Teilchenbeschleuniger

Teilchenbeschleuniger: über Gott und die Welt der Wissenschaft

Spiritualität. Alwin Schönberger über Gott und die Welt der Wissenschaft

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Es muss heftig an der Substanz zehren, Gott zu sein. Ständig wird man für alles Mögliche zur Verantwortung gezogen, selbst für Angelegenheiten, die definitiv nicht in den eigenen Zuständigkeitsbereich fallen. Wissenschaft zum Beispiel. Sie gilt zwar sozusagen als das Gegenteil von Religion, trotzdem wird man, wenn man Gott ist, permanent in die Pflicht genommen und muss wehrlos zusehen, wie man ohne Mitverschulden in öffentliche ­Debatten gerät – besonders dann, wenn fundamental neue ­Erkenntnisse aufs Tapet kommen, die einem irdischen Geist, einem Gehirn, wie es Milliarden von Menschen besitzen, offenkundig nicht zugetraut werden. Also bedarf es der Bemühung einer höheren Macht, die allein in der Lage wäre, das feine Räderwerk der Natur zu gestalten.
Kein Zweifel: Gäbe es eine Art Super-Nobelpreis für Allfälliges in der Wissenschaft, Gott könnte gleich eine Pendlerpauschale für Stockholm beantragen.

Maximierung sachlichen Unfugs
Das Jahr 2012 bot zahlreiche eindrucksvolle Anschauungsbeispiele. Speziell stach Anfang Juli die Begeisterung über das so genannte Higgs-Boson ins Auge. Dabei handelt es sich um ein Elementarteilchen, das der Physiker Peter Higgs 1964 postulierte, dessen experimenteller Nachweis aber fast ein halbes Jahrhundert auf sich warten ließ. Am 4. Juli dieses Jahres schließlich gab das europäische Teilchenforschungszentrum CERN bekannt, das meistgesuchte Partikel unserer Tage mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgespürt zu haben. Das war ein aus wissenschaftlicher Sicht bedeutsames Ereignis, wurde allerdings ein wenig von der Tatsache überschattet, dass annähernd alle Erdenbürger über die Entdeckung des „Gottesteilchens“ zu jubeln schienen.
Dieses Attribut ist nicht nur in der Tendenz unzutreffend, sondern gewissermaßen die absolute denkbare Maximierung sachlichen Unfugs.
Denn, erstens: Wie oft, wenn die Dinge ins Spirituelle abgleiten, schwächelt schon die vermeintlich große Story dahinter. Im Wesentlichen beruht die Namensgebung auf einem – nach heutigem Kenntnisstand – folgenschweren Missgeschick. Im Jahr 1993 schrieb der Physiker und Nobelpreisträger Leon Max Lederman ein Buch über die Suche nach dem Higgs-Boson und gab ihm den schön mehrdeutigen Titel „The Goddamned Particle“ – im Sinne von: blödes Teilchen, das sich so heimtückisch vor uns versteckt. Insider berichten, der Verlag habe die Überschrift für zu flapsig befunden. Übrig blieb: „The God Particle“. Seit damals schwärmt alle Welt vom Gottesteilchen – von Wissenschaftern natürlich abgesehen, die den Terminus niemals benutzen, Lederman übrigens inklusive.
Und zweitens: Das Higgs-Boson ist nicht nur kein Gottesteilchen, es ist im Prinzip exakt dessen Widerpart, nämlich der Beweis, dass wir Gott künftig weder mit Fragen der Quantenphysik behelligen noch ihm die Schöpfung des ganzen Universums umhängen müssen. Physikalisch betrachtet, verleiht das Higgs-Teilchen anderen Materiebausteinen ihre Masse und liefert die Erklärung dafür, warum der Kosmos nicht nur aus Energie besteht, sondern glücklicherweise auch aus Materie. Darüber dürfen wir uns uneingeschränkt freuen, denn verhielte es sich anders, würden wir mit höchster Wahrscheinlichkeit gar nicht existieren. Daraus ergibt sich, dass die Entdeckung des Higgs-Bosons „eine neue Geschichte unserer Schöpfung“ liefert, wie der US-Physiker Lawrence M. Krauss argumentiert. Gerade der Gottesbegriff werde dadurch obsolet. „Wenn wir die Gesetze der Natur zurück bis zu den Anfängen der Zeit beschreiben können, wird klar ersichtlich, dass wir Gott nicht brauchen“, so Krauss im Magazin „Newsweek“.

Hartnäckiges „Gottesteilchen“
Obwohl diese Zusammenhänge bekannt sind und stets evident war, dass Higgs und Herrgott beim besten Willen nicht in dasselbe Denkmodell passen, hält sich der Begriff „Gottesteilchen“ hartnäckig. Selbst die hellsten Köpfe mussten zur Kenntnis nehmen, dass ihnen zu Unrecht übertriebene Gottesaffinität unterschoben wurde – vielleicht weil viele Menschen sich ungern damit abfinden, dass andere erheblich klüger sind.
Prominentestes Beispiel: Albert Einstein. Zeit seines Lebens und erst recht in den 57 Jahren nach seinem Tod wurde ihm hartnäckig ein besonderer Draht nach oben unterstellt (oder, wie auch heuer wieder, versucht, neuronale Besonderheiten in seinem konservierten Gehirn nachzuweisen). Die vermeintliche Gottbezogenheit des Begründers der Relativitätstheorie wurde mit allerlei Zitaten „belegt“. Der Herrgott sei raffiniert, aber nicht boshaft, soll er etwa gesagt haben – oder, fast jedem Volksschüler geläufig: „Gott würfelt nicht.“
Nur leider hatten derlei Ansagen mit Religiosität nichts zu tun. Einstein, der launige Formulierungen durchaus schätzte, benutzte den Gottesbegriff als Bild, um entweder zum Ausdruck zu bringen, dass sich große Fragen der Physik seinem Verständnis noch entzogen, oder um seine Überzeugung zu unterstreichen, wonach in den Naturgesetzen eine vollkommene Ordnung herrsche. Dass „der Alte“ (wie er Gott gern nannte) nicht würfle, sollte bedeuten: Einstein lehnte den Ansatz der Quantenmechanik ab, in welcher Zufall ein geradezu konstituierendes Prinzip ist.

Zum Glück gibt es eine Fülle an Zitaten Einsteins, die seine Haltung zum Glauben recht unmissverständlich dokumentieren. Kostprobe: „Nicht nur habe ich keinen Glauben an einen persönlichen Gott, sondern solcher Glaube erscheint mir geradezu kindlich“, schrieb er in einem Brief 1952. Anschließend führt er aus, dass ihm allerdings das mühevolle geistige Ringen um ein Verständnis der Welt eine Demut abnötige, „die zum mindesten verwandt ist mit einem religiösen Gefühl“.
Im vergangenen Oktober gelangte auf der Auktionsplattform eBay ein Brief Einsteins an den Philosophen Erich Gutkind aus dem Jahr 1954 zur Versteigerung, in dem auch der Glaube thematisiert wurde. „Das Wort Gott ist für mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen“, schrieb Einstein. Die Bibel sei „eine Sammlung ehrwürdiger, aber doch primitiver Legenden“.
Vor diesem Hintergrund verliehen der Ratio verpflichtete Geister ihrer Hoffnung Ausdruck, dass Einstein nun endlich aus der Geiselhaft der Gottesfürchtigkeit entlassen werde. Allzu viel Optimismus ist jedoch nicht angebracht, denn im abgelaufenen Jahr gab es auch Kräfte, die sich redlich mühten, der Vernunft nicht vollends die Oberhand zu überlassen – bezeichnenderweise auch in Wissenschaftskreisen.
Rupert Sheldrake zum Beispiel. Der Mann, der sich selbst „kreativer Biologe“ nennt (was keineswegs gelogen ist), sorgte schon zu Beginn der 1980er-Jahre gleichermaßen für Kopfschütteln wie Erheiterung, als er die Idee „morphogenetischer Felder“ entwarf, welche die vielfältigen Formen in der Natur mitbedingen sollen. Verklärte Gemüter nannten die Thesen provokant, erdiger veranlagte Charaktere sprachen schlicht von Humbug. Später attestierte Sheldrake Haustieren einen siebten Sinn (was war nochmal der sechste?), weil etwa Waldi erregt zur Tür startet, wenn Herrchen angeblich gerade erst dran denkt, das Büro zu verlassen und nach Hause zu fahren.

Manifest gegen Dogmen
Heuer legte der gelernte Evolutionsbiologe, der offenbar selbst eine Art Evolution zum Experten für Grenzbereiche der Wissenschaft durchlaufen hat, tüchtig nach. „Der Wissenschaftswahn“ heißt sein neues Buch – eine Anspielung auf Richard Dawkins’ schriftlichen Wutausbruch über den grassierenden „Gotteswahn“. Sheldrakes Antwort darauf, so der Tenor diverser Rezensionen, sei mutig, eine Abrechnung mit dem bedingungslosen Szientismus, gleichsam ein Manifest gegen die „Dogmen der modernen Wissenschaft“.
In Wahrheit lassen sich Sheldrakes Auslassungen auf ein ganz banales Fazit herunterbrechen: Es gibt Dinge, die wir noch nicht wissen und verstehen und also auch nicht erklären können.
Freilich wird das im Buch ausführlicher und unter Einbeziehung mehrerer Disziplinen erörtert, in eine Kritik am angeblich hemmungslosen Materialismus der Wissenschaften und der kalten Vernunft gekleidet und mit Beispielen gespickt, die demonstrieren sollen, dass selbst die modernste Forschung bei manchen Fragen ansteht.

Nur, haben seriöse Wissenschafter das jemals bestritten? Um noch einmal den Jahrhundertphysiker zu bemühen: Es sei bequem mit dem Einstein, witzelte dieser über sich selbst, jedes Jahr widerrufe er, was er im Jahr davor behauptet habe. Was meinte er damit? Einstein forschte ständig weiter, sah sich aufgrund neuer Berechnungen veranlasst, bisherige Annahmen zu revidieren. Der Wiener Archäologe Wolfgang Lobisser – Spezialgebiet: Bauformen und Werkzeuge der Bronze- und Eisenzeit – formulierte vor Kurzem lakonisch: „Wir arbeiten jeden Tag hart daran, dass unser Wissensstand von heute schon morgen nicht mehr gilt.“
Gewiss mag es auch bornierte Naturforscher geben, aber als Argument gegen die Profession als solche ist dieser Umstand völlig untauglich. Was wäre denn die Alternative? Wir verlassen uns auf eine weise lenkende Hand von oben und gehen alle friedlich schlafen?
Bemerkenswerterweise finden angeblich so mutige Kampfansagen wie jene von Sheldrake immer noch und immer wieder dankbare Resonanz. Endlich einer, der zugibt, dass irgendwo im Verborgenen vielleicht doch größere Mächte wirken, die unser kümmerliches Gehirn gar nicht erfassen kann und die uns vor Augen führen, welch armseliger Wurm auf Erden der Mensch am Ende doch ist! Intellektuelle Selbsterniedrigung muss ziemlich sexy sein.
Dies gilt besonders im Mutterland konsequenter Wissensverleugnung. Dass ein beträchtlicher Prozentsatz der Amerikaner kreationistischem Gedankengut nachhängt, darf zwar als bekannt vorausgesetzt werden. Dass aber, wie jüngst vermeldet, just im Wissenschaftsausschuss des Repräsentantenhauses Menschen sitzen, welche ernsthaft die Ansicht vertreten, Gott habe die Erde vor 9000 Jahren in sechs Tagen erschaffen, ist allerdings mehr als verwunderlich. Im Oktober meinte der Republikaner Paul Broun aus Georgia, der sich der Wiederwahl für das Gremium stellte: „Alles, was ich einmal gelernt habe über Evolution, Embryologie und die Urknalltheorie, sind Lügen direkt aus dem Pfuhl der Hölle.“

Doch es besteht ein Funken Hoffnung. Der Biologe James Leebens-Mack startete in der Folge über Facebook eine symbolische Protestwahl. Der Name seines Kandidaten für den Ausschuss lautete Charles Darwin. Er bekam rund 4000 Stimmen. Das war zwar nicht mehrheitsfähig, aber ein durchaus respektables Ergebnis für jemanden, der seit 130 Jahren tot ist.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft