Traumadeutung

Wie überlebt man stundenlang mit einem abgerissenen Arm?

Chirurgie. Wie überlebt man stundenlang mit einem abgerissenen Arm?

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Tibor A. lacht schon wieder. Der 37-jährige Ungar liegt auf der Wiener Universitätsklinik für Unfallchirurgie, wo ihm die Ärzte am vergangenen Samstag den rechten Unterarm wieder annähten, der ihm bei einem Arbeitsunfall im burgenländischen Purbach abgerissen worden war. Die Medien berichteten von einer „erfolgreichen Operation“ und erweckten damit den Eindruck, der angenähte Arm werde nach einigen Wochen oder Monaten seine Funktionsfähigkeit wieder erlangen. Doch davon kann keine Rede sein. Erfolgreiche Operation heißt in diesem Fall nur, dass der Unterarm wieder durchblutet ist.

Weder wurde die Anatomie der Muskeln und Sehnen noch jene der Nerven rekonstruiert. Denn vordringlich ist in dieser ersten Behandlungsphase nur die Durchblutung des angenähten Körperteils. Etwa sechs Wochen lang bleibt der gesamte abgewinkelte Arm durch externe Metallstäbe fixiert. Erst nach Abheilung der Wunden können die Ärzte entscheiden, welche Folgeoperationen sinnvoll und machbar sind. Wahrscheinlich wird das Ellbogengelenk auch nach Rekonstruktion von Muskeln, Sehnen und Nerven eingeschränkt beweglich und die Finger funktionslos bleiben. In den kommenden zwei Wochen wird sich zeigen, ob der Unterarm tatsächlich gerettet ist.

Denn durch die stundenlang unterbrochene Blut- und Sauerstoffversorgung sterben in dem abgetrennten Körperteil Gewebezellen ab und bilden toxische Substanzen, die zum Nierenversagen führen können. Durch die massive Verschmutzung der Wunden besteht außerdem die Gefahr einer lebensgefährlichen Sepsis. Zwar versuchen die behandelnden Ärzte, die Infektionsgefahr mittels Antibiotika-Infusionen klein zu halten, aber in einem vorgeschädigten Gewebe können sich Keime leichter ausbreiten. Im Fall einer Sepsis müsste der angenähte Unterarm sofort wieder amputiert werden, um das Leben des Patienten zu retten. Außerdem bestand Thrombose- und Abstoßungsgefahr, doch Mitte dieser Woche schienen all diese Hürden vorerst genommen.

Überlebensprogramm

Der ungarische Arbeiter, der seit Jahren bei einem Recyclingunternehmen in Purbach arbeitet, befand sich zum Zeitpunkt des Unfalls allein auf dem Betriebsgelände. Er war damit beschäftigt, mit Hilfe eines Rüttelsiebs Bauschutt zu zerkleinern und zu sortieren. Zu diesem Zweck werden Beton- oder Ziegelbrocken via Förderband in eine Zertrümmerungwalze und danach auf das Rüttelsieb geleitet. Um etwa 13.30 Uhr blockierte ein größerer Stein die Maschine, weshalb Tibor A. versuchte, die Blockade mit Hilfe einer Eisenstange zu lösen. Als sich das Band ruckartig wieder in Bewegung setzte, erfasste eine Förderlamelle A.s rechten Arm und zog ihn in die Maschine, wobei der Unterarm am Ellbogen glatt abriss.

Der Arbeiter konnte die Maschine noch abstellen, lief zu seinem Auto, dann wieder zurück zur Maschine. Er fand den abgetrennten Unterarm im staubigen Schutt, packte ihn in seinen Pullover und deponierte ihn im Kofferraum. Wie er es schaffte, sein Auto allein mit dem linken Arm 20 Kilometer weit zum nächsten Spital in Eisenstadt und dort in die Tiefgarage zu lenken, erscheint ebenso rätselhaft wie sein unaufgeregter Auftritt an der Rezeption: Er legte den staub- und blutverschmierten Unterarm auf das Pult und bat, man möge ihm diesen wieder annähen.

Für Laien ist es unverständlich, wie ein Mensch mit einer derart schweren, potenziell lebensgefährlichen Verletzung noch Auto fahren und einen klaren Gedanken fassen kann; dass er, statt vor Schmerz zu schreien oder in Ohnmacht zu fallen, cool bleibt und genau das Richtige tut, um den Arm und sich zu retten. Verantwortlich dafür ist nicht der Schock, wie vielfach berichtet wurde, sondern ein Überlebensprogramm, das die Natur für den Fall massiver, lebensbedrohlicher Verletzungen bereithält. Viele Patienten berichten oft nach schweren Körperverletzungen, sie hätten dabei kaum Schmerzen verspürt.

Selbsthilfemechanismus
Der Grund dafür ist die sofortige massive Ausschüttung von Stresshormonen und psychotropen Substanzen im Gehirn, die einerseits den Pulsschlag erhöhen, andererseits das Schmerzempfinden herabsetzen: ein Selbsthilfemechanismus, der garantiert, dass der Patient noch reaktionsfähig bleibt. In dieser Situation fährt der Organismus die Durchblutung peripherer Körperregionen zugunsten von Herz und Hirn zurück. „Bei dieser sogenannten Zentralisierung versorgt der Körper primär lebenswichtige Organe“, erklärt Michael Blauth, Direktor der Innsbrucker Universitätsklinik für Unfallchirurgie.

Die Stressreaktion stoppt sogar die Blutung
, weil sich die peripheren Gefäße zusammenziehen und an der Verletzungsstelle von selbst verschließen. Das geschieht, indem sich die innerste Schicht der Arterie, die Intima, an der Schnitt- oder Abrissstelle einkringelt und so den Blutfluss stoppt. Zusätzlich bildet sich lokal ein Blutgerinnsel, das die Blutung verhindert. Die Wunde blutet dann nur noch geringfügig aus den verletzten Venen, die keinen derartigen Schließmechanismus kennen. „Es ist oft erstaunlich, wie wenig solche Amputationsverletzungen bluten“, sagt Blauth. Ohne diesen Selbstschutz würde der Patient verbluten. Aber eine derartige Gefahr bestand bei Tibor A. in keiner Phase.

Die Ärzte in Eisenstadt packten den abgetrennten Unterarm ordnungsgemäß in einen sterilen Nylonsack und legten diesen zur Kühlung in einen zweiten, mit Wasser und Eiswürfeln gefüllten Nylonsack. Wichtig dabei ist, dass der abgetrennte Körperteil nicht direkt mit dem Eis in Berührung kommt, denn das könnte zu Kälteschäden am Gewebe führen. Für den Transport wurde das in Eis gepackte Amputat noch zusätzlich in einer Kühlbox verstaut. Aufgrund der niedrigen Temperatur verlangsamen sich die Stoffwechselprozesse in den Zellen, der Abbauprozess wird gestoppt. Aus der Transplantationsmedizin ist bekannt, dass die Idealtemperatur für die Konservierung von Spenderorganen oder Amputaten um die vier Grad Celsius liegt.

Im Eisenstädter Krankenhaus wurde der Patient in künstlichen Tiefschlaf versetzt, intubiert, über einen zentralen Venenkatheter mit isotonischen Infusionen versorgt, in künstlichen Tiefschlaf versetzt und die Wunde am Oberarm mit einer durchsichtigen, sterilen Folie verbunden. Zugleich alarmierte das Spital den Notarzthubschrauber und die Unfallchirurgie des Wiener AKH. Das dortige Team arbeitete gerade an einem großen Eingriff, konnte die laufende OP aber aufgrund des Avisos rechtzeitig beenden. Vorerst war ungewiss, ob der Hubschrauber wegen des herrschenden Schlechtwetters und Sturmböen überhaupt starten kann. Im Fall einer notwendigen Überstellung im Rettungswagen hätte sich die Transportzeit von 15 Minuten auf eine Stunde vervierfacht. Doch dann klappte die Rettung in der kleinen fliegenden Intensivstation doch noch.

Bei Eintreffen des Transports im Wiener AKH knapp vor 17 Uhr stand für die Großoperation bereits ein neunköpfiges OP-Team parat: eine Unfallchirurgin, ein plastischer Chirurg, zwei Assistenten, ein Anästhesist, zwei Röntgenassistenten und zwei Pflegepersonen. Zuerst wurde der Patient in den für alle Eventualitäten eingerichteten Schockraum gebracht.

