Starautor Philip Roth im profil-Interview

Über Potenz, das Sterben und seinen neuen Roman

Drucken

Schriftgröße

profil: Mr. Roth, Sie werden dieses Jahr 75 Jahre alt. Feiern Sie Ihre Geburtstage noch?
Roth: Manche feiere ich, andere nehme ich einfach zur Kenntnis. Ich habe meinen 74. Geburtstag mit ein paar Freunden gefeiert, um das Problem mit dem 75. zu vermeiden.

profil: Damit niemand auf die Idee kommt, eine Überraschungsparty für Sie zu planen?
Roth: Ja. Damit ich einfach wie jeden Tag aufstehen, arbeiten, essen und schlafen gehen kann.

profil: Nathan Zuckerman, Ihr langjähriges literarisches Alter Ego, ist in Ihrem neuen Roman "„Exit Ghost"“ 71 Jahre alt und sieht darin ebenfalls keinen Grund zum Feiern. Besonders zu schaffen machen ihm die Folgen seiner Prostataerkrankung: Inkontinenz und Impotenz. Wie auch andere Ihrer Romanprotagonisten weiß er, dass aus dem Kampf zwischen Eros und Thanatos der Tod als Sieger hervorgehen wird. Trotzdem scheinen Ihre Helden bis zuletzt von der Hoffnung beseelt zu sein, den Tod irgendwie wegvögeln zu können.
Roth: Das glaube ich nicht. Die sexuelle Begierde, die viele Männer bis ins hohe Alter hinein empfinden, hat sehr viel mehr mit dem Leben zu tun als mit dem Tod. Das männliche Selbstverständnis, Männlichkeit an sich, basiert in großem Maß auf sexueller Potenz. Dies lehrt uns simple Beobachtung. Doch der Illusion, dem Tod oder auch nur der Angst vor dem Tod ließe sich mit Sex ein Schnippchen schlagen, dieser Illusion gibt sich keine der von Ihnen genannten Figuren hin.

profil: Trotzdem würden Sie einen Schluck aus der Quelle ewiger sexueller Potenz wohl nicht ablehnen.
Roth: Selbstverständlich nicht! Haben Sie das Wässerchen dabei? Im Ernst: Bei der sexuellen Begierde steht nicht die Todesfurcht im Vordergrund, sondern die Freude am Leben.

profil: Was ist denn so toll am Leben – außer Sex?
Roth: Etwas Besseres kriegen wir nicht geboten. Bewusstsein ist eine ziemlich reichhaltige Erfahrung. Der Tod ist die Abwesenheit von Bewusstsein.

profil: Was ist so schlimm am totalen Nichts?
Roth: Die Auslöschung! Glauben Sie nicht, dass jede Religion auf der Angst vor ebendieser Auslöschung gründet?

profil: Gewiss. Das macht jedoch die Angst vor dem Nichts nicht verständlicher. Haben Sie Angst davor?
Roth: Natürlich – genauso wie die große Mehrheit der Menschheit!

profil: Beschäftigt Sie selbst diese Angst bisweilen mehr als das andere Problem, mit dem sich Zuckerman herumschlägt, nämlich dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses?
Roth: Von dieser Alterserscheinung bin ich bisher verschont geblieben. Aber ich kenne Leute, denen das Leben dadurch zur Qual geworden ist. Besonders für Schriftsteller – wie Zuckerman – bedeutet der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses eine Katastrophe. Sich nicht mehr daran erinnern zu können, was man tags zuvor geschrieben hat, oder vor einer Woche oder vor einem Monat, das verunmöglicht jede Form kontinuierlichen Schreibens. Meiner Ansicht nach liegt darin der Grund dafür, dass manche Schriftsteller im Alter verstummen. Nicht weil ihnen die Ideen ausgegangen oder ihnen die Sprache oder das Talent abhandengekommen wären, sondern weil sie das Werkzeug des Gedächtnisses verloren haben. Ich habe Manuskripte von solchen Autoren gesehen: traurige, unzusammenhängende Ergüsse, die voller Wiederholungen stecken.

