Terror in Europa -Tasten und Zugreifen

Tasten und Zugreifen

Alle vier Attentäter vom London sind gefaßt

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Graue Waschbetonplatten, braune Aufzugschächte, zugige, ungepflegte Treppenaufgänge – in Hochhäuser wie das Curtis House werden überall in Europa jene abgeschoben, die zu den Verlierern seiner Gesellschaft zählen. Ein Lokalblatt hat das 13-stöckige Gebäude im Nord-Londoner Stadtteil New Southgate schon vor Jahren „den kleinen Horror-Block“ getauft. Vandalismus und offener Drogenkonsum sind an der Tagesordnung. Im Jahr 2001 lag eine Frau erwürgt in der Kellergarage. Kürzlich stand ein leerer Sarg im Treppenhaus.

Im Februar 1999 zog der damals 18-jährige Yasin Hassan Omar in die Wohnung Nr. 58 im neunten Stock ein. Nachbarn beschreiben ihn als einen zornigen jungen Mann, „ein bisschen durchgeknallt“, sagt einer. Arbeit? Davon weiß keiner etwas. Aus den Unterlagen der Bezirksregierung geht hervor, dass Omar in den gut sechs Jahren seit seinem Einzug umgerechnet 55.000 Euro Sozialhilfe und Wohngeld vom Staat erhielt. Im Mai wurde die Sozialhilfe drastisch reduziert – wohl weil Omar hartnäckigen Jobangeboten vom Arbeitsamt aus dem Weg gegangen war.

Fehler. Seit Mittwoch vergangener Woche ist das triste Privatleben des Mannes, der als elternloses Flüchtlingskind 1992 aus Somalia nach Großbritannien kam, bis auf Weiteres zu Ende. Morgens gegen vier Uhr stürmte ein Spezialkommando der Polizei eine Wohnung in Birmingham, betäubte Omar mit einer Elektroschockpistole und nahm den steckbrieflich Gesuchten in Gewahrsam. Er ist jener Mann, der beim U-Bahnhof Warren Street mutmaßlich einen Zug der Victoria-Linie in die Luft sprengen wollte. Und es war der erste Erfolg der britischen Polizei bei der Jagd auf jene Terroristen, deren Anschläge auf die Londoner U-Bahn und einen Bus am 21. Juli fehlgeschlagen waren.
„Das waren keine Amateure“, warnte Polizeipräsident Sir Ian Blair. „Sie haben einen Fehler gemacht, und wir hatten großes Glück.“
Das Glück sollte sich fortsetzen. Am Freitag, in einer stundenlangen Großoperation, gingen der Polizei wahrscheinlich zwei weitere der vier gescheiterten Bomber ins Netz. In der Nobelgegend Notting Hill umstellte sie zwei Wohnblocks. „Was ist das Problem? Mohammed, kommen Sie heraus!“, riefen die Beamten, nachdem die Gegend großräumig abgesperrt worden war. „Ziehen Sie Ihre Kleider aus, und verlassen Sie das Gebäude!“ Eine Augenzeugin berichtete, der Verdächtige im Haus habe geweint. Nach Stand der Ermittlungen am Freitagabend soll es sich um Muktar „Mohammed“ Said Ibrahim handeln, der im Bus Nummer 26 eine Bombe zünden wollte. Ein zweiter Verhafteter soll der gescheiterte Attentäter von der U-Bahn-Station Oval sein.

Nur wenig später folgte der finale Schlag: In Rom verhaftete die italienische Polizei den gebürtigen Somalier Osman Hussain. Er soll mit jenem Gesuchten identisch sein, der seine Sprengladung in der Station Sheperd’s Bush zünden wollte.

Damit war das Quartett komplett. Es sei „der beste Tag seit dem 21. Juli gewesen“, verlautete am Ende dieser dramatischen Stunden aus Scotland Yard. Doch werden sich die vier Verhafteten im Verhör kooperativ zeigen? Oder wirres Zeug reden, wie Hassan Omar bisher?
Was der streng islamisch gekleidete junge Mann so im Alltag von sich gab, nahm in seiner Nachbarschaft kaum jemand ernst. Ali Dursun, Inhaber des Krämerladens „Second Broadway Food and Wine Store“, hörte sich Omars Sprüche meistens geduldig an. „Aber als er kurz nach dem 11. September hier reinkam und ein Loblied auf Osama Bin Laden sang, da hab ich ihn rausgeschmissen und sechs Monate nicht mehr in den Laden gelassen“, erzählt Dursun.

Nachbarn. Omar und sein Mitbewohner sowie mutmaßlicher Terrorgenosse Said Ibrahim, der als Kind mit seinen Eltern aus Eritrea nach London kam: Auch aus solchen Menschen besteht der multikulturelle Fleckenteppich, der London zur dynamischen, farbigen, aber eben auch gefährdeten Weltstadt macht. Als die Identität der Rucksack-Attentäter vom 7. Juli feststand, wurde die Herkunft der Täter beschrieben: aus den Ghettos Nordenglands, wo in den heruntergekommenen ehemaligen Industriestädten die Minderheiten in Isolation nebeneinander herleben. Was in vielen dieser Beschreibungen mitschwang, war ein Unterton – teils der Erleichterung, teils des Hochmuts –, den der Londoner Künstler Simon Faithfull so beschreibt: „Irgendwie dachte man: Hier bei uns, in der multikulturellen Weltmetropole, klappt die Integration besser. Bei uns gibt es solche
Fanatiker nicht.“

Mittlerweile brauchen die Londoner keinen Stadtplan mehr, um die Brennpunkte der Spurensuche zu identifizieren, die täglich in TV und Radio genannt werden. Wer regelmäßig den südlich gelegenen U-Bahnhof Tooting Broadway benutzt, ist dutzendfach an jenem Kebab-Laden vorbeigegangen, in dem vergangenen Donnerstag drei Männer festgenommen wurden. Liverpool Street, wo am Freitag zwei Frauen verhaftet wurden, die „traditionelles moslemisches Gewand“ trugen, liegt unmittelbar neben dem Finanzbezirk. Wo sonst inmitten der Menschenmassen kaum ein Durchkommen ist, herrschte während der Razzia stundenlang gespenstische Leere. Andere Londoner fahren regelmäßig durch die Farleigh Road im Nord-Londoner Stadtteil Stoke Newington. Dort wohnte Ibrahim, der seiner Nachbarin Samantha „schon immer ein bisschen verdächtig“ schien – jedenfalls sagt sie das jetzt.
Der Polizei war Ibrahim bekannt. Der verschüchterte Zwölfjährige aus Eritrea freundete sich auf der Gesamtschule in Edgware rasch mit anderen Außenseitern an. Mit seiner Gang überfiel er Jugendliche, bedrohte sie mit dem Messer und raubte sie aus. Von der Polizei gefasst und vor Gericht gestellt, erhielt er eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren. Zweieinhalb Jahre musste er Ende der neunziger Jahre verbüßen – offenbar genug Zeit für islamistische Hassprediger, um den verbitterten und verunsicherten jungen Mann unter ihre Fittiche zu nehmen. Zwar erhalten seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 radikale Imame keinen Zutritt mehr zu den Gefängnissen Ihrer Majestät. Es dauerte aber weitere anderthalb Jahre, bis etwa die notorische Moschee im Nord-Londoner Stadtteil Finsbury Park geschlossen wurde, wo Omar und Ibrahim dem Vernehmen nach Stammgäste gewesen waren.
Der wichtigste Prediger dort, Abu Hamza, durfte noch bis Mai 2004 frei herumlaufen. Und Ibrahim wurde, trotz seiner zwielichtigen Vergangenheit, erst vor zwei Jahren anstandslos die britische Staatsbürgerschaft verliehen.

Für diese Liberalität bekommt die bei französischen und arabischen Geheimdiensten lang als „Londonistan“ bezeichnete Stadt jetzt die Quittung. London wirkt dieser Tage wie im Belagerungszustand. In der Innenstadt patrouillieren bewaffnete Polizeistreifen. Auch auf den Bahnsteigen der wichtigsten U-Bahnhöfe gehören Uniformierte zur Routine, zusätzlich sind hunderte Zivilfahnder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs.

Alarm. Dabei kommt es immer wieder zu heiklen Situationen. Rund 250-mal, berichtete Polizeipräsident Blair vergangene Woche, hätten seine Beamten seit dem
7. Juli Alarm gegeben: Wir sind einem möglichen Selbstmordattentäter auf der Spur! Siebenmal zogen die Fahnder ihre Schusswaffen, zielten auf junge dunkelhäutige Männer – alle stellten sich als ebenso unschuldig heraus wie der Brasilianer Jean Charles de Menezes, 27, den ein Zivilbeamter am vorvergangenen Freitag mit acht Schüssen, davon sieben in den Kopf, tötete.

Der Elektriker hatte bei einer Kontrolle am Eingang zum U-Bahnhof panikartig die Flucht ergriffen und war zum Bahnsteig hinuntergerannt – ausgerechnet in Stockwell, von wo aus tags zuvor drei der nun verhafteten Attentäter zu ihrer Mission aufgebrochen waren. Einen möglichen Grund für das missverständliche Verhalten des Polizeiopfers veröffentlichte das Innenministerium: Menezes’ Visum war vor zwei Jahren abgelaufen.

Am Bahnhof in Stockwell liegen jetzt Blumensträuße für den Getöteten. Gut 200 Meter entfernt stellte die Polizei eine Erdgeschoßwohnung des Sozialwohnungsblocks Blair House auf den Kopf. Hier dürften sich drei der vier Attentäter vom 21. Juli am Morgen der Tat versammelt haben. Drei weibliche Angehörige des Wohnungsinhabers hat die Polizei wegen Fluchthilfe festgenommen, seine drei Kinder kamen in Gewahrsam. Gut möglich, dass die Polizei von diesen Verwandten die entscheidenden Hinweise auf den Verbleib der nun Verhafteten erhielt.
„Wenn ich mir vorstelle, dass unsere Kinder eben noch zusammen gespielt haben – und jetzt erfahre ich, dass er ein potenzieller Massenmörder ist – schrecklich“, sagt Nachbarin Anna Fernandes.
Der Psychologe Andrew Silke von der Universität Ost-London arbeitet derzeit an einem Buch über Selbstmordattentäter. Bei der Auswertung der Polizeiverhöre von 180 Mitgliedern von al-Qa’ida stieß Silke immer wieder auf das gleiche soziale Profil. Zwei Drittel hatten eine höhere Schule besucht, ein Zehntel sogar eine Universitätsausbildung abgeschlossen. 70 Prozent waren verheiratet und hatten Kinder. Silkes Fazit: „Al-Qa’ida kommt aus der Mittelschicht.“ Auch bei Selbstmordattentätern handle es sich nicht um Verrückte, sagt Silke, „sondern um Angehörige einer Gruppe, die ihre Mitglieder nach streng rationalen Kriterien einsetzt – als Kundschafter, als Bombenbauer oder eben als Selbstmörder“.

Sammeln. Bloß: Wer sind die Drahtzieher, die Planer, die Auftraggeber? Die Bemühungen von Scotland Yard konzentrieren sich derzeit auf Haroon Aswat, einen 30-jährigen Briten indischer Abstammung. Schon seit Längerem stand Aswat unter Beobachtung der amerikanischen Polizei – er soll 1999 im US-Bundesstaat Oregon versucht haben, ein Ausbildungslager für Terroristen aufzubauen. Mehr als 20-mal hatten die Attentäter vom 7. Juli Aswats Mobiltelefon angewählt. Zudem habe der Mann, so berichteten mehrere Londoner Blätter, am Morgen jenes verhängnisvollen Tages die Insel verlassen.

Ein in Pakistan festgenommener Mann gleichen Namens wurde wenig später wieder auf freien Fuß gesetzt. Erst am Donnerstag vergangener Woche meldete der US-Nachrichtensender CNN, Aswat sei den Zielfahndern im südafrikanischen Land Sambia ins Netz gegangen. Ob Aswat tatsächlich „der britische al-Qa’ida-Führer“ ist, wie britische Medien behaupten? „Das ist alles Spekulation“, wehrt Scotland Yard ab. Die Ermittler erhoffen sich von ihrem jüngsten Schlag mehr Klarheit: Denn anders als nach dem Attentat vom 7. Juli, bei dem alle vier Selbstmordattentäter starben, haben sie nun lebende Verdächtige in ihren Händen – die, von psychologisch gut geschulten Beamten verhört, über ihre Hintermänner auspacken könnten.
Unterdessen richten sich die Londoner auf ein Leben im Schatten des Terrors ein, und schon werden mit der Angst Geschäfte gemacht. In den Zeitungen erscheinen Anzeigen, die Überlebenspakete anbieten. Das „survival kit“ besteht aus einem Atemfilter, einer Taschenlampe und einer Trillerpfeife und passt in jede Brieftasche.

Auch die Politik reagiert. Ehe er in die Ferien verschwand, trommelte Premier Tony Blair noch die Vorsitzenden der Oppositionsparteien zu einem Anti-Terror-Gipfel zusammen. Schon im Herbst dürfte ein Gesetz in Kraft treten, das den Aufruf zum Terrorismus unter Strafe stellt. Innenminister Charles Clarke feilt zudem an einem Maßnahmenkatalog, der die Ausweisung radikaler Imame erleichtern soll.

Ängste. Umstritten ist hingegen die Forderung der Polizeichefs, Terrorverdächtige sollten zukünftig statt 14 Tage bis zu drei Monate lang ohne Anklageerhebung in Gewahrsam bleiben. Gegen diesen Plan hat die Opposition Bedenken und wird dabei von niemand Geringerem als der Frau des Premiers unterstützt. Eine übertriebene Reaktion auf die Bedrohung durch den Terrorismus, sagte Cherie Blair vergangenen Dienstag bei einem Vortrag in Malaysia, könnte „unsere wichtigsten rechtsstaatlichen Werte untergraben“.
Das Spezialgebiet der Kronanwältin ist die Menschenrechtsgesetzgebung.

Von Sebastian Borger, London, und Sibylle Hamann