Nachrichten aus der Hölle

Reportage. Tausende Flüchtlinge stecken im Niemandsland zwischen Syrien und der Türkei fest

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Von Gunther Müller, Antakya/Türkei

livenhaine und Kiefernbäume, Hirtenjungen, die ihre Schafherden und Pferde vor sich her treiben, einsame Felder, soweit das Auge reicht: Man könnte die Gegend fast als idyllisch bezeichnen, wenn unten im Tal nicht diese Straße die Hügelkette spalten würde. Der Asphaltstreifen trennt zwei Länder voneinander – und derzeit auch zwei Welten: hier die Türkei, dort Syrien.

Hier ist Frieden, dort Krieg.
Erst auf den zweiten Blick fallen die blauen Zeltplanen auf der anderen Seite der Grenze auf. Über 2000 Menschen sollen es mittlerweile sein, die vor der Armee von Präsident Bashar al-Assad hierher geflüchtet sind. Die notdürftigen Verschläge, in denen sie Schutz suchen, befinden sich noch auf syrischem Territorium – sollten die Truppen, denen Massaker gegen die Zivilbevölkerung vorgeworfen werden, bis hierher vorrücken, müssen die Flüchtlinge nur über die Straße laufen, um sich in Sicherheit zu bringen.

„Sie haben Angst, aber daneben macht vor allem den Alten der Regen und die Kälte in der Nacht zu schaffen“, erzählt ein Mann, der einmal täglich Decken und Essensvorräte mit einem Kleinlastwagen vorbeibringt. Eigentlich müsste keiner der Syrer dort unten auf den Feldern dahinvegetieren. Die Türkei hat sich bereit erklärt, jeden Flüchtling aus dem Nachbarland aufzunehmen, der Rote Halbmond betreibt gut organisierte Camps auf der türkischen Seite. Aber viele Menschen bleiben lieber drüben: manche, weil sie ihr Vieh nicht in die Lager mitnehmen dürfen; andere, weil sie lieber im eigenen Land ausharren wollen, bis das Grauen ein Ende hat.

Wann es so weit ist? Niemand kann es sagen.
Güvecci ist ein 500-Seelen-Bergdorf am südwestlichsten Zipfel der Türkei. Zu Fuß brauchte man von hier gute 20 Minuten zum Flüchtlingslager an der Grenze – theoretisch. Schmuggler aus Güvecci bieten für 700 türkische Lire (umgerechnet rund 350 Euro) an, Journalisten über Geheimwege zum Lager zu begleiten. „Vertrau mir, ich kenne die Gegend, ich weiß, wie wir unentdeckt bleiben. Wir brauchen etwa zwei Stunden“, sagen sie und feilschen um den Preis.

Viele zahlen und gehen mit, nur wenige schaffen es bis zu den blauen Plastikplanen. Die türkischen Grenzpolizisten haben das gesamte Gebiet gesperrt und Wachposten aufgestellt, dreimal so viele wie sonst. „Niemand hat hier Zugang. Verschwindet!“, fauchen die mit Maschinengewehren bewaffneten Soldaten Reporter an, die versuchen, offizielle Grenzposten zu umgehen und querfeldein zu dem Lager zu gelangen.

Die Kinder, die immer wieder aus dem Lager ins Dorf kommen, um Brot, Wasser und Tomaten für ihre Familien zu kaufen und mit Verwandten zu plaudern, dürfen hingegen problemlos passieren.

Mohammed zum Beispiel, ein dürrer Junge mit tiefen Schürfwunden im Gesicht, einem Verband auf der Stirn und einem am linken Handgelenk, taucht jeden Vormittag in Güvecci auf. Mit ein paar Freunden steht er auf einem Schotterfeld, sie spielen Fußball, eine leere Wasserflasche muss als Ball herhalten.

Der Tennager kommt aus einem kleinen Dorf, das wenige Kilometer hinter der Grenze liegt. „Ich lebe mit meinen beiden Schwestern und meinen Eltern seit zehn Tagen unten im Camp. Wenn Assads Soldaten kommen, werden wir einfach in die Türkei hinüberlaufen. Mein Vater glaubt, dass es in den nächsten Tagen so weit ist. Niemand traut sich, in das Dorf zurückzugehen“, sagt er.

Der Nordwesten Syriens galt bislang als sicherer Hafen für Flüchtlinge. Assad würde es nicht wagen, seine Truppen Richtung Grenze vorrücken zu lassen und die Türkei, die ihm erst vor Kurzem die Freundschaft aufgekündigt hat, noch weiter zu reizen – das hieß es bisher. Vergangene Woche aber sollen syrische Truppen bei der Bekämpfung des Aufstands bis auf 20 Kilometer an türkisches Staatsgebiet herangekommen sein.