„Wir haben einen kreislauf- und atmungsstabilen Patienten bekommen“, berichtet die an der Operation maßgeblich beteiligte Oberärztin Monika Luxl. Das heißt, die Versorgung des Mannes in Eisenstadt und beim Transport war optimal gewesen. Um das Infektionsrisiko gering zu halten, wurden Amputat und Oberarmstumpf vorerst nur durch die Plastikabdeckung inspiziert, freigelegt und gereinigt aber erst im OP-Saal. Dabei zeigte sich das Ausmaß der Verletzung: Es handelte sich um eine typische Ausrissverletzung ohne glatte Wundränder, was für die Transplantation ungünstiger ist. Dazu kamen Dehnungsschäden an den Weichteilen, die im Oberarm bis in die Schulter und im Unterarm bis nahe ans Handgelenk reichten. Neben den sichtbaren gab es auch unsichtbare Schäden, verursacht durch abgerissene Blutgefäße und Nervenstränge. Blutgefäße sind wie elastische Schläuche, die bei extremer Dehnung oft an ganz anderen Stellen reißen. Das führte beispielsweise dazu, dass die zwei im Unterarm verlaufenden Hauptversorgungsstränge Arteria radialis und Arteria ulnaris nicht wie der ganze Unterarm am Ellbogengelenk abrissen, sondern etwa zehn respektive 20 Zentimeter darunter.

Noch weiter entfernt vom Ellbogengelenk waren die Abrissstellen der drei großen, im Arm verlaufenden Nervenbahnen, die sich bei Dehnung wie Gummibänder verhalten. So riss der Nervus medianus mitten im Unterarm, der Nervus ulnaris im oberen Schulterbereich knapp nach Austritt aus der Wirbelsäule. Das erschwert die Rekonstruktion, die erst für eine spätere Nachoperation geplant ist.

Um Zeit zu sparen, wurden zwei OP-Teams gebildet: Team eins bereitete den abgerissenen Unterarm auf die Replantation vor, Team zwei den Oberarm. Sowohl am Amputat wie am Oberarmstumpf suchten die Chirurgen die Enden der Gefäße und der Nerven auf und legten diese frei. Um die beiden Körperteile zusammenfügen und stabilisieren zu können, montierten die Operateure in die Knochen des Unter- und des Oberarms jeweils im rechten Winkel mehrere Eisenstäbe, die, mit Querstreben verschraubt, ein externes Stabilisierungsgerüst bilden, das Ober- und Unterarm in einem 90-Grad-Winkel im Ellbogen zusammenhält.
Sobald die Knochenstruktur des Ellbogengelenks wiederhergestellt war, konnten die Chirurgen mit der Rekonstruktion der Blutgefäße beginnen. Dabei wurden die zerstörten Abschnitte durch Venenstücke aus den Beinen ersetzt. Erst danach konnten die Mediziner Muskeln und Haut zusammennähen. An eine Rekonstruktion der wesentlichen Nervenbahnen ist vorerst nicht gedacht.

Sie soll erst bei einer späteren Operation versucht werden, wenn die Wunden abgeheilt sind, frühestens in drei Wochen. Und selbst wenn dieNervenbahn einmal rekonstruiert ist, kann es Jahre dauern, bis sie ein Gefühl vermittelt. Denn die Bahn gibt dem Nerv nur die Richtung vor, in die er einwachsen soll.

Pro Tag wächst ein Nerv etwa ein Zehntel Millimeter. Da lässt sich leicht ausrechnen, wie lange es dauert, bis die neurale Verbindung von der Schulter bis zur Fingerspitze, eine Distanz von 800 Millimetern, wieder hergestellt ist. Und selbst dann ist fraglich, ob die Muskeln der Hand nicht bereits so verkümmert sind, dass sie keinerlei Funktion mehr erfüllen können.

So gesehen ist die Vorstellung, der Arm werde irgendwann wieder voll funktionsfähig sein, ein frommer Wunsch. Eventuell kann es notwenig sein, die funktionslose Hand zu amputieren und durch eine so genannte myoelektrische Prothese zu ersetzen, welche Impulse von einzelnen Muskeln bis in die Finger weiterleiten kann – ein Thema, mit dem sich der plastische Chirurg Oskar Aszmann, ein Mitglied des Operationsteams, seit Jahren beschäftigt.

Vorläufig geben sich die Mediziner damit zufrieden, dass das Transplantat vom Körper angenommen wurde und gut durchblutet ist. „Der Patient spürt den replantierten Unterarm nicht. Wenn er die Augen zumacht, weiß er nicht, ob der Arm dran ist oder nicht“, sagt Unfallchirurgin Luxl. „Aber besser ein Arm mit eingeschränkter Funktion als gar kein Arm.“