sie im Mai vorigen Jahres ihre Entscheidung, den Familienvater wegen dreifachen Mordes zweimal lebenslänglich hinter Gitter zu bringen.

Gutachter für die Anklage war Robert Leonard, einer der renommiertesten forensischen Linguisten Amerikas. Leonard verdient gut: Ein Gutachten kostet im Schnitt 400 Dollar pro Stunde, eine Aussage vor Gericht 600 Dollar. Nicht schlecht für den ehemaligen Rockstar, der 1969 mit seiner Gruppe Sha-Na-Na beim Woodstock-Festival auftrat. Heute befasst sich der promovierte Sprachwissenschafter lieber mit anonymen Schreiben und untersucht sie auf ihre sprachlichen Besonderheiten, um Hinweise auf die Autoren zu finden.

Schnell wachsender Wissenschaftszweig
So auch im Mordfall Coleman. Hier verglich Leonard die Worte an der Wand mit solchen in den Drohbriefen und mit sichergestellten E-Mails des Ehemanns – bis er eine ungewöhnliche Rechtschreibung in den anonymen Schreiben fand, die er bereits aus den Mails kannte. Außerdem bemerkte er, dass sich die Schreiben hinsichtlich Wortwahl und bestimmter Kürzel ähnelten, wie er den Geschworenen mithilfe einer 60 Seiten langen Power-Point-Präsentation enthüllte. „Die Sprache in den anonymen Schreiben“, so Leonards Conclusio, sei „in Einklang mit der Sprache“ in den Schriften des Ehemanns. Danach brauchte die Jury nicht lange, um eine Entscheidung zu treffen.

Besonders in den USA, aber zunehmend auch in Europa ist die forensische Linguistik ein schnell wachsender Wissenschaftszweig. Deshalb hat Robert Leonard an der Hofstra-Universität im Bundesstaat New York einen neuen Abschluss eingeführt: Master of Arts in Forensic Linguistics. Und er plant, demnächst ein gemeinsames Forensic-Linguistics-Studienprogramm mit der Aston-Universität in England anzubieten.

Seine Studenten befassen sich mit anonymen Schreiben und suchen darin nach Fehlern in Orthografie, Interpunktion und Syntax, um möglichst unverwechselbare Persönlichkeitsmerkmale von Autoren aufzudecken. Leonard vertritt naturgemäß die Ansicht, dass die forensische Linguistik umfänglich dazu beitragen kann, Justizfehler zu vermeiden. Bei mehr als einem Viertel aller in den USA verurteilten Menschen, die ihre Tat gestanden haben, so Leonard, würden DNA-Tests den Geständnissen widersprechen. Es sei höchste Zeit zu prüfen, ob es nicht oft deshalb zu Geständnissen komme, weil Angeklagte durch suggestive Fragen oder windschiefe Beweise dazu verleitet werden.

Oder ob sie von Ermittlungsbehörden gar unter Druck gesetzt werden. So wie einst Timothy Evans, ein junger Waliser, der vor mehr als 60 Jahren ein Geständnis im Mordfall seiner Ehefrau und seines Kindes unterzeichnete. Der 25-Jährige wurde zum Tode durch den Strang verurteilt und 1950 gehängt. Ein Fehlurteil, befand der schwedische Anglist Jan Svartvig ein Jahrzehnt später. Er analysierte vier Aussagen, die Evans unterschrieben hatte, und prüfte, ob sie dem Sprachschatz des zum Tode Verurteilten entsprachen, der kaum lesen oder schreiben konnte.
Svartvig veröffentlichte sein Gutachten 1968 unter dem Titel „The Evans Statements: A Case for Forensic Linguists“. ­Darin konstatierte er, dass die Sprache im Geständnis des jungen Mannes nicht mit der Sprache seiner anderen Aussagen übereinstimmte. Die Sätze ­waren länger, die Grammatikeigenheiten anders, die Formulierungen zu anspruchsvoll. Aufgrund Svartvigs Schlussfolgerung, dass Evans mit großer Wahrscheinlichkeit nicht der Autor des Geständnisses war, wurde der Waliser 1966 postum begnadigt – und die forensische Linguistik wurde aufgrund ­dieses Falls zu einer neuen Unterdisziplin der Sprachwissenschaft.

