Stanley Kubricks nie realisierter "Napoleon"

Stanley Kubricks nie realisiertes Historienepos "Napoleon"

Eine Publikation zeigt erstmals detailliert das Material

Drucken

Schriftgröße

Von Philip Dulle und Stefan Grissemann

Liebe, Hass, Aktion, Gewalt und Tod – Emotion eben. So brachte der Kriegsfilmstilist Sam Fuller sein Metier einst auf den Punkt. Der Film: ein Schlachtfeld. Und man muss nicht Paul Virilio gelesen haben, um zu ahnen, dass Krieg und Kino einiges miteinander zu tun haben. Der US-Regisseur Stanley Kubrick wusste dies genau: Wie einen Feldzug bereitete er ab 1967 in seiner britischen Wahlheimat einen Film vor, der das Leben des Feldherrn Napoleon Bonaparte rekonstruieren sollte. Die detailgetreue Choreografie seiner großen Schlachten selbstverständlich inklusive, die in prädigitalen Zeiten allerdings nicht ganz mühelos herzustellen war; so hatte Kubrick ernsthaft vor, sich die rumänischen Streitkräfte als Statisterie „auszuleihen“: 30.000 Soldaten, die Kubrick in eigens errichteten Komparsenlagern unterbringen wollte, sollten in den Schlachtenszenen zum Einsatz kommen.

Wie wäre die Filmgeschichte verlaufen, wenn dieser Film tatsächlich gedreht worden wäre? Wenn der junge Jack Nicholson, wie Kubrick Anfang der siebziger Jahre plante, als Napoleon sein Debüt in Kubricks Werk gefeiert hätte – und nicht erst 1980 in dem Schocker „The Shining“?

Seit vier Jahrzehnten geistert Kubricks monströses Kinoprojekt über den französischen General und späteren Kaiser durch die Fußnoten der Filmgeschichte: „The Greatest Movie Never Made“ heißt es nun auch im Untertitel einer zehnbändigen, fast 3000-seitigen (und 500 Euro teuren) neuen Publikation, die – auf 1000 Exemplare limitiert – vom Taschen Verlag diese Woche in Berlin vorgestellt wird. Das Buch versammelt die Fragmente eines nie realisierten Films. Er war über die Jahre zur Kubrick’schen Obsession und sein persönliches Waterloo geworden.

Kubrick wollte von Napoleons privatem und öffentlichem Leben möglichst vollständig, von der Geburt 1769 bis zum Tod des Verbannten 1821 auf St. Helena, berichten – und dabei die Psychologie seines Protagonisten, dessen Depressionen, aber auch die Betrachtungen über „die Kunst des Krieges“ aus Sicht des Schlachtenstrategen enthüllen, der alles in seiner Profession auf „gesunden Menschenverstand“ zurückführte, wie es im Drehbuch heißt: „Da gibt es nichts Vages. Theorie spielt keine Rolle. Die einfachsten Züge sind die besten.“

Karteikarten, Wetterprognosen. Kubricks Napoleon-Faszination reicht weit zurück. Doch erst der Welterfolg seines Science-Fiction-Klassikers „2001: A Space Odyssey“ 1968 schien das maßlose Unterfangen in greifbare Nähe zu rücken. Das Hollywood-Studio MGM zeigte sich interessiert, gewährte großzügige Recherche-Vorschüsse. Kubrick nutzte sein Budget in großem Stil: Er engagierte den Oxforder Napoleon-Biografen Felix Markham, der für Jahre einer seiner engsten Mitarbeiter, sein Berater in historischen Belangen wurde. Zudem erteilte Kubrick seinen Assistenten den Auftrag, Fotos von möglichen Drehorten in aller Welt anzufertigen, und er begann, zehntausende von Fotos, Dias, Schriftstücken und Karteikarten für sein Napoleon-Projekt zu archivieren: Kostümstudien, Daten zu Wetterprognosen, aber auch seine Briefwechsel mit den Historiker-Teams, die den Film begleiten sollten. All dies sammelte er akribisch auf seinem Landgut im südenglischen St. Albans. Die weitläufigen Archive des 1999 verstorbenen Regisseurs konnten erst in den vergangenen Jahren systematisch bearbeitet werden. Das nun von der Kubrick-Expertin Alison Castle herausgegebene Konvolut ist eines der Ergebnisse dieser Forschungen.

Es zeichnet auch die Chronologie eines tragischen Scheiterns nach: Im Sommer 1968 wurden Kubricks Napoleon-Pläne von MGM erstmals als Pressemeldung lanciert, aber schon im Jänner 1969 zog das Studio die Reißleine: Zu teuer erschien das Projekt mittlerweile. Doch Kubrick gab nicht auf: Er wechselte das Studio, schloss einen Vorvertrag mit United Artists. Zunächst musste er jedoch einen schneller herstellbaren, vor allem aber billigeren Film einschieben: Sofort nach Abschluss der Arbeiten an „A Clockwork Orange“ im April 1971 wandte sich Kubrick erneut seinem Napoleon-Film zu, der 1970 und 1971 an Schauplätzen in Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Frankreich und England gedreht werden sollte. Inzwischen hatte sich jedoch ein anderes Problem aufgetan: Sergej Bondartschuks Konkurrenz-Epos „Waterloo“ hatte sich im Herbst 1970 als globales Kassengift erwiesen. Von da an glaubte niemand außer Kubrick selbst mehr an den Napoleon-Film.

Romanstoff. Ein Drama nach klassischem Vorbild hätte „Napoleon“ werden sollen, eine gut dreistündige Tragödie in fünf Akten. Bereits 1967 hatte es eine erste Besetzungsliste gegeben: Audrey Hepburn, Peter O’Toole oder Peter Ustinov wurden genannt. Ein Jahr später hatte Kubrick die Rolle des Napoleons an Oskar Werner herangetragen, ehe er sich doch für Nicholson entschied.

„Die Welt von heute ist ganz konkret ein Ergebnis von Napoleons Wirken“, stellte Kubrick einmal fest. Um Heroismus ging es ihm keineswegs: In der minutiös rekonstruierten Schlacht von Waterloo 1815 lässt er Napoleon krank hinter den Fronten zurück, und das Finale beschreibt das Exil des Geschlagenen auf der britischen Insel St. Helena in bemerkenswerter Schäbigkeit. Der Streit um die Inschrift auf dem Grabstein Napoleons beschließt das Drehbuch: „Am Ende blieb er namenlos.“

Viele der technischen und ästhetischen Innovationen, die er für „Napoleon“ vorgesehen hatte, sollten in Kubricks „Barry Lyndon“ zum Einsatz kommen. Als Ersatz für das gescheiterte Unternehmen sah Kubrick das ironische Historiendrama von 1975 nie. Noch 1987, im Erscheinungsjahr seines „Full Metal Jacket“, sprach Kubrick davon, sein Napoleon-Drehbuch realisieren zu wollen. Er verteidigte zeitlebens die Egozentrik und Durchsetzungskraft des französischen Kaisers, in dessen Wesenszügen er offenbar viel von sich selbst entdeckte.

Sein Leben gebe ausreichend Stoff für einen guten Roman, soll Napoleon einst über die eigene Biografie gesagt haben. Kubrick kommentierte den Satz charakteristisch: „Ich bin sicher, er hätte, Film‘ gesagt, wenn es damals schon Kino gegeben hätte.“