Syrien steht im dritten Monat einer blutigen Revolte gegen die Herrschaft von Diktator Bashar al-Assad. Ein Ende ist nicht in Sicht. Kein Zerbrechen des Re­gimes zeichnet sich ab, keine Zermürbung der Macht seines Clans. Aber auch die ­Rebellion erlahmt nicht, obwohl jede ­Demonstration – und sei sie noch so friedlich – grausam niedergeschlagen wird.

Am bislang schlimmsten ging es vor knapp zwei Wochen in der nördlichen Rebellenhochburg Dschisir al-Schugur zu. Assad ließ die Stadt mit Panzern beschießen und von Kampfflugzeugen bombardieren – angeblich aus Rache dafür, dass die Rebellen 120 syrische Polizisten und Soldaten ermordet hatten.

Ein paar Kilometer westlich von Dschisir al-Schugur, kurz vor der Grenze zur Türkei, liegt die Siedlung Khirbet al-Jouz. Dass Assads Armee in den Norden vorrückt, machte dort vor zwei Wochen in den umliegenden Dörfern schnell die Runde. Daraufhin floh Mohammeds Familie in das provisorische Flüchtlingslager auf der syrischen Seite der Grenze.

Er selbst aber, erzählt der Junge, sei ohne Erlaubnis der Eltern mit dem Bus nach Dschisir al-Schugur gefahren, um seine dort lebenden Großeltern in Sicherheit zu bringen. Inzwischen hätten Assads Truppen bereits damit begonnen, die Stadt unter Beschuss zu nehmen. „Als ich im Haus der Großeltern ankam, habe ich sie blutüberströmt am Boden liegen sehen“, sagt Mohammed mit zitternder Stimme.

Wie er überleben konnte, weiß der Junge nicht mehr. Nur noch das: Er hörte einen furchtbar lauten Knall, hielt sich die Ohren zu, dann wurde er ohnmächtig. „Irgendwer hat mich wohl mitgenommen … aber ich will jetzt nicht mehr reden“, sagt Mohammed und läuft zurück auf das Schotterfeld, um weiterzuspielen.

Während Mohammeds Familie immer noch auf der syrischen Seite der Grenze ausharrt, sind die meisten Flüchtlinge in den vergangenen Wochen in die Türkei geflohen. Dort wurden sie vom türkischen Militär aufgeschnappt und in eines der drei staatlichen Flüchtlingslager von Yayladagi gebracht. In dieser Kreisstadt, die nur ein paar Minuten Autofahrt von Güvecci entfernt ist, sind mittlerweile an die 10.000 Vertriebene untergebracht. Eine alte Tabakfabrik wurde zu einem Auffanglager umfunktioniert, hier sollen bereits rund 5000 Menschen leben.

Yasar Elagöz ist Besitzer eines kleinen Supermarkts und Muhtar (so nennt man in der Türkei gewählte Bezirksvorsteher) in Yayladagi. „Es ist schon seltsam“, sagt Elagöz, „Tausende syrische Flüchtlinge sind plötzlich hier, und niemand von uns bekommt etwas mit. Wir nehmen sie einfach nicht wahr, weil sie in diesen Camps still vor sich hin leben und keinen Kontakt zur Außenwelt haben.“ Hat man in Yayladagi gar keine Angst vor den Flüchtlingen? „Nein“, sagt Elagöz, „die meisten hier leben vom Handel mit Syrien, viele haben Verwandte in den Lagern, Angst hat niemand, vielmehr Mitleid, wir wollen ihnen helfen.“

Die türkischen Behörden haben die Flüchtlingslager abgeschirmt, an jedem Eingang stehen bewaffnete Polizisten, die lästige Reporter abwimmeln. Der Zaun rund um das Gelände wurde mit Plastikplanen abgedeckt. Neben dem Eingangstor des Lagers füllt ein Mann in einem grauen Kaftan gerade seine Wasserflasche auf. Er ist um die 50 Jahre alt und sagt, er komme aus Dschisir al-Schugur und habe noch nie an Demonstrationen gegen Assad teilgenommen.

Wie es den Flüchtlingen hier geht?
„Die türkischen Helfer behandeln einen hier gut. Aber langsam wird es wirklich eng. Oft kann man tagelang keine Wäsche waschen, abends wird das Wasser knapp.“ Was hält er von Assad? „Ein schwacher Mensch, aber ein guter.“

Plötzlich erhebt er seine Stimme:
„Glauben Sie mir, die Soldaten haben uns dort alle abgemetzelt wie kranke Esel, Hunderte sind gestorben, auch viele Freunde und Nachbarn.“ Mit den Panzern seien sie die Straßen entlanggefahren und hätten einfach in die Häuser hineingeschossen. Dann deutet er auf sein linkes Auge: „Sagen Sie das der Welt: In meiner Stadt waren auch iranische Milizen, ich habe sie gesehen, ich schwöre es. Die Iraner helfen dem syrischen Militär!“