profil: „Exit Ghost“ spielt unter anderem auf die Gespenster an, von denen man im Alter mitunter in wachsender Zahl umgeben wird. Zuckerman sieht sich etwa mit einem geisterhaften Bild von sich als jungem Mann konfrontiert. Es gibt Menschen im Roman, die Zuckerman zu ihrer besten Zeit gekannt hat und die nunmehr bloße Schatten ihres früheren Selbst darstellen. Wie empfinden Sie selbst die Gesellschaft solcher Gespenster?
Roth: Der Begriff „Gespenster“ scheint mir in meinem Fall nicht zuzutreffen. Zwar lasse ich meine Vergangenheit und die Menschen aus meiner Vergangenheit, lebende wie tote, bewusst anwesend sein. Doch unterhalte ich mich nicht mit ihnen. Ich erinnere mich einfach an sie. Das Mys­terium des Alterns besteht im Vergehen der Zeit. Die Zahl, die mit unserem Namen verbunden ist, wird immer merkwürdiger, und man fragt sich: Was ist geschehen? Wohin ist all die Zeit verschwunden? Erinnerungen helfen einem, die vergangenen Jahrzehnte an etwas festzumachen. Man versteht zwar noch immer nicht, wohin die Zeit entschwunden ist. Aber man kann sich zumindest an das erinnern, was geschah, während sie verging. Ich fühle mich von Erinnerungen weder getröstet noch heimgesucht.

profil: Wie ist es um die Heimsuchung jener Bücher bestellt, die Sie geschrieben haben? Zu denken wäre an „Portnoys Beschwerden“, jenen Roman, der Ihnen den Ruf einbrachte, ein intimer Kenner all dessen zu sein, was an der männlichen Sexualität abstoßend ist.
Roth: Sie haben Recht: „Portnoys Beschwerden“ ist zu meinem Warenzeichen geworden – obwohl der Roman 1969 erschien und ich seither 24 weitere Bücher geschrieben habe. „Exit Ghost“ ist mein 28., und doch sah ich neulich einen Artikel in „Newsweek“, in dem ich als „the Portnoy guy“ bezeichnet wurde. Ähnliches lässt sich übrigens über Nathan Zuckerman sagen. Zuckerman taucht in insgesamt neun Romanen auf. In diesen neun Romanen hat er zweimal Sex. Trotzdem war in jeder Rezension von „Exit Ghost“ vom „sex maniac“ Zuckerman die Rede. Das ist doch absurd! Aber es zeigt einmal mehr, was für ein verzerrtes Bild die Leute von meinem Werk haben.

profil: Dieses Zerrbild betrifft direkt Ihre Person: Sie wurden und werden wie nur wenige andere Schriftsteller mit Ihren Protagonisten identifiziert.
Roth: Schon Virginia Woolf hat sich über die Unfähigkeit der Leser beklagt, Fiktion als Fiktion zu betrachten und nicht als verschleierte Realität. Ich glaube, diese Unfähigkeit hängt hauptsächlich damit zusammen, dass wir über keine gemeinsame Sprache verfügen, mit der wir uns über Fiktion unterhalten könnten. Fiktion ist verschlüsselt und vieldeutig. Allein eine Zusammenfassung des letzten Romans zu liefern, den man gelesen hat, erweist sich als äußerst schwierig. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen ohnehin mit sehr abgestumpften Antennen zum Empfang fiktiver Signale herumlaufen. Sie sind zufrieden, wenn sie sagen können: Figur X entspricht in Wirklichkeit Person Y, und So-und-so ist So-und-so. Damit endet die Diskussion über Literatur.

profil: Sie scheinen keine allzu hohe Meinung von Ihren Lesern zu haben.
Roth: Nicht von meinen Lesern. Von Lesern im Allgemeinen. Die meisten wissen nicht, was sie verpassen.

profil: Glauben Sie, dass Schriftsteller, die ihr Leben damit verbringen, fiktive Welten und Biografien zu entwerfen, ein reichhaltigeres Leben führen als andere?
Roth: Im Gegenteil. Die Vorstellung, wie viele Stunden, Tage, Wochen ich in den letzten Jahrzehnten allein in einem Raum verbracht habe, überrascht mich noch immer. Stunden und Tage, in denen ich all die Leben nicht lebte, die meine Figuren leben, und die Dinge nicht tat, die sie tun. Ich glaube nicht an die kompensatorische Natur des Schreibens. Der Lohn für alles, was ich als Schriftsteller nicht habe, liegt im Akt des Schreibens an sich. Man steht morgens voller Angst auf, weil man keine Ahnung hat, wie man eine bestimmte Szene schreiben soll. Am Abend hat man eine Seite gefüllt und fühlt sich großartig. Nicht wegen dem, was in der Szene geschieht, sondern weil man diese eine Seite geschafft hat. Ich bin wie ein Schuster.

