Elfriede Hammerl

Stressbewältigung

Stressbewältigung

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Meine Sozialversicherung schenkt mir hundert Euro, wenn ich was für meine Gesundheit tue. Teilt mir meine Sozialversicherung auf dem Postweg mit. Na so was! Ich sitze gerade, ziemlich spät am Abend, nach einem eher langen, zähen Arbeitstag, an meinem Schreibtisch und wühle mich durch meine Briefe, da kommt mir dieses generöse Angebot in die Finger, das mich „Fit zu mehr Erfolg“ machen will, indem es mir hundert Euro Zuschuss in Aussicht stellt, wenn ich für mindestens eben diesen Betrag gesundheitsfördernde Maßnahmen setze. Die zuschusswürdigen Maßnahmen sind aufgelistet: Vorträge und Seminare (zum Beispiel über Stressbewältigung), ein Fitness-Check mit Trainingsplanerstellung, Nordic Walking, Qigong, Tai-Chi, Kochseminare mit Schwerpunkt richtige Ernährung ... Ich muss nur bei den Kooperationspartnern meiner Sozialversicherung (Kurhotels, Fitnessbetriebe und Trainingszentren) Kurse um theoretisch mindestens ein-, in der Praxis jedoch sicher um mehrere hundert Euro buchen, und schon greift meine Sozialversicherung tief in die Taschen ihrer Spendierhosen und zieht einen Hunderter heraus. Wow.

Im selben Kuvert findet sich dann auch meine nächste Beitragsvorschreibung, die sich gewaschen hat, was mich der Frage enthebt, ob ich am kommenden Wochenende an einem Referat schreiben oder auf die Kohle dafür pfeifen und lieber ein schlechtes Buch lesen soll. Auf die Kohle pfeifen wird sich wieder einmal nicht ausgehen.

Im Klartext schaut es also so aus, dass meine Sozialversicherung mir ziemlich viel Geld abknöpft, was mich zugegebenermaßen stresst, um mir anschließend ein bisschen was von meinem Zaster zurückzugeben, wenn ich ein Seminar für Stressbewältigung besuche (oder andere Zweige des Fitnessgewerbes sponsere), was ich aber nicht kann, weil ich hackeln muss, um meine Beiträge zahlen zu können.
Vielleicht weiß meine Sozialversicherung ja bloß nicht, was mir wirklich helfen würde? Ich wüsste es schon. Sie könnte mir einen Heinzelmännchen-Buchhalter schicken, der sich an meiner Stelle durch die noch zu ordnenden Belege kämpft, damit ich endlich schlafen gehen kann. Sie könnte mir drei Tage in Rom spendieren, die mir persönlich wesentlich besser täten als noch so hippe Körperverrenkungen unter Menschen in sehkraftzersetzender Sportkleidung. Sie könnte aufhören, mich zu stressen, indem sie mir abverlangt, unentwegt fit und erfolgreich zu sein, und mich gemütlich ein bisschen versagen und jammern lassen. Sie könnte mir weniger Geld abknöpfen. Sie könnte dafür sorgen, dass ich nicht stundenlang in Wartezimmern warten muss (was wiederum nächtliches Nacharbeiten zur Folge hat), wenn ich ärztliche Betreuung brauche.

Kann sie alles nicht? Dann soll sie mir wenigstens nicht einreden, ich hätte es in der Hand, keinen Arzt zu brauchen, nicht gestresst zu sein, mich dem Kochen mit Dinkel oder exotischen Bodygebilden zu widmen.
Nein, ehrlich, natürlich geht’s nicht um mich persönlich. Mir persönlich geht’s ja nicht so schlecht. Aber die, denen es wirklich schlecht geht, sind nicht mies beisammen, weil sie ihre Gesundheit mutwillig vernachlässigen. Grundsätzlich, das ist kein Geheimnis, sind Gesundheit und ein längeres Leben eine Frage des Einkommens und der Sozialschicht. Die Armen sind kränker und sterben früher, so einfach ist das. Und warum? Weil sie nicht gesund leben, stimmt schon, aber warum leben sie ungesund? Weil sie freiwillig schwer schleppen, den ganzen Tag sitzen, Überstunden machen, pendeln, dreifach belastet sind, nicht zum Zahnarzt kommen?

Ich erinnere mich an eine Diskussion zum Thema Burnout, an deren Ende eine Frau aus dem Publikum aufstand, um die Fachleute auf dem Podium zu fragen, wie sie ihr Gefühl der Überlastung loswerden könne. Dann zählte sie ihre Pflichten und Sorgen auf, und es wurde klar, sie fühlte sich nicht bloß überlastet, sie war es. Aber sie hatte die gängige Selber-schuld-Ideologie so sehr verinnerlicht, dass sie gar nicht auf die Idee kam, ihre Situation auf ihre Lebensumstände zurückzuführen statt auf vermutete Defizite in ihrer organisatorischen und psychischen Stressbewältigung.

Bleiben alle die, die sich’s leisten könn(t)en, mehr oder weniger selbstverliebt mit ihrem Körper umzugehen. Unter uns: Tun sie das nicht eh schon ausreichend? Alle diese unendlich öden Unterhaltungen über die angesagtesten Diäten, ausgefallensten Massagen, gefragtesten Osteopathen und das ultimative Fitnesstraining! All das verbissene Hampeln und Strampeln! All diese Typen, die auf Laufbändern laufen und laufen, aber nie zu Fuß vom dritten in den ersten Stock gehen würden!
Okay, nix einzuwenden, wenn jemand wirklich gern Skistöcke schwingend durch den Badner Kurpark marschiert. Aber viel gegen ein von der Sozialversicherung verordnetes Stöckeschwingen, zumal ich alt genug bin, um mich an zahlreiche inzwischen überholte Patentrezepte zur Erlangung des ewigen Lebens zu erinnern. Wissen Sie noch, wie unglaublich gesund und toll Aerobic war? Genau, heute indes: zweifelhafte vorgestrige Mode, gelenkemeuchelnd, ein Todesstoß für die Wirbelsäule.
Mens sana in corpore sano? Ja, aber in der ursprünglichen Bedeutung der Forderung von Juvenal, der sich wünschte, dass in den trainierten Körpern römischer Athleten der Geist nicht verkümmern sollte.

Neu erschienen:
Elfriede Hammerl, „Hotel Mama“, Deuticke, 160 Seiten, 15,40 Euro