Iranische Milizen in syrischen Städten, Massenhinrichtungen, Tausende Tote – viele Geschichten aus Syrien gehen in dieser Gegend um: Irgendwo in Yayladagi soll ein Mann Unterschlupf gefunden haben, dem das syrische Militär zehn Schüsse in den Oberkörper verpasste, erzählt ein Gast in einem kleinen Restaurant. In Güvecci berichtet ein anderer von Massenselbstverbrennungen syrischer Rebellen in der Hafenstadt Daraa.
Ob diese Erzählungen stimmen, maßlos übertrieben oder überhaupt frei erfunden sind, ist kaum zu überprüfen. Ausländische Reporter wurden des Landes verwiesen, kritische syrische Medien gibt es nicht. Viele Nachrichten beruhen auf Augenzeugenberichten, Facebook- und Twitter-Meldungen.
Ein Mann, der sich die Mühe macht, Lügenmärchen von Wahrheiten zu trennen, und die Angriffe des syrischen Militärs gegen die Rebellen dokumentiert, ist Abdel Hafiz Abdul al-Rahman, Vorstandsmitglied der syrischen Menschenrechtsorganisation MAF. Al-Rahman lebt derzeit in der Stadt Antakya, Hauptstadt der Provinz Hatay, eine gute Autostunde von der syrischen Grenze entfernt. Von hier aus versucht er, die Arbeit von MAF zu koordinieren – und die Informationen zu überprüfen, die aus dem abgeschotteten Land herausdringen.

Wenn ihm jemand von Hunderten Toten erzählt, weiß er zunächst nur, dass offenbar etwas Ernstes passiert ist: „Ich rufe dann mehrere verlässliche Leute vor Ort an, koordiniere mich mit den UN und anderen Menschenrechtsorganisationen, um genaue Zahlen über Tote und Verwundete zu bekommen.“ Bislang seien seit Ausbruch der Revolte über 1500 Menschen ums Leben gekommen, knapp 10.000 sind bis heute vermisst. „Ich gehe davon aus, dass zumindest ein Drittel der Vermissten tot ist, ein Großteil sitzt wohl im Gefängnis“, sagt al-Rahman.

Auch über die mysteriösen Ereignisse in Dschisir al-Schugur vor knapp zwei Wochen hat sich al-Rahman genau informiert, sogar bei Angehörigen der Armee. Offensichtlich stimmt es, dass in der Stadt 120 Soldaten und Polizisten ums Leben gekommen sind – allerdings nicht durch die Hand von Rebellen: „Meinen Informationen zufolge haben einige Soldaten Schießbefehle verweigert, daraufhin kam es zu Gefechten zwischen Soldaten und Polizei – sie haben sich gegenseitig umgebracht.“

Es ist Donnerstagmittag, im Grenzdorf Güvecci ist gerade Ibrahim angekommen, ein 33-jähriger, groß gewachsener Mann mit Vollbart und zerschlissenen Jeans. Ibrahim ist mit seiner Frau und seinen zwei Kindern aus der Küstenstadt Latakia vor Assads Truppen geflohen. „Ich habe an Demons­trationen teilgenommen, sie haben einfach in die Menge geschossen. Dann sind wir, ohne etwas mitzunehmen, in die Türkei geflohen“, berichtet er.

Seit zwei Wochen lebt Ibrahim unten an der Grenze, die Familie hingegen ist im staatlichen Flüchtlingslager von Yayladagi untergebracht. „Anfangs waren wir zusammen. Ich habe den Behörden aber gesagt, dass ich freiwillig wieder nach Syrien zurückgehen möchte, also haben sie mich gehen lassen“, sagt Ibrahim. Es will seinen Landsleuten helfen, Verwundete versorgen und Essen ins Lager an der syrischen Grenze mitbringen. „Offiziell darf ich nicht hinüber, ich muss Umwege gehen“, sagt Ibrahim.

„Auch dort unten ist es gefährlich. Das Militär braucht bloß von den Hügeln nach unten zu schießen, sie müssen gar nicht bis ins Tal kommen. Diese Leute haben unsere Felder verbrannt, unsere Frauen vergewaltigt, sie sind zu allem bereit.“

Am Schotterfeld stehen heute wieder ein paar Kinder. Auch Mohammed ist dabei. Es geht ein Gerücht um: Der Hollywoodstar Angelina Jolie soll in der Gegend sein, um als Botschafterin des UN-Flüchtlingshilfswerks Unicef-Flüchtlinge zu besuchen. Was Mohammed denn davon halte, fragt ein Fernsehjournalist den Jungen.

Mohammed, der von Angelina Jolie offensichtlich noch nie gehört hat, blickt kurz zu Boden. Dann sagt er: „Ja, das ist toll, sie wird uns sicher helfen.“