Leitartikel: Sven Gächter

Torn in the USA

Torn in the USA

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Es dauerte einige Monate, bis die Kandidatin endlich wieder zu jener polarisierenden Form auflief, für die sie zu Beginn ihrer Ära als First Lady in den neunziger Jahren gleichermaßen gefürchtet und verhasst gewesen war. Kurz vor den Primaries in New Hampshire gingen die Emotionen mit der bis dahin betont kühlen Hillary Clinton unvermittelt durch. Nach der Vorwahlschlappe in Iowa hatten Prognostiker sogar im eigenen Lager für ihre Kampagne das Schlimmste befürchtet, und Clinton, dem Zusammenbruch nahe, kämpfte vor laufender Kamera mit den Tränen. Die Nation erstarrte: War die für ihre Kontrolliertheit bekannte Frau tatsächlich Opfer ihrer Gefühle geworden, oder ging sie in ihrer Berechnung so weit, sich den Weg ins Weiße Haus zur Not zu erweinen, wie manche Kommentatoren sofort zynisch argwöhnten?

Solche Mutmaßungen sind Teil jener Faszination, für die das Phänomen Clinton seit jeher steht. Selbst erklärte Gegner zollen Hillary für ihre in jeder Hinsicht bemerkenswerte Karriere Respekt, während selbst leidenschaftliche Anhänger nie ganz genau wissen, woran sie bei dieser Frau sind. Was steckt hinter der bis ins letzte Detail durchchoreografierten politischen Großinszenierung? Und warum wird diese Frage bei Clintons parteiinternem Konkurrenten Barack Obama nicht gestellt? Weil sie diskriminierend wäre? Schon möglich, aber klingt sie bei Hillary weniger diskriminierend?

Der US-Wahlkampf ist schon spannender als eine Staffel von „24“, lange bevor er in die Zielgerade einbiegt. Die Demokraten haben das Glück, aber auch das Pech, zwei Kandidaten aufbieten zu können, die einander an Brillanz und Charismatik nichts schuldig bleiben. Beide verfügen über eine schillernde Biografie und außergewöhnliches politisches Talent, und beide würden im Falle eines Wahlsieges eine historische Zäsur markieren: Noch nie ist eine Frau oder ein Farbiger ins Oval Office eingezogen. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob Amerika schon reif dafür sei. Die Frage, ob Amerika reif genug ist, angesichts dieser doppelten Herausforderung nicht vorzeitig zu kapitulieren, stellen sich einstweilen wohl nur republikanische Strategen, die darauf hoffen, dass die so ungemein dynamische Kampagne der Demokraten auf höchstem Niveau implodiert und am Ende doch wieder ein Konservativer den Präsidentenpokal holt.

Tatsächlich ist aller derzeitigen demokratischen Hegemonie zum Trotz das Rennen völlig offen. Die Wahl am 4. November wird auch von der amorphen, aber unüberschaubar großen Mehrheit jener entschieden werden, die wirklich nicht wissen, ob sie die Geschicke ihres Landes erstmals in die Hände einer Frau oder eines Schwarzen legen wollen. Nicht uninteressant, wenn auch wohl nicht maßgeblich, ist dabei ein Aspekt, den man als liberales Dilemma bezeichnen könnte: Riskiert, wer für Obama stimmt, den Vorwurf latenter Frauenfeindlichkeit – oder macht man sich des Rassismus verdächtig, wenn man Clinton den Vorzug gibt?

Solche Überlegungen sind weniger haarspalterisch, als sie erscheinen mögen, denn sie verweisen auf den Entwicklungsgrad einer Gesellschaft, die bei aller Widersprüchlichkeit zumindest in einem Punkt zu einem breiten Konsens gefunden hat: Die ebenso rabiate wie verantwortungslose Politik der Bush-Administration darf nicht fortgesetzt werden.

Die Sehnsucht nach einem tief greifenden Wandel („change“) ist das Leitmotiv der Kampagne von Barack Obama, und er bedient diese Sehnsucht in seinen Auftritten so virtuos, dass viele ihm das Fehlen einer konkreteren Programmatik einstweilen noch nachsehen. Hillary Clinton wiederum will mit betont sachlicher, an den Alltagssorgen der Menschen orientierter Politik punkten, wohl auch deshalb, weil sie mit ihrer Biografie nicht glaubhaft auf das Ticket des Wandels setzen kann. Sie steht in erster Linie noch für die jüngere Vergangenheit der amerikanischen Politik, die sie in den neunziger Jahren an der Seite ihres Präsidentengatten höchst aktiv mitgeprägt hat. Und bei der gerade in liberalen europäischen Kreisen betriebenen Clinton-Verklärung wird gern ausgeblendet, dass jene Spaltung, unter der die USA heute leiden, vom Bush-Camp keineswegs eingeführt, sondern nur brutal und nahezu kriminell verschärft wurde.

„Hat Hