Stammwähler und Stammzellen

Neue Erkenntnissen über die omnipotenten Zellen

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Schon in seiner ersten Fernsehansprache als US-Präsident hatte George W. Bush von der „womöglich wichtigsten Entscheidung meiner Amtszeit“ gesprochen: Es ging um die Frage, ob Geld für die umstrittene Stammzellforschung bereitgestellt werden soll. Jetzt, im laufenden US-Präsidentschaftswahlkampf, schlägt die Stammzellen-Debatte neuerlich hohe Wellen. Es geht um die weltanschaulich-ethische Frage, ob man frisch gezeugtes menschliches Leben – Embryonen – klonen oder „verbrauchen“ darf, um daraus Stammzellen zu gewinnen.
Zeitgleich veröffentlichen Forscher nahezu wöchentlich neue aufregende Erkenntnisse, die das Potenzial dieser Mütter aller Zellen bestätigen. Schon in naher Zukunft, so die Hoffnung der Mediziner, würde man in der Lage sein, mithilfe von Stammzellen jede Art von lädiertem Körpergewebe zu reparieren und Krankheiten wie Alzheimer, Diabetes, Krebs oder Rückenmarksverletzungen zu heilen. Zwar helfen Stammzellen überall im menschlichen Körper dabei, schadhaftes Gewebe zu erneuern. Doch diese Fundgrube genügt vielen Wissenschaftern nicht: „Adulte“ Stammzellen, behaupten sie, seien bei weitem nicht so vielseitig wie „embryonale“, die sich aus befruchteten Eizellen gewinnen lassen. Die Sache hat nur einen Haken: Um diese omnipotenten Zellen zu gewinnen, muss man Embryonen zerstören.

Grenzüberschreitung. Nicht nur christlich-konservative Kreise, die zu Bushs politischer Basis gehören, erblicken darin eine Grenzüberschreitung. Der republikanische Präsident lavierte sich zunächst geschickt aus der Zwickmühle: Staatliche Mittel würde es nur noch für die Forschung an den seit drei Jahren bestehenden 78 Stammzelllinien – aus Embryonen gewonnene und im Labor vermehrte Stammzellen – geben, nicht aber für neu geschaffene. Sein demokratischer Herausforderer John Kerry verspricht jetzt, diese Beschränkung aufzuheben. „In Amerika opfern wir die Wissenschaft nicht der Ideologie“, sagte er in einer Radioansprache.
Eine der Hauptakteurinnen in der Debatte ist Nancy Reagan, Witwe des republikanischen Ex-Präsidenten Ronald Reagan, der im Juni dieses Jahres nach einer langjährigen Alzheimer-Erkrankung verstorben ist. Sie wirbt schon lange für eine Lockerung der strikten Beschränkungen der Stammzellforschung. Doch hielt sie sich mit offener Kritik an George W. Bush bisher zurück. Ihr Sohn Ron Reagan hingegen, der mit den Demokraten sympathisiert, plädierte bei deren Bostoner Nominierungsparteitag schlicht dafür, bei der Präsidentenwahl im November „für die Stammzellforschung zu stimmen“.

Gegenangriff. Als das republikanische Lager erkannte, dass die Demokraten mit Aussagen pro Stammzellforschung punkten, bliesen die Strategen zum Gegenangriff. Bush-Ehefrau Laura, deren erklärter Vorsatz bisher gelautet hatte, sich nicht politisch zu äußern, verteidigte kürzlich die Stammzellen-Politik ihres Gatten. Und Michael Reagan, Kommentator für den konservativen Fernsehsender Fox, distanzierte sich von den Äußerungen seines Halbbruders Ron.
Ob das Leben erst mit dem Wachsen des Fetus im Mutterleib oder bereits mit der Befruchtung einer Eizelle beginnt, ist eine weltanschauliche Frage. Die Befürworter der Stammzellforschung an Embryonen argumentieren mit der einmaligen Chance, damit todbringende Krankheiten bekämpfen zu können. Embryonen ließen sich zuhauf in Kühlhäusern von Fruchtbarkeitskliniken finden – übrig geblieben nach In-vitro-Fertilisationen. Früher oder später würden diese ohnedies entsorgt.
Die Gegner sehen in der Prozedur nur die Zerstörung von Leben mit hohem Risiko und ungewissem wissenschaftlichem Nutzwert. So meint Markus Hengstschläger, Genetiker an der Wiener Universitätsfrauenklinik: „Solange nicht geklärt ist, ob es notwendig ist, Stammzellen aus Embryonen zu gewinnen, ist diese Politik äußerst fragwürdig. Denn solange es Alternativen gibt – mit Tiermodellen etwa oder dem weit gehend unausgeschöpften Potenzial adulter Stammzellen –, bewegen sich Politiker und Forscher ethisch auf schwankendem Boden.“ Und auch Reagans Witwe muss sich vorhalten lassen, dass Alzheimer eine das gesamte Gehirn betreffende Krankheit ist, die sich kaum durch lokale neuronale Regeneration heilen lässt.

Überraschend. Dennoch kann die Forschung schon jetzt mit überraschenden Ergebnissen aufwarten. So hat der an der Stanford University lehrende Neurowissenschafter Gary Steinberg kürzlich durch einen Schlaganfall geschädigte Gehirnareale von Ratten mit menschlichen Stammzellen regeneriert. Unerwarteterweise wehrte das Nagerhirn die artfremden Eindringlinge nicht ab. Mehr noch: Über chemische Signale fanden die Zellen ihren Weg zielstrebig zu der lädierten Stelle. Ob die Tiere damit auch als geheilt gelten können, will Steinberg als Nächstes erforschen. Die dabei verwendeten Stammzellen gewann er nicht aus Embryonen, sondern aus abgetriebenen Feten. Doch auch er unterstützt die Stammzellforschung an Embryonen: „Ich glaube, Bushs Einschränkungen hindern uns, innovative und wichtige Forschung zu betreiben.“
Mit einer überraschenden Entdeckung konnte im Vorjahr auch Hengstschläger aufwarten. Seine Arbeitsgruppe fand im Fruchtwasser Zellen, die embryonalen Stammzellen ähneln. Dabei zeigten sich Spuren eines für die Mutterzellen typischen Gens, Oct-4 genannt. Differenzieren sich die Urzellen erst einmal in Haut- oder Gehirnstammzellen aus, verschwindet die Aktivität dieses Gens – nicht einmal im Nabelschnurblut fanden sich bisher diese kostbaren Zellen. Sie lassen sich auch ohne ethische Gewissensbisse, durch Fruchtwasserproben, gewinnen. „Die entnehmen Ärzte ohnehin, um auf genetische Erbkrankheiten zu testen“, so Hengstschläger. Mittlerweile hat der Genetiker diese Stammzellen erfolgreich in Haut verwandelt.

Gedämpfte Hoffnung. So vielseitig diese Vorläuferzellen sein mögen, einige Studien dämpfen vorläufig die Hoffnung, aus ihnen jede gewünschte Zellart zu zaubern. Als Wissenschafter des Kölner Max-Planck-Instituts für Neurologische Forschung im Vorjahr versuchten, durch Schlaganfälle geschädigte Mäusehirne mit Stammzellen zu heilen, fanden sich bald in allen Gehirnen der Versuchstiere Krebsgeschwüre. Embryonale Stammzellen lassen sich außerdem nicht immer in die gewünschte Zellart verwandeln – sie mutieren mitunter zu unerwünschtem Gewebe.
Solche Probleme gibt es bei Stammzellen für bestimmte Zelltypen nicht. Aber auch spezifischere Vorläufer lassen sich im Fruchtwasser finden, wie Hengstschläger kürzlich im renommierten „American Journal of Obstetrics and Gynaecology“ verkündete. Der Genetiker fand Nervenstammzellen, mit denen sich womöglich einmal neurologische Erkrankungen wie Parkinson oder Schädelhirntrauma behandeln lassen. Jetzt hofft er, im menschlichen Fruchtwasser weitere Stammzelltypen zu finden. „Die Analyse im Fruchtwasser vorkommender Proteine deutet auf eine Vielzahl verschiedener Zelltypen hin“, erklärt Hengstschläger. Nachgewiesen sind bislang sechs – von insgesamt mehr als 200 Zelltypen, die der Mensch in sich trägt.

Die Bedenken gegen embryonale Stammzellen enden jedoch nicht beim notwendigen Zerpflücken von Embryonen. Wer embryonale Stammzellen gegen Erkrankungen einsetzen will, beabsichtigt zudem, Klone zu schaffen. Denn um einen Patienten behandeln zu können, müsste man dem Embryo zuerst sein Erbgut entnehmen, um es durch das des jeweiligen Patienten zu ersetzen. Aus dem neu programmierten Embryo werden dann Stammzellen gewonnen, welche das Immunsystem des Patienten nicht mehr abstößt, hoffen die Wissenschafter. Doch diese Methode wird heftig kritisiert: „Die Wissenschaft hat nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, wie der Reprogrammierungsprozess gesteuert werden könnte“, warnt etwa der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst-Ludwig Winnacker.

Die Kritik hält wissbegierige Forscher nicht auf. In Großbritannien wurde jetzt erstmals ein Antrag auf dieses „therapeutische Klonen“ behördlich genehmigt. In Österreich ist die Methode, wie in den meisten europäischen Ländern, verboten – nur der Import aller Arten von embryonalen Stammzellen ist hierzulande erlaubt. Miodrag Stojkovic, Genetiker an der nordenglischen Universität Newcastle upon Tyne, will mit der nun erlangten behördlichen Genehmigung Wege zur Bekämpfung des Diabetes mellitus finden.

Beschränkungen. Stojkovic, der lange Jahre am Lehrstuhl für molekulare Tierzucht der Universität München gearbeitet hatte, verließ Deutschland nicht zuletzt wegen der dort herrschenden gesetzlichen Beschränkungen. Bis zu 2000 Eizellen pro Jahr wollen er und seine Mitarbeiter entkernen und dann mit dem genetischen Material menschlicher Hautzellen füllen. Aus den heranwachsenden Embryonen, die sie frühzeitig abzutöten planen, wollen sie dann Stammzellen gewinnen. In spätestens fünf Jahren will er die ersten Patienten mit Stammzellen therapieren. „Viele Forscher in anderen Ländern würden gerne tun, was ich jetzt mache“, erklärt Stojkovic. „Nur dürfen sie es nicht.“ Entgegen allen Bedenken schaffen Wissenschafter also längst neue Fakten. „Viele Kollegen sagen: Warum sollen wir warten, wenn andere es ohnehin tun?“, erklärt Hengstschläger das Dilemma. „Mit diesem Argument überrollt man jegliche ethische Debatte.“
Ethische Bedenken werden letztlich wohl auch in den USA fallen. Die amerikanische Juvenile Diabetes Research Foundation hat soeben einen Bericht zu Bushs Stammzellen-Politik veröffentlicht. Demnach stehen in den USA nur 21 der 78 für förderwürdig erklärten Zelllinien für Forschungszwecke zur Verfügung. Diese seien außerdem nicht so ergiebig wie die seither geschaffenen Linien. Doch Präsident Bush, der seinem Rivalen Kerry vorwirft, sein Fähnchen nach dem Wind zu richten, kann es sich politisch nicht leisten, so kurz vor der Wahl als wankelmütig zu gelten – und sieht sich wohl ohnehin im Recht. Kerry dagegen versucht, sich als Pragmatiker zu profilieren, der den Verheißungen von Technik und Forschung Glauben schenkt – im Gegensatz zu einem wissenschaftsfeindlich agierenden Präsidenten, der auch die Klimaerwärmung vernachlässigt und seine wissenschaftlichen Beiräte mit ihm genehmen Köpfen besetzt.

Fraglich ist, inwieweit Bushs spärliche Fördergelder die Stammzellforschung in den USA überhaupt aufhalten können. Doch auch ohne diese Mittel schreitet die kommerzielle Forschung mit dem Segen des Gesetzgebers voran. Denn die US-Bundesstaaten können solche Projekte fördern, wenn sie wollen. So dürfen die Kalifornier im November nicht nur zwischen Bush und Kerry wählen, sondern auch darüber abstimmen, ob sie künftig die Stammzellforschung mit drei Milliarden Dollar fördern wollen.