Was kriminalistische Sprachanalysen bei der Wahrheitsfindung vor Gericht leisten können, demonstrierte der US-Sprachwissenschafter Roger Shuy bereits in den 1980er-Jahren. Vor allem bei aufgezeichneten Gesprächen zwischen Fahndern und Verdächtigen wird Shuy oft hellhörig. Er postuliert, dass Richter und Anwälte sich nicht genügend auf die Form der Unterhaltung in den Aufnahmen konzentrieren – und daher oft die Absichten der Sprecher nicht begreifen.

Von verheerenden Folgen dieser Unterlassung berichtet Shuy im Buch „Language Crimes“. Er schildert den Fall des Autofabrikanten John DeLorean, der 1984 vor Gericht landete, weil er angeblich versucht hatte, seine in Schwierigkeiten geratene Firma durch den Gewinn aus einem Kokaingeschäft zu retten. Ein FBI-Mitarbeiter, der sich als Banker ausgab, hatte die Gespräche mit DeLorean auf Tonband aufgenommen – sie waren die wichtigsten Beweisstücke der Anklage. Von zentraler Bedeutung war das Substantiv „Investment“. DeLorean wurde verhaftet, weil er sagte, dass ein „Investment“ eine „gute Sache“ sei. Für die Anklage war klar: Er hatte einem Drogengeschäft zugestimmt.

Doch Shuy war anderer Meinung. Als vereidigter Sachverständiger für die Verteidigung hörte er sich die 63 Gespräche an, die FBI-Mitarbeiter innerhalb von neun Monaten aufgenommen hatten, und gelangte zur Überzeugung, dass es DeLorean nicht um Drogengeschäfte ging. Vielmehr habe er mit dem Investment eine Geldanlage in seine Firma gemeint. Das inkriminierte Substantiv habe für DeLorean schlicht eine andere Bedeutung gehabt als für die FBI-Beamten. Shuy schildert zudem eine von Übereifer getriebene Anklage: „Trotz fehlender linguistischer Analyse ging die US-Regierung gegen ihn vor, weil sie sich nur auf eine Hypothese verließ: dass DeLorean schuldig war.“ Anfangs wehrten die Behörden Shuys ­Argument als belanglos ab. Doch die Geschworenen stellten sich auf die Seite des Linguisten – und sprachen DeLorean frei.

Prominentes Beispiel Barschel
Auch in Europa gibt es spektakuläre historische Fälle, in denen die Sprachdetektive zum Einsatz kamen. Prominentes Beispiel aus Deutschland: der Tod Uwe Barschels. Im Jahr 1987 war der zurückgetretene Ministerpräsident Schleswig-Holsteins tot in der Badewanne eines Genfer Hotelzimmers aufgefunden worden, und bis heute wird gerätselt, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelte. Spekulationen nährte unter anderem ein Brief, der ein Jahr nach Barschels mysteriösem Tod entdeckt wurde. Knackpunkt ist die Echtheit des Papiers.
Für den forensischen Linguisten Raimund Drommel ist die Sache klar, seit er ein Gutachten über die Authentizität des Briefs anfertigte: Er habe „signifikante Übereinstimmungen“ zwischen dem Brief und Reden sowie Schreiben Barschels festgestellt. Barschel sei „mit zumindest großer Wahrscheinlichkeit“ der Verfasser des Briefs gewesen. Aussagekräftig seien die vielen sprachlichen Überschneidungen: die Verwendung von Worten wie „ausnahmslos“ und „insoweit“ ebenso wie Infinitive in Verbindung mit einer Negation am Ende der Schreiben. Bis heute zweifelt der Sprachwissenschafter nicht an der Echtheit des mysteriösen Briefs, der unter anderem Ultimaten an einen politischen Konkurrenten enthielt. Und Drommel fragt sich, ob das Schreiben womöglich Mordmotive enthält.
Die meisten Jobs der modernen Sprachforensiker sind freilich nicht so spektakulär und bestehen etwa in der Prüfung von Dissertationen auf allfälliges Ghostwriting oder in der Analyse verleumderischer Briefe. Mitunter erlangen Sprachanalysen Bedeutung in Sorgerechtsstreitigkeiten – zum Beispiel, wenn eine Mutter das Tagebuch ihrer Tochter fälscht, um derart Missbrauchsvorwürfe gegen den Vater zu kons­truieren. Man gehe gleichsam „mit dem Läusekamm durch die Schriftstücke“, so die deutsche Sprachanalytikerin Gudrun Müller, die in ihrem Fachgebiet einen „Wachstumsmarkt“ sieht, nicht zuletzt aufgrund der Verbreitung des Internets: Im Schutz elektronischer Anonymität ließen sich leicht böse Behauptungen gegen unliebsame Zeitgenossen abfeuern.

Der noch junge Zweig der sprachlichen Spurensicherung hat allerdings auch Schattenseiten. Selbst offenkundig mäßig qualifizierte Quereinsteiger wie Donald Foster in den USA wollten nicht zurückstehen, und nach anfänglichen Erfolgen – der Professor am Vassar College entlarvte 1996 den anonymen Autor des Politikbestsellers „Primary Colors“ – folgten spektakuläre Fehlenthüllungen. So glaubte Foster, den Täter im Mordfall des US-Kinderstars Jonbenet Ramsey entdeckt zu haben. Doch seine Verdächtigungen gegen den Stiefbruder und später die Mutter erwiesen sich als haltlos – und Foster verlor jegliche Legitimation.

Briefe, Essays, Manuskripte
Auch die Methoden von Robert Leonard haben ihre Kritiker. James Raymond, ein Experte in Gerichtssprache, ist einer von ihnen. Forensische Linguistik, so Raymond, sei in Gerichtsverfahren wie dem Coleman-Mordfall deutlich zu spekulativ. Doch seine Meinung zerschellt an Leonards Gegenargumenten. Dieser erkannte, dass die Drohbriefe häufig mit dem Schimpfwort „Fuck“ begannen. Leonard verglich diese sprachliche Eigenart mit 4400 Drohbriefen Krimineller in einer Datenbank des FBI, die sein Kollege James Fitzgerald eingerichtet hat. Er machte dabei folgende Entdeckung: Nur 0,8 Prozent der gespeicherten Schreiben begannen mit diesem Schimpfwort. Ein statistisch signifikantes Resultat, behauptet Leonard. Einen deutlichen Hinweis auf den Autor der Texte boten auch andere sprachliche Eigenheiten wie falsche Apostrophsetzungen (dont’ und wont’), falsch zusammengesetzte Wörter ( have a „goodtime“, is ­there „anyway“, you „maybe“). Das seien Abweichungen vom Standardamerikanisch, die er in allen Texten entdeckt habe, sagt Leonard.
Ebenso fleißig ist Datenbankgründer Fitzgerald selbst. Ende des Vorjahrs enttarnte er zwei Mitarbeiter des Generalstaatsanwalts von New Orleans als Schreiber anonymer E-Mails, die Denunziationen enthielten – nach Methoden, die er schon bei der linguistischen Fahndung nach dem so genannten „Unabomber” angewandt hatte. Das war jener Serientäter, der drei Menschen mit Briefbomben tötete und 23 weitere zum Teil schwer verletzte – bis er 1996 nach 17 Jahren Fahndung mit Fitzgeralds Hilfe gefasst wurde.

Um ein linguistisches Profil zu erstellen, verglich Fitzgerald ein 350.000 Worte langes Manuskript, das der Serientäter an die „New York Times“ geschickt hatte, mit Briefen und Essays des Mathematikers Ted Kaczynski, der zurückgezogen in einer Hütte in Montana lebte. Neben zahlreichen sprachlichen Überschneidungen von Ausdrücken wie „cool-headed logician“ sowie Füllwörtern wie „more or less“ und „presumably“ fiel Fitzgerald auch noch der ungewöhnliche Gebrauch einer bestimmten Redewendung auf – Grund genug für den Richter, einen Durchsuchungsbefehl für die Hütte des Mathematikers auszustellen. Dort wurden eine Bombe und jene Schreibmaschine gefunden, mit welcher der Täter das Manuskript getippt hatte.

