Der tausendjährige Krieg

Syrien: Der tausendjährige Krieg

Syrien. Vom Westen unbemerkt, führt die muslimische Welt einen brutalen Kampf - gegen sich selbst

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Vielleicht glaubte Ammar al-Dadikhli sogar noch, einen guten Fang gemacht zu haben - aber in Wahrheit war der syrische Rebellenführer im Begriff, sich massive Probleme einzuhandeln, als er im vergangenen Sommer elf Pilger aus dem Libanon zu Geiseln nahm.

Al-Dadikhli kommandiert die "Nördliche Sturmbrigade“: eine Miliz, die in der Provinz Aleppo gegen das Regime von Diktator Bashar al-Assad kämpft. Und er hatte vor, seine unfreiwilligen Gäste als Faustpfand zu benutzen, um die Hisbollah unter Druck zu setzen: jene radikal-islamische Organisation, die Assad vom Libanon aus unterstützt.

Schon dieser Plan erwies sich als reichlich naiv. Denn die Hisbollah dachte gar nicht daran, auf al-Dadikhlis Forderungen einzugehen, sondern kidnappte stattdessen 20 Syrer und zwei Türken. Noch naiver war nur die Annahme des Rebellen, aus der Sache herauszukommen, indem er ankündigte, seine Geiseln freizulassen.

Das brachte ihn erst so richtig in die Bredouille: Die Pilger sind schiitische Muslime. "Wir bekamen Drohungen von sunnitischen Extremisten im Libanon, Irak und in Syrien“, klagte al-Dadikhli kürzlich in einem Interview. Wenn er die Schiiten nicht töte, sei er selbst ein toter Mann.

Unversehens war al-Dadikhli bei seinem glücklosen taktischen Manöver von einem nationalen Aufstand direkt in einen religiösen Weltkrieg hineingeraten: jenen zwischen Sunniten und Schiiten. Der Kampf der beiden verfeindeten islamischen Glaubensrichtungen hat im Nahen Osten, auf der Arabischen Halbinsel, in Zentralasien und sogar im pazifischen Raum in den vergangenen Jahren bis zu 30.000 Todesopfer gefordert - und relativiert damit die Vorstellung, die muslimische Welt sei hauptsächlich damit beschäftigt, einen Feldzug gegen den Westen zu führen.

Es ist ein uralter Konflikt, der im Lauf der Jahrhunderte öfter bereits glücklich in Vergessenheit geraten zu sein schien. Dass er dennoch immer wieder aufflammen kann, liegt nicht nur an der großen Zahl von Glaubensfanatikern in muslimischen Gesellschaften, sondern auch an der Bereitschaft der jeweiligen Machthaber, diese skrupellos zu instrumentalisieren.

Nun droht, ausgehend von Syrien, eine weitere Eskalation: Zuletzt haben sich die Fronten entlang der konfessionellen Bruchlinien merklich verhärtet. Das lässt befürchten, dass die Auseinandersetzung auf benachbarte Länder wie den Libanon und den Irak übergreift, die beide eine ähnliche Vorgeschichte religiös motivierter Gewalt haben - wenn nicht sogar darüber hinaus.

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Alles begann mit einem Mord: Im Jahr 661 wurde die Frage, wer der legitime Nachfolger des drei Jahrzehnte zuvor verstorbenen Propheten Mohammed sei, mit einem vergifteten Dolch beantwortet. Das Opfer war Ali, der Schwiegersohn des Religionsgründers. Aus seiner Anhängerschaft gingen die Schiiten hervor, die heute rund 15 Prozent der Muslime ausmachen (siehe Kasten links).

Der Antagonismus zu den Sunniten, die immer eindeutig in der Mehrheit waren, ist seitdem nie mehr verschwunden, trat phasenweise allerdings komplett in den Hintergrund. So etwa während der Blütezeit des arabischen Nationalismus, die auf die Entkolonialisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgte. Das änderte sich mit der iranischen Revolution, die 1979 das dezidiert schiitische Mullah-Regime hervorbrachte. Sein Führer, Ayatollah Ruhollah Khomeini, wandte sich zudem gegen das sunnitische Saudi-Arabien, dessen Königshaus er als "korrupte Diktatur“ geißelte. Damit war der Grundstein für eine Staatsfeindschaft gelegt, in deren Bann die Region bis heute steht - und die auch im Syrien-Konflikt eine wichtige Rolle spielt. Die gegenseitige Abneigung beruht aber auch darauf, dass die offizielle Islam-Interpretation des saudischen Königreichs auf den Gelehrten Muhammad ibn Abd al-Wahhab zurückgeht, der im 18. Jahrhundert postulierte, die Schiiten seien gar keine Muslime, sondern übelste Häretiker.

Das Pech der Schiiten: Sie sind zum einen bei den mächtigen und finanzkräftigen Wahhabiten verhasst, zum anderen auch im Westen miserabel beleumundet. Dort werden sie spätestens seit der Besetzung der US-Botschaft in Teheran durch radikalislamische Studenten im Jahr 1979 gedanklich mit dem iranischen Mullah-Regime gleichgesetzt.

Dabei waren es meistens die Schiiten, denen übel mitgespielt wurde: 1980 ließ der irakische Diktator Saddam Hussein, ein Sunnit, seine Truppen im Iran einmarschieren, um an die dort liegenden Ölfelder heranzukommen. Als er damit gescheitert war, verstärkte er nicht zuletzt aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen die Repression gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak.

Nach dem zweiten Golfkrieg 1990 erging es ihnen nicht viel besser: Damals wurden sie von den USA erst zum Aufstand ermutigt, dann aber im Stich gelassen und einer Strafexpedition von Saddams Truppen ausgeliefert. Die Bilanz: bis zu 60.000 Todesopfer.

15 Jahre später nahmen die irakischen Schiiten furchtbare Rache dafür. Mit dem Sturz von Saddam durch die US-Invasion ab 2003 endete im Irak auch die Herrschaft der sunnitischen Stämme. Es folgte ein brutaler Bürgerkrieg, der seinen Höhepunkt in den Jahren 2006 und 2007 erreichte. Damals kamen bei interkonfessionellen Auseinandersetzungen mehr als 20.000 Menschen zu Tode und in der Folge die Schiiten an die Regierung. Sie gebieten heute über ein Land, in dem es kaum mehr Wohngebiete gibt, die nicht konfessionell getrennt sind.

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Es sind Meldungen, die in der westlichen Welt kaum wahrgenommen werden.

5. Oktober, Pakistan: Zwei Teenager sterben in der Stadt Quetta auf offener Straße durch Schüsse, weil sie irrtümlich für Schiiten gehalten werden.

27. September, Saudi-Arabien: Polizisten erschießen bei einer Razzia zwei Schiiten, die unter Verdacht stehen, Anschläge gegen Sicherheitskräfte zu organisieren.

23. September, Jemen: Schiitische Rebellen beschießen im Norden des Landes eine Moschee mit Granaten. Bei den darauf folgenden Kämpfen mit Sunniten kommen zwölf Menschen ums Leben.

10. September, Pakistan: Zwölf Schiiten sterben bei der Explosion einer Autobombe auf einem Markt in Parachinar in der Region Khurram nahe der afghanischen Grenze. In derselben Stadt hat im Februar bereits ein Selbstmordattentäter 23 Schiiten getötet.

9. September, Irak: Eine Bombenserie fordert mehr als 100 Menschenleben. Die Anschläge sind eine Reaktion auf das Todesurteil gegen den ehemaligen Vizepräsidenten Tarek al-Hashemi. Der Sunnit ist schuldig gesprochen worden, antischiitische Todesschwadronen kommandiert zu haben.

29. August, Bahrain: Bei Demonstrationen Tausender Schiiten gegen ihre Diskriminierung durch das sunnitische Königshaus feuert die Polizei in die Menge und tötet einen 17-Jährigen.

26. August, Indonesien: Bei einem Angriff auf 280 Schiiten werden zwei Menschen mit Macheten getötet und 48 Häuser, 33 Moscheen sowie 28 Kuhställe niedergebrannt.

Die Gewalt führt dazu, dass immer mehr Schiiten aus Pakistan, Afghanistan, Saudi-Arabien, Bahrain und auch dem Irak flüchten, nicht nur nach Europa und in die USA: Im Juni ertranken 90 pakistanische Muslime nahe den Weihnachtsinseln im Indischen Ozean. Sie stammten aus Khurram und hatten versucht, auf einem Seelenverkäufer nach Australien überzusetzen.

Die Flüchtlingswelle führt auch dazu, dass sich die Gegensätze zwischen den Muslimen in der Diaspora verschärfen. In den USA etwa hatten Sunniten und Schiiten bis vor zwei Jahrzehnten gemeinsam in Moscheen gebetet - Letztere waren zu wenig zahlreich und sozial zu unterprivilegiert, um sich eigene Gebetshäuser zu leisten. Inzwischen ist das anders. Laut der Studie "The American Mosque 2011“ gibt es in den USA 2100 Moscheen. Sieben Prozent davon sind schiitisch, die meisten wurden seit Anfang der neunziger Jahre errichtet.

"In London gibt es noch sunnitische Moscheen, in denen auch Schiiten willkommen sind“, erzählt Usama Hasan, ein ehemaliger Islamist, der nun für den ersten Antiextremismus-Thinktank Großbritanniens arbeitet (siehe Interview links). "Doch im Prinzip hat jede Strömung ihre eigenen Gebetshäuser. In den meisten islamischen Ländern ist es noch extremer als hier.“

Es scheint sich auch nicht zu ändern. Laut einer Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts PEW betrachten mehr als die Hälfte der Muslime in Ägypten und Marokko Schiiten als Ungläubige. In Jordanien, Tunesien und den Palästinensergebieten vertreten über 40 Prozent der Bevölkerung diese Meinung.

Und in Indonesien propagierte Religionsminister Suryadharma Ali kürzlich ein ganz einfaches Mittel gegen religiöse Übergriffe, nämlich "die Bekehrung von Schiiten zum sunnitischen Islam, dem die meisten Indonesier folgen“.

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Eigentlich sind sie gar nicht das, was strenggläubige Schiiten als ihresgleichen betrachten: Die Alawiten, denen der innerste Kreis des Assad-Regimes angehört, verehren zwar Ali, den ermordeten Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Abgesehen davon folgen sie aber ihren eigenen Regeln als Geheimsekte, deren Ursprünge in die präislamische Zeit des zweiten und dritten Jahrhunderts zurückgehen.

Dennoch ist der Machtkampf um Syrien in den vergangenen Monaten immer mehr zum Stellvertreterkrieg zwischen Schiiten und Sunniten ausgeartet. Das hat weniger religiöse Gründe als vielmehr strategische: Es geht um die Vorherrschaft in der Region. Bevor das Assad-Regime ins Wanken geriet, sah sich der Iran unmittelbar vor der Erfüllung eines lang gehegten Traums: einer geschlossenen Einflusssphäre, die vom Libanon mit seiner schiitischen Hisbollah über Syrien und den ebenfalls schiitisch regierten Irak bis an die Grenzen zu Afghanistan reicht.

Fällt der Diktator von Damaskus, ist es damit vorbei.

Saudi-Arabien wiederum hat genau daran höchstes Interesse - und unterstützt deshalb gemeinsam mit dem ebenfalls sunnitischen Katar die syrischen Rebellen. Auch Ägypten, von der Muslimbruderschaft regiert, hat sich auf die Seite der Aufständischen geschlagen und Position gegen den Iran bezogen. Ähnlich die Türkei, deren Sympathien ebenfalls nicht bei den Schiiten liegen.

Die Vermischung von regionaler Realpolitik mit religiöser Radikalität birgt ein hohes Risiko. James Jeffrey, ehemaliger US-Botschafter im Irak, sieht in einem Beitrag für die "Washington Post“ die Gefahr, dass es "Syrien, dann den Irak und schließlich die ganze Region entlang konfessioneller Linien auseinanderreißt“ und ein grenzübergreifender Religionskrieg ausbricht, gegen den weder diplomatische noch militärische Mittel der internationalen Gemeinschaft helfen. Die unlängst geäußerte Drohung des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan, sein Land werde bei einem "Bruderkrieg im Irak sicher nicht tatenlos zusehen“, scheint diese Befürchtung zu bestätigen.

Inzwischen beschleicht auch Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani, als Emir von Katar verantwortlich für umfangreiche Hilfslieferungen an die syrischen Aufständischen, ein ungutes Gefühl: "Einen sunnitisch-schiitischen Krieg kann niemand gewinnen. Das Feuer wird überall brennen. Und das sollten wir um jeden Preis verhindern.“

Für den Rebellenkommandanten Ammar al-Dadikhli im Norden Syriens kommt diese Warnung allerdings zu spät. Er hat es noch immer nicht gewagt, seine Pilger freizulassen - und ist damit zum sunnitischen Gefangenen seiner schiitischen Geiseln geworden.