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Syrien. Countdown zum Sturz von Diktator Bashir al-Assad

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Natürlich weiß er, dass sie ihn hassen. Wenn Bashir al-Assad dieser Tage von seinem Regierungspalast auf Damaskus hinunterblickt, kann es ihm gar nicht verborgen bleiben. Manchmal werden abends ganze Stadtviertel von einer Sekunde auf die andere finster: nicht wegen eines Stromausfalls, sondern weil Bewohner der syrischen Hauptstadt in einer konzertierten Protestaktion das Licht abschalten. Dann wieder sticht der nadeldünne Strahl eines Laserpointers aus der Innenstadt herauf und streicht über die Mauer der Festung, als würde er nach einem Ziel suchen. Auch wenn Assad den roten Punkt nicht sieht - er muss die Schüsse hören, die seine Palastwache hilflos in die Richtung abfeuert, aus der das Licht kommt. Würde der syrische Diktator noch auf den Basar gehen, um Essen zu kaufen, könnte es leicht sein, dass er in seinem Brot eingebacken einen Zettel findet, in dem sein Rücktritt gefordert wird.

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View Syria - Tuesday 20/12/2011 in a larger map

Aber Assad geht schon lange nicht mehr hinaus. Ende Jänner 2011 begann mit ersten Demonstrationen ein Aufstand gegen die mittlerweile mehr als 30 Jahre währende Gewaltherrschaft seines Clans. In Ägypten dauerte es drei Wochen, bis das Regime dem arabischen Frühling weichen musste, in Tunesien einen Monat, in Libyen ein halbes Jahr. In Syrien ziehen sich die Auseinandersetzungen inzwischen fast ein ganzes Jahr hin. Mittlerweile steht das Land je nach Lesart am Rand des Bürgerkriegs oder bereits mitten darin. Die Vereinten Nationen gehen von 5000 Todesopfern aus, die Opposition befürchtet, dass es mindestens viermal so viele sind.

Unabhängige Berichte über die Situation im Land gibt es derzeit kaum, weil das Regime ausländischen Journalisten seit Monaten die Einreise verwehrt. Aus Gesprächen, die profil in den vergangenen Wochen mit einer Vielzahl von Quellen teils in Syrien, teils außerhalb geführt hat, lässt sich aber ein klar differenziertes Bild der Lage zeichnen.

Der Befund lässt für Assad nichts Gutes erwarten: Syriens Diktator ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das, was man auf Englisch einen Dead Man Walking nennen würde. Dass er fallen wird, scheint gewiss. Es fragt sich allerdings, wann das der Fall sein wird.

Landkarte des Aufstands

Die Herrschaft von Bashir al-Assad ist nicht ohne die Sonderstellung jener Religionsgemeinschaft zu verstehen, der sein Clan angehört: Die Alawiten (nicht zu verwechseln mit den Aleviten) stellen zwar die politische und militärische Führungsschicht des Landes, sind aber als schiitische Sekte eine 10-Prozent-Minderheit innerhalb einer zu 70 Prozent sunnitischen Bevölkerung. Kurden und Christen haben jeweils zehn Prozent.

Allein mit Repression hätte es das Assad-Regime aufgrund der Mehrheitsverhältnisse also nicht geschafft, sich über drei Jahrzehnte an der Macht zu halten. Das war nur durch ebenso skrupellose wie pragmatische Wirtschafts-, Religions- und Volksgruppenpolitik möglich, die sich bis heute in der Landkarte des Aufstands widerspiegelt.

In den beiden großen Städten - Damaskus und Aleppo - war die Lage bis Mitte Dezember relativ ruhig. Dass am Regierungssitz Damaskus die extrem hohe Präsenz von Sicherheitskräften dafür verantwortlich ist, liegt auf der Hand. Im wirtschaftlich weitaus bedeutenderen Aleppo kommt zur Repression ein weiterer Faktor: Das Regime hat die dort beheimateten, vor allem im Großhandel tätigen sunnitischen Business-Eliten immer besonders gehätschelt.

Wenn es in Aleppo zu Protesten kam, dann bislang vor allem an der Universität. Allerdings dürfte der "Streik der Würde“, zu dem die Opposition seit der zweiten Dezemberwoche aufruft, auch hier Anhänger gefunden haben. Videoaufnahmen sollen beweisen, dass viele Geschäftsleute den Appell, ihre Läden geschlossen zu halten, befolgen. In weiteren Phasen ist unter anderem geplant, dass Schulkinder dem Unterricht fernbleiben und Beamte nur noch Dienst nach Vorschrift machen.

