Strahlentherapie

Medinzin. Winterlicher Lichtmangel eine Hauptursache für grippale Infekte

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Von Bert Ehgartner

Harald Dobnig wusste, dass er auf einem Datenschatz saß. Der Endokrinologe und Professor für innere Medizin an der Medizinischen Universität Graz hatte die Protokolle von 3256 Männern und Frauen mit einem Durchschnittsalter von 62 Jahren, die alle wegen des Verdachts einer Herzgefäßverengung genauestens untersucht worden waren. Eine Vielzahl von Einzelwerten lag vor, vom Blutdruck bis zum Cholesterin. Das Beste – zumindest aus Sicht des Wissenschafters – war aber der Zeitpunkt der Untersuchung: Der lag im Schnitt acht Jahre zurück, und mittlerweile waren 737 Patienten, also fast ein Viertel, verstorben. Dobnig saß nun mit einem Team von Kollegen aus den verschiedensten Sparten der Medizin über den Daten, analysierte sie und versuchte zu ergründen, welcher der Messwerte die beste Prognose für ein besseres oder schlechteres Überleben ermöglichte. „Ich kann mich noch gut erinnern, als mich förmlich der Vitamin-D-Blitz getroffen hat“, erzählt Dobnig.

Den Schlüssel zum Verständnis fand er im Vitamin-D-Status der Patienten. Dazu teilte er sie nach ihrem Vitamin-D-Wert in vier gleich große Gruppen ein. Wenn man Patienten im Viertel mit dem niedrigsten Quantum (Durchschnittswert 7,6 Nanogramm pro Liter) mit jenen des Viertels mit den höchsten Werten (28,4 ng/l) verglich, so war das Sterberisiko der ersteren Gruppe mehr als doppelt so hoch. Patienten aus dem zweitniedrigsten Viertel (13,3 ng/l) hatten noch ­immer ein mehr als 50 Prozent höheres Sterberisiko. „Der Vitamin-D-Status der Patienten hatte eine geradezu über­wältigende Aussagekraft in Bezug auf deren Überleben“, erklärt Dobnig.

Die Grazer Untersuchung wurde 2008 im angesehenen Journal „Archives of Internal Medicine“ publiziert und seither bereits wieder von 180 anderen Studien zitiert. Insgesamt wurden im vergangenen Jahrzehnt mehr als 18.000 Arbeiten zum Thema Vitamin D in die internationale Medizindatenbank „PubMed“ aufgenommen. „Vita­min D gilt derzeit weltweit als eines der heißesten Eisen der medizinischen Forschung“, konstatiert Dobnig.

Irrmeinungen. Lange Zeit war das anders. Die Geschichte von Vitamin D ist voll von Irrtümern. Das beginnt schon beim ­Namen: Vitamine erfüllen laut Definition lebenswichtige Funktionen, können im Stoffwechsel jedoch nicht im nötigen Ausmaß selbstständig erzeugt werden. Anfang des 20. Jahrhunderts ­erwies sich Lebertran als Heilmittel für die bei Kindern grassierende Knochenwachstumsstörung Rachitis. Man nahm also an, dass den kranken Kindern ein Vitamin fehlt, und nannte es – nach den drei bisher bekannten Vitaminen A, B und C – in ­alphabetischer Folge Vitamin D.
Damals wusste noch niemand, dass der Organismus sehr wohl in der Lage ist, ausreichend Vitamin D herzustellen, solange genügend Sonne auf die Haut trifft. Es braucht ultraviolettes Licht geringer Wellenlänge (so genannte UV-B-Strahlung), um ein mit Cholesterin verwandtes Molekül, das reichlich in der Haut vorkommt, in eine Vitamin-D-Vorstufe ­umzuwandeln (siehe Grafik). Nach heutigem Wissensstand würde man Vitamin D als Hormon bezeichnen.

Mit der raschen Lösung des Rachitis-Problems schien die Bedeutung der Substanz aber geklärt, und viele Jahrzehnte lang kümmerte sich kaum jemand darum. Dazu kamen Gerüchte über mögliche Schäden, ausgelöst durch Hochdosen von Lebertran, mit denen nach dem Zweiten Weltkrieg die Kinder traktiert wurden.

Heute weiß man, dass toxische Effekte von Vitamin D selbst bei gelegentlicher Überdosierung unwahrscheinlich sind – und zugleich auch, dass der Mangel weltweit in enormem Ausmaß verbreitet ist. Als moderner Pionier auf dem Gebiet gilt Michael F. Holick, Endokrinologe der Universität Boston. Er publizierte seit den siebziger Jahren Studien über die dramatischen Auswirkungen der Unterversorgung. „Ein Mangel erhöht das Risiko für weit verbreitete Krebsarten“, erklärte Holick, „ebenso für Diabetes, Autoimmun­krankheiten sowie Herzinfarkt und Schlaganfall.“ Erste Anzeichen für einen Vitamin-D-Mangel seien meist Schmerzen in Knochen und Muskeln, dauerhafte ­Müdigkeit sowie Depressionen. „Wenn die Ärzte nicht auf ­Vitamin D testen, kann das zu fatalen Fehldiagnosen führen.“
Sonnenhormone. Man weiß mittlerweile, dass das Sonnenhormon an der Regulation von mehr als 200 Genen beteiligt und damit eines der einflussreichsten Hormone des menschlichen Organismus ist. Und es kommen immer weitere Resultate aus den verschiedensten Sparten der Medizin.