In Österreich sind Fälle, in denen Sprachgutachter zum Einsatz kommen, noch recht rar. „Dieser Bereich ist bei uns, soweit ich das verfolgen kann, noch nicht wirklich gut ausgebaut“, sagt der Innsbrucker Sprachwissenschafter Manfred Kienpointner, der grundsätzlich meint, forensische Linguistik könne bei fachgerechter Analyse zwar gute Argumente liefern. Man müsse beim Vertrauen „in einen linguistischen Fingerabdruck aber sehr vorsichtig sein“.

Der einzige prominente Prozess der jüngeren Vergangenheit, in dem Sprachanalysen zentrale Bedeutung hatten, war nicht gerade ein Ruhmesblatt für hiesige Vertreter der Disziplin: Im Verfahren gegen den Tierschützer Martin Balluch 2010 wurde auch ein Grazer Sachverständiger beigezogen, der Balluch als „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ als Verfasser von drei Bekennerschreiben identifizierte, ihn so in Verbindung mit Brandanschlägen brachte und als gewaltbereiten Tieraktivisten überführen wollte.

Andere Experten zerrissen die Sprachanalyse in der Luft. Raimund Drommel unterstellte eine „schludrige Grundhaltung“, und Manfred Kienpointner ist heute noch fassungslos ob des „katastrophal miesen Gutachtens“. Umso mehr wäre es wünschenswert, so Kienpointner, auch in Österreich rasch eine solide Expertise zu etablieren: „Ich hoffe, dass die Disziplin in Entwicklung ist, damit bessere Fachleute zur Verfügung stehen.“

Infobox
Wortklaubereien
Auch bei Streitigkeiten über Marken- und Patentrechte werden heute mitunter Linguisten konsultiert – etwa im Kampf Microsoft gegen Apple.

Forensische Linguisten ­haben auch bei sprachlichen Auseinandersetzungen zwischen Konzernen immer mehr zu tun. So verklagte Microsoft den Computerhersteller Apple vor drei Jahren im Streit um die Verwendung des Begriffs „App Store“ beim US-Patent- und Markenrechtsamt. Apple wollte den Begriff bereits 2008 urheberrechtlich schützen lassen. Damals hatte der Konzern die ersten „App Stores“ eröffnet. Doch Microsoft wollte Apple den Begriff nicht allein überlassen und engagierte den Sprachwissenschafter Ronald Butters. Zu dessen Aufgaben zählte, die Behauptung von Apple zu entkräften, bei „App Store“ handle es sich um ein Markenzeichen. Seiner Meinung nach sei das kein Name, der markenrechtlich geschützt werden kann, so Butters. Und „App“ sei keine Erfindung von Apple, sondern schlicht ein Kürzel für „Application“, also „Anwendung“.

Dieses Argument ließ wiederum Apple nicht gelten und engagierte einen eigenen Sachverständigen, den New Yorker Linguisten Robert Leonard. Dieser prüfte drei Datenbanken und wies in einem 16 Seiten langen Gutachten darauf hin, dass sich der Begriff „App Store“ hauptsächlich auf Apples Internetmarktplatz beziehe. Wer Recht hat, ist noch nicht klar, denn der Streit geht weiter. Nun ist auch Amazon in den Streit verwickelt – der Online-Händler errang vor wenigen Wochen einen gerichtlichen Sieg gegen Apple in einem ähnlichen Fall. Nun darf Amazon seine Webseite „Appstore“ nennen – eine Richterin ließ Apples Vorwurf, es handle sich um eine Markenverletzung, nicht gelten. Unklar ist aber weiterhin, ob Apple ein Exklusivrecht auf den konkreten Begriff „App Store” hat – die Gerichtsverfahren laufen weiter. Für Sprachdetektive wie Leonard und seine Kollegen ist das zweifellos erfreulich: Ihnen gehen die Jobs nicht aus.