Wenige Demonstrationen werden auch aus den von Drusen und Kurden bewohnten Gebieten gemeldet: Ihr Verlangen nach einem Machtwechsel hält sich in Grenzen, weil sie von der sunnitisch geführten Opposition Ähnliches befürchten wie von Assad. Die Kurden lässt das Regime derzeit zudem eher in Ruhe. In den vergangenen Monaten hat die Regierung Hunderttausenden Kurden, die bislang in einem rechtlosen Status leben mussten, die Staatsbürgerschaft angeboten - auch, um sie danach zum Militärdienst verpflichten zu können. "Die Sicherheitskräfte üben derzeit keinen übermäßig großen Druck auf uns aus, weil die Regierung keine neue Front eröffnen will“, berichten die kurdischen Oppositionellen Renas Sabri und Khalaf Firaz von der Partei der Demokratischen Union (PYD).

Die Brennpunkte des Aufstands befinden sich in den Städten Daraa, Hama, Homs, Idlib und Deir-al-Zor. In Daraa hatten die landesweiten Proteste nach der Verhaftung und Folterung von 15 Jugendlichen wegen eines regimekritischen Graffitos ihren Ausgang genommen. Die Bewohner von Hama haben eine Rechnung mit dem Regime offen, seit Assads Vater Hafis dort 1982 schätzungsweise 20.000 Anhänger der Muslimbrüder niedermetzeln ließ. In Homs und Idlib dürften große Teile des Stadtgebiets bereits unter Kontrolle der Opposition stehen.

Pazifismus versus Militanz

Noch vor ein paar Monaten war Burhan Ghalioun im Hauptberuf Universitätsprofessor für Arabistik an der Pariser Universität Sorbonne. Als er am Donnerstag, dem 8. Dezember, im Haus der Begegnung Donaustadt auf der Bühne stand und mit Tränen in den Augen eine Rede hielt, hatte er sich aber längst in einen Revolutionär verwandelt. Der soignierte Akademiker ist Mitglied im siebenköpfigen Exekutivkomitee des Syrischen Nationalkongresses (SNC) und gehört damit zur Führungsspitze der Regimegegner. Der SNC vertritt die Opposition politisch im Ausland.

Unter ihm rangiert das Generalkomitee der Syrischen Revolution (SRGC), das den Widerstand im Land koordiniert. Eine eigene Rolle spielt die aus desertierten Militärs bestehende Freie Syrische Armee (FSA). Daneben gibt es noch weitere politische Bewegungen wie die in den USA gegründete Reformpartei Syriens und die bereits erwähnte kurdische PYD, eine Schwesterorganisation der kurdischen Arbeiterpartei PKK.

In den vergangenen Wochen reiste Ghalioun durch halb Europa, um mit hochrangigen europäischen Politikern um Unterstützung für den Nationalkongress zu verhandeln. Mit ihm hat Syrien etwas, das den anderen arabischen Revolutionären weitgehend fehlte: eine organisierte Opposition, die bereits jetzt für die Zeit nach dem Sturz der Diktatur plant und als Ansprechpartner für die internationale Gemeinschaft dient.

"Die EU soll ein klares Bekenntnis abgeben, dass für sie Werte wie Freiheit und Demokratie keine leeren Worte sind“, fordert Abu Fares, Mitglied des Revolutionskomitees SRGC, der sich im November kurz in Wien aufhielt, Unterstützung aus Europa. "Auch im Sinne besonderer Beziehungen zwischen der EU und der neuen syrischen Regierung in der Zukunft.“

Der Nationalkongress betont seine gewaltlose Linie: Die Widerstandsaktionen sollen friedlich bleiben, militärische Interventionen wie die Einrichtung eines Flugverbots nach libyschem Vorbild oder einer Pufferzone an der Grenze zur Türkei nur mit Zustimmung internationaler Organisationen erfolgen. "Wir sind für jegliche Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung, die im Einklang mit der UN und der Arabischen Liga stehen“, erklärte Ghalioun bei seinem Wien-Besuch gegenüber profil.

Gleichzeitig ist der stark von Sunniten geprägte Nationalkongress bemüht, sich als überkonfessionelle und nicht ethnisch ausgerichtete Sammelbewegung zu positionieren - was bei anderen Oppositionellen auf Skepsis stößt. "Wir wurden vom Assad-Regime unterdrückt, und wir fürchten, dass wir auch von der jetzigen Opposition unterdrückt werden, wenn sie an die Macht kommt: Dann kommt zum Druck durch den arabischen Nationalismus auch noch der Druck durch die Islamisierung“, sagen die Kurdenvertreter Firaz und Sabri.

Wie stark die Muslimbruderschaft im Nationalkongress involviert ist, lässt sich nicht klar abschätzen. "Das Gremium wird von der Muslimbruderschaft dominiert, obwohl diese in Syrien selbst nur eine radikale Minderheit darstellt“, behauptet Farid Ghadry, Chef der Reformpartei Syriens, der vergangene Woche auf Einladung der Anti-Iran-Initiative "Stop the Bomb“ in Wien war.