profil: Ein Schuster?
Roth: Ja. Ein Schuster schustert auch nicht, weil er so gern in den Schuhen herumläuft, die er herstellt. Er schustert, weil darin nun einmal seine Arbeit besteht und es das ist, was er am besten kann. (Roth klemmt sich imaginäre Nägel zwischen die Zähne und hämmert auf imaginäre Sohlen ein.) Tock-tock-tock. Tagein, tagaus. Schreiben ist keineswegs immer eine ver­gnügliche Angelegenheit. Nicht-Schreiben ist freilich auch eine Qual. Unser Hirn braucht das Schreiben.

profil: Immerhin bieten Ihnen Schreibpausen Gelegenheit, das wilde Leben auszukos­ten, das Sie sonst nicht führen.
Roth: Richtig. Es gibt ein paar Schriftsteller, die versuchten, beides gleichzeitig zu tun. Hemingway zum Beispiel. Es brachte ihm nur Scherereien ein. Er war streitsüchtig, ständig betrunken und in unzählige Unfälle verwickelt, aus denen er unter anderem Kopfverletzungen davontrug. Nach seinem 35. Lebensjahr hat er kaum mehr etwas Lesenswertes geschrieben. Zum Teil war das der Preis, den er für seinen Lebenswandel bezahlte.

profil: Dieser Gefahr setzen Sie sich nicht aus – Sie leben seit über fünfzehn Jahren zurückgezogen in den Wäldern von Connecticut.
Roth: Ich könnte meinen Lebensstil nicht mehr ändern, selbst wenn ich wollte. Ich bin zu sehr daran gewöhnt. Mein Schreiben hängt davon ab. Ich habe kein zahmes Leben geführt. Es gab durchaus abenteuerliche Perioden, Zeiten, in denen ich viel reiste, vor allem während der achtziger Jahre, die ich in London verbrachte und in denen ich regelmäßig befreundete Schriftsteller im damaligen Ostblock besuchte. Aber nachdem ich Anfang der neunziger Jahre aus Europa zurückkehrte, war ich erst einmal wieder dort. Ich mag nicht mehr stundenlang auf Flughäfen warten und in Hotels übernachten.

profil: Wie weit in die Zukunft planen Sie?
Roth: Das hängt davon ab, woran ich gerade arbeite. Mein Leben ist um mein Schreiben herum organisiert. Ich denke nicht in Tagen und Wochen, sondern in Seiten. Noch 250? Diese 250 Seiten bestimmen, wann ich am Morgen aufstehe. Auch der Schuster misst seine Zeit in Schuhen.

profil: Haben Sie bereits Vorkehrungen für Ihre Beerdigung getroffen?
Roth: Das habe ich in der Tat. Man muss sich einen Ort aussuchen, an dem man begraben werden will. Sonst tun es andere für einen. Die Idee für meinen Roman "„Sabbaths Theater"“ kam mir übrigens auf der Suche nach einem Grab. Ich hatte damals gerade eine Freundin beerdigt, eine junge Frau, 42 Jahre alt, und realisierte, dass ich, der doch viel älter war als sie, noch gar kein Grab hatte. Also begab ich mich auf die Suche nach einem passenden Ort – wie Mickey Sabbath. Wobei dieser freilich im Gegensatz zu mir vorhatte, Selbstmord zu begehen. Ich konnte allerdings sehr lange nichts finden, das mir gefiel.

profil: So wählerisch?
Roth: Man ist nie kindischer, als wenn man sich überlegt, wo man begraben werden möchte. Man denkt: Ach nein, hier ist es viel zu einsam, mit wem soll ich mich denn unterhalten? Ein anderer Ort ist einem zu schattig, ein dritter zu kalt im Winter. Jetzt habe ich aber endlich eine Grabstätte.

profil: Wo?
Roth: Nicht weit von hier. An der 57. Straße und der 7th Avenue.

profil: Warum gerade dort?
Roth: Es ist in der Nähe vom Büro meines Agenten.