Werdende Mütter haben beispielsweise ein deutlich geringeres Risiko für eine Kaiserschnittgeburt, wenn ihr Vitaminstatus in Ordnung ist.
Enorme Konsequenzen hat der Sonnenmangel für ältere Menschen, deren Haut mit höherem Lebensalter auch zunehmend schlechter in der Lage ist, genügend Vitamin D zu erzeugen. Sobald sie auch noch bettlägrig werden, sinkt der Spiegel dann oft gegen null. Sonnenbaden und billige Vitamin-D-Tropfen aus der Apotheke, raten Experten, wären hier therapeutisch wesentlich effektiver als teure Medikamente von mitunter fraglicher Wirksamkeit.

Besonders interessant ist der Zusammenhang mit Infekten. Im Kern geht es dabei um die Frage, warum wir im Winter häufiger krank werden als im Sommer. Wir befinden uns ja auch im Sommer häufig mit vielen Menschen in geschlossenen Räumen, und auch Bakterien oder Viren sind im Sommer genauso im Umlauf. Dennoch ist eine Sommergrippe relativ selten – und im Winter sterben in Österreich um etwa 3000 Personen mehr als in den anderen Jahreszeiten.

In der ehemaligen Sowjetunion startete man dazu ziemlich drastische Versuche, bei denen Versuchspersonen absichtlich mit Influenzaviren infiziert wurden. Dabei zeigte sich, dass im Winter eine Infektion um das Zehnfache leichter gelingt als im Sommer. Wieder spielt Vitamin D eine Schlüsselrolle: Alle weißen Blutkörperchen ­besitzen Vitamin-D-Rezeptoren und werden ­dadurch aktiviert. Obendrein sind die Schleimhäute in Nase und Rachen mit antimikrobiell wirksamen Peptiden besetzt, die als erste Abwehrlinie gegen Viren und Bakterien fungieren. „Auch sie hängen in ihrer Funktion zu einem guten Teil vom Vitamin-D-Status ab“, sagt Dobnig.
Doch das Sonnenvitamin rüstet nicht nur das Immunsystem auf, es besänftigt gleichzeitig die Gegenreaktion. Denn oft richtet die über aggressive Zellen der Immunabwehr gesteuerte Gegen­reaktion mehr Schaden an als die Viren selbst. Bei der zurückliegenden Influenzapandemie starben die meisten der jungen Opfer nicht an den Viren, sondern an einer überzogenen Immunantwort, bei der das infizierte Lungengewebe durch einen Großangriff des Immunsystems und die massenhafte Ausschüttung entzündungsfördernder Zytokine zerstört wurde.

Die Sowjets setzten diese Erkenntnisse im Leistungssport ein und schickten ihre Athleten regelmäßig zu UV-Bestrahlungen ins Solarium. Dadurch konnten die infektbedingten Krankheitstage der Sportler auf die Hälfte reduziert werden.

Grippekur. Nun erscheinen langsam auch aktuelle Studien zur Eignung von Vitamin D in der Influenzaprophylaxe. In einer sorgfältig durchgeführten Untersuchung mit 334 japanischen Schulkindern war das Influenzarisiko in der Vitamin-D-Gruppe um signifikante 42 Prozent vermindert. Bei Kindern mit einer bekannten Asthmadiagnose verringerte sich das Risiko einer Asthmaattacke gar um signifikante 83 Prozent. Von derartigen Ergebnissen können die Hersteller der Influenzaimpfstoffe bislang nur träumen.
Während die Verschreibung von Vitamin-D-Präparaten zunimmt, haben viele Ärzte bis heute Probleme damit, ihren Patienten therapeutische Sonnenbäder zu empfehlen. Gilt doch die Sonne als Verursacher von Hautkrebs, und die Warnung vor den Gefahren eines Sonnenbrands ist nahezu omnipräsent. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Sonne und Melanomen, der gefährlichen Form von Schwarzem Hautkrebs, bis heute wissenschaftlich umstritten. „Menschen, die sich berufsbedingt ständig in der Sonne aufhalten, haben sogar ein geringeres Melanomrisiko“, behauptet etwa Marianne Berwick, Leiterin der Division für Epidemiologie und Prävention von Krebs­erkrankungen an der Universität von New Mexico in Albuquerque.

Wissenschaftlich gesichert ist hingegen der Einfluss von Sonne auf die Entstehung des häufigsten Hautkrebstypus, des Basalzellkarzinoms. Es entwickelt sich meist im Kopfbereich, kann gut entfernt werden und ist damit in den meisten Fällen auch geheilt. Im Vorjahr erschien dazu eine große dänische Übersichtsarbeit, die ein durchaus sensationelles Ergebnis erbrachte: Die Auswertung der Daten von 72.295 Fällen von Basal­zellkarzinom ergab, dass diese Patienten nicht kürzer, sondern deutlich länger lebten als die Durchschnittsbevölkerung. „Natürlich ist es nicht der Krebs, der diesen Überlebensvorteil bewirkt, sondern der Zusammenhang zwischen der Sonne und dem höheren Vitamin-D-Spiegel dieser Patienten“, erklärt der Innsbrucker Pharmakologe Hartmut Glossmann.

Gemeinsam mit anderen Experten fordert Glossmann nun die rasche Umsetzung der aktuellen Forschungsergebnisse durch die Gesundheitspolitik. „Damit die Menschen wirksam gegensteuern können, ist es notwendig, dass alle über ihren Vitamin-D-Status Bescheid wissen“, moniert Glossmann. Deshalb solle der Wert künftig bei allen ­Gesundenuntersuchungen ermittelt werden. „Ich habe fast die ganze Verwandtschaft testen lassen, von den Enkeln bis zur Urgroßmutter“, sagt Glossmann. „Und wir bleiben nun schon den dritten oder vierten Winter von grippalen Infekten verschont.“