"Es wird keine Machtübernahme der Islamisten geben“, widerspricht Revolutionskomitee-Mitglied Abu Fares. "Sie haben vielleicht ein Potenzial von zehn oder 20 Prozent, aber nicht mehr.“

Nicht ganz klar ist auch sein Verhältnis zur Freien Armee, die vom ehemaligen Luftwaffen-Oberst Riad Mousa al-Asaad angeführt wird. Asaad hat seine Kommandozentrale in einem Flüchtlingslager in der Türkei aufgeschlagen und verfügt nach eigenen Angaben über mehr als 20.000 Mann. Realistischerweise dürften es aber nur rund 3000 sein - auch, weil viele Deserteure ihre Waffen verkauft haben, um die Flucht in die Türkei zu finanzieren. In Städten wie Homs schirmt die Freie Armee Demonstranten vor Übergriffen ab. Unter den Kämpfern befinden sich aber auch syrische Irak-Veteranen, die mit Guerilla-Methoden gegen die Streitkräfte des Regimes vorgehen: etwa mit Sprengfallen, die an Straßen versteckt sind und auf Armeekonvois zielen.

Die wachsende Militanz in Teilen der Widerstandsbewegung lässt sich auch daran ablesen, dass die Preise auf dem türkischen Waffenmarkt wegen starker Nachfrage immer weiter steigen: Eine Kalaschnikow AK-47, vor Beginn des Aufstands um 900 Dollar erhältlich, kostet mittlerweile 2000 Dollar und eine Patrone zwei Dollar. Zudem tauchen vermehrt moderne Kriegswaffen auf. Auch mit den kampferprobten Milizionären der libyschen Rebellen-Hochburg Misrata dürften die Syrer bereits Kontakt unterhalten.

Das droht allerdings die pazifistische Linie des Nationalkongresses zu konterkarieren. "Unser größtes Bestreben ist, dass alles friedlich abläuft“, beteuert deshalb Abu Fares. "Das ist unser Ziel, und es ist möglich, das zu erreichen.“

Diktator mit Ablaufdatum

Die Brutalität, mit der Assads Sicherheitsapparat gegen den Aufstand vorgeht, mag als Demonstration der Stärke gedacht sein - kann Zerfallserscheinungen des Regimes allerdings nicht kaschieren.

Neben regulären Truppen und Sondereinheiten der Geheimdienste hält sich das Regime die so genannten Shabiha-Milizen: Schlägertrupps in Zivil, die prügeln, vergewaltigen und morden. Erkennbar sind sie an ihren Transportmitteln, zumeist weiße Reisebusse, und an den Turnschuhen, die sie tragen. Um Asaads Freie Armee zu desavouieren, geben sich Shabiha-Leute manchmal auch als Deserteure aus und terrorisieren die Bevölkerung.

All das kostet: 1000 syrische Pfund - umgerechnet 16 Euro - pro Tag bekommen Mitglieder der Shabiha-Milizen für ihr blutiges Handwerk. Dazu kommt noch der Sold für die rund 400.000 Soldaten und Sicherheitskräfte, die Assad unter Waffen hält, und der Treibstoff für die Militäroperationen.

Mittlerweile scheint Assad das Bargeld knapp zu werden: Er lässt im befreundeten Ausland in rauen Mengen 500er-Noten drucken, die außerhalb von Syrien allerdings keine Wechselstube akzeptiert. Währenddessen bringen Regimeangehörige und andere Wohlhabende vor allem vom Flughafen Aleppo aus kofferweise "echte“ Scheine nach Teheran, Dubai oder Moskau in Sicherheit. Inzwischen wertet das syrische Pfund immer weiter ab. Seit Beginn der Unruhen hat es 35 Prozent verloren. Es dürfte die syrische Notenbank an die 500 Millionen Dollar im Monat kosten, den Zusammenbruch der Währung zu verhindern: Bei geschätzten Reserven von 17 Milliarden Dollar ist das desaströs.

Noch kann sich Assad auf die Unterstützung des Iran verlassen. Aber auch das Mullah-Regime muss inzwischen abwägen, ob es sich damit nicht selbst einen irreparablen Imageschaden zufügt. "Da der Iran das Regime von Assad aktiv unterstützt, wird er in der muslimischen Welt als Land wahrgenommen, das in die Tötung von Sunniten verwickelt ist“, sagt Farid Ghadry von der Reformpartei.

"Wenn die Sanktionen der Arabischen Liga durchgehalten werden, hat Assad vielleicht noch sechs Monate“, analysiert Abu Fares. "Der äußere Zirkel des Systems - Beamte und Alawiten in gehobenen Positionen - ist jedenfalls definitiv am Zerbröckeln.“

In den vergangenen Tagen dürfte auch die Zahl von Demonstrationen in Aleppo zugenommen haben. "Das Endspiel beginnt, wenn wir von Kämpfen in dieser Stadt hören“, prophezeit Ghadry, der selbst von dort stammt. "Aleppo ist der Schlüssel, weit mehr als Damaskus.“


*Karte von Syrien:
Aktive Protestaktionen werden blau markiert. Rot markierte Städte stehen unter Angriff.