Am Totenbett in Geiselhaft

Nelson Mandela: Am Totenbett in Geiselhaft

Mandela. Wie Weggefährten und Familie versuchen, Kapital aus dem Erbe des Sterbenden zu schlagen

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Von Johannes Dieterich, Südafrika

Könnte Nelson Mandela aus dem Fenster schauen, er würde sehen, dass sein Traum in Erfüllung gegangen ist. Unten, auf der Straße vor dem Krankenhaus im Zentrum von Pretoria, ist Südafrika zumindest vorübergehend tatsächlich zu jener Regenbogennation geworden, die er im Sinn hatte: Schulkinder unterschiedlicher Hautfarbe heften selbstgemalte Grußbotschaften an den Zaun, eine aus 500 Kilometern Entfernung angereiste Großmutter weint hemmungslos, ein bleichgesichtiger Geschäftsmann lässt 100 weiße Tauben fliegen. Die Blaskapelle der Heilsarmee intoniert Choräle, während Veteranen der von Nelson Mandela gegründeten Befreiungsarmee "Umkhonto we Sizwe“ im Stechschritt auf dem Trottoir paradieren. Geschäftstüchtige Kleinunternehmer bieten heiße Suppe oder Polaroidbilder an.

„Kritisch, aber stabil“
Mandela sieht es aber nicht. Ob er überhaupt noch etwas sieht, weiß außer den Ärzten, Familienangehörigen und einigen hochrangigen Regierungsmitgliedern keiner: Denn der Gesundheitszustand des südafrikanischen Nationalhelden wird seit Wochen wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Zwar gibt das Präsidialamt einmal am Tag ein kurzes Bulletin heraus. Doch das besteht in der Regel aus dürren Floskeln, die sich zwischen "kritisch, aber stabil“ und "ernst, mit Verbesserung“ bewegen. Abgesehen davon schweigen sich die Hüter des Heroen aus - auch über die bedrückende Frage, ob der fast 95-jährige Patient künstlich beatmet wird.

"Ich bin doch kein Arzt“, winkt Präsident Jacob Zuma ab, als ob man zum Erkennen eines Beatmungsgeräts eine ärztliche Zulassung bräuchte. Inzwischen hat ein Clan-Ältester bestätigt, dass Madiba - wie der Gründer des neuen Südafrikas nach seinem Stammes-Namen genannt wird - an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen ist. Ein Dementi blieb aus.

Viele haben das Vertrauen in die Regierung längst verloren. Zu viel wurde bereits vertuscht und verschwiegen. Zum Beispiel die Sache mit der Ambulanz, die auf der Autobahn liegen blieb, als Mandela ins Krankenhaus gebracht wurde. Eine halbe Stunde lang musste der an Lungenentzündung leidende 94-Jährige im kalten südafrikanischen Winter ausharren, bis ein Ersatzkrankenwagen kam. Die Regierung gestand das allerdings erst ein, nachdem der US-Sender CBS darüber berichtet hatte.

Jetzt machen wieder Gerüchte die Runde. Nelson Mandela werde aus niedrigen Motiven künstlich am Leben erhalten, lautet eines davon. Und zutrauen würden das den Verantwortlichen hier viele.

"Mandela hat genug für uns getan“, sagt die 92-jährige Nozolile Mtirara, die in ihren Jugendjahren eine Hütte mit dem Häuptlingssohn teilte: "Was wir jetzt unsererseits für ihn tun können, ist, ihn gehen zu lassen.“

Aber Tata, der Großvater, darf nicht sterben. Der Grund dafür ist fast 900 Kilometer von Pretoria entfernt am Fuß eines mächtigen grünen Hügels in der südafrikanischen Ostkap-Provinz zu finden - in einem über die Hügel verstreut liegenden Dörfchen namens Mvezo, dem Geburtsort Mandelas.

Dort hat Mandla Mandela, 39 Jahre, Enkel des Nationalhelden, Dorfältester und ANC-Parlamentarier, aus Steuergeldern den sogenannten "Großen Ort“ errichten lassen: ein Konferenzzentrum mit zahlreichen Funktionshäusern und strohgedeckten Hütten. Um Mvezo zum Wallfahrtsort zu machen, ließ Mandla bereits vor zwei Jahren die Gebeine von fünf nahen Verwandten des weltberühmten Großvaters - darunter drei seiner Kinder - aus dem Familienfriedhof im knapp 40 Kilometer entfernten Qunu ausgraben und zum "Großen Ort“ transportieren: Mit der Nacht- und Nebelaktion sollten vollendete Tatsachen geschaffen werden.

Das blieb nur so lange unwidersprochen, bis sich auch die anderen Mitglieder der Familie, die über keine "Großen Orte“ in Mvezo verfügen, auf Mandelas Tod vorzubereiten begannen. Unter Berufung auf einen offenbar schriftlich festgehaltenen Wunsch des Kranken begannen sie, eine neue Grabstätte in Qunu zu errichten. Dort hatte der Expräsident nicht nur in seiner Jugend, sondern auch nach seiner Pensionierung die meiste Zeit verbracht.

Als Clanangehörige die Gebeine der Mandelas aus dem alten Friedhof umbetten wollten, stellten sie jedoch fest, dass die Gräber bereits leer waren. Was folgte, war ein handfester Streit mit Enkel Mandla, der sich gerne zum Sprecher der Familie aufschwingt.

„Lasst uns in Ruhe!”
Mandlas Gegner werden von Makaziwe, der ältesten Tochter Mandelas, angeführt. Sie forderte ultimativ die entwendeten Gebeine wieder zurück - ohne Erfolg. Bei einem Familientreffen soll es jüngst dermaßen hoch hergegangen sein, dass der bereits mehrfach in Skandale verwickelte Mandla schließlich wutschnaubend den Versammlungsort verließ. Inzwischen hat das Landgericht in der nahe gelegenen Provinzstadt Mthatha entschieden, dass die sterblichen Überreste erneut exhumiert und nach Qunu zurückgebracht werden müssen.

Währenddessen geht das Warten weiter, die Nerven liegen blank. "Lasst uns in Ruhe!“, ruft Familiensprecherin Makaziwe in einem Fernsehinterview in Richtung aller, "die in unsere Angelegenheiten dreinreden wollen: Er ist unser Vater. Wir hatten ihn kaum einmal in unserem Leben für uns. Dies ist jetzt eine geheiligte Zeit für uns.“

Ein Großteil der geheiligten Zeit wird nun allerdings mit dem Streit dar-über verbracht, wer über den Todkranken verfügen darf: Die Ärzte hätten den Angehörigen die Option zur Abschaltung der Maschine eingeräumt, sagt gegenüber der Wochenzeitung "Mail & Guardian“ ein Mitglied des Mandela-Clans in Qunu: "Doch die Familie ist zu groß. Und sie ist sich nicht einig.“

„Wie die Geier”
Zumindest in einem sind aber alle einer Meinung: Die Journalisten, die scharenweise vor dem Krankenhaus kampieren, seien "wie die Geier, die darauf warten, dass der Löwe den Büffel verschlingt“, schimpft Makaziwe. Dass sich die ganze Welt auf den siechen Mandela stürze, könne nur mit Rassismus erklärt werden, denn schließlich habe man Margret Thatcher in ihren letzten Tagen auch in Ruhe gelassen.

Dass die Anwesenheit der Presse vor dem Hospital nicht etwa Schadenfreude, sondern weltweiter Anteilnahme geschuldet ist, scheint der Tochter genauso zu entgehen wie die Tatsache, dass es sich bei ihrem Vater nicht um die umstrittene Eiserne Lady, sondern um die wohl am meisten respektierte moralische Instanz der Welt handelt.

"Warum kann sich die Familiensprecherin nicht über die kleine Republik der Verehrer freuen, die sich Tag für Tag vor dem Krankenhaus konstituiert?“, fragt ein Reporter aus den USA. Die Antwort lautet möglicherweise: Weil sie und ihre Schwestern, Neffen und Cousinen eifersüchtig auf Mandela, ihren endlich errungenen Besitz, beharren. Es sei der Streit innerhalb der Familie, der seinen Geist und seine Ahnen nicht in Frieden lasse, sagt ein Clanältester: "Deswegen darf seine Seele noch nicht gehen.“

„Langer Weg zur Freiheit“
Wer weniger afrikanisch konditioniert ist, fragt sich, was wohl geschehen muss, bis der "Lange Weg zur Freiheit“ - so der Titel von Mandelas Autobiografie - zum endgültigen Ende kommen kann. Zunächst wurde spekuliert, Barack Obamas historischer Besuch müsse abgewartet werden, jetzt heißt es, dass erst noch der Familienstreit entschieden werden müsse. Noch dazu ist in zwei Wochen Mandelas 95. Geburtstag: Die Vorbereitungen dafür laufen bereits auf vollen Touren. Und auch der Afrikanische Nationalkongress (ANC) hat ein Interesse daran, dass Mandela möglichst lange nicht stirbt. Kommendes Jahr finden Wahlen statt - einmal noch kann man das legendäre Parteimitglied zum Stimmenfang nutzen. Wohl nicht zuletzt deshalb ruft der ANC nunmehr überall im Land zu Gebetsveranstaltungen für den Kranken auf.

„Geisel”
Mandela sei auf dem Sterbebett zur "Geisel“ geworden, klagt der Kolumnist William Gumede. Dabei verfüge Nelson Mandela eigentlich über eine geniale Begabung zum Abschiednehmen, die er im Untergrund und im Gefängnis noch perfektioniert habe, ist Kommentator Nic Dawes überzeugt. Der erste dunkelhäutige Präsident Südafrikas legte bereits nach einer einzigen Legislaturperiode ein Amt zurück, an dem viele seiner Kollegen wie Kletten hängen bleiben. Genauso konsequent zog er sich vor knapp zehn Jahren ganz aus der Öffentlichkeit zurück, obwohl viele Südafrikaner nicht ohne ihn auszukommen glaubten.

Sein letzter Abschied droht jetzt allerdings ganz anders und sehr viel würdeloser auszufallen: Hätte der Patient, der sich von weißen Rassisten und Kerkermeistern nicht unterkriegen ließ, noch etwas zu bestimmen - er würde anders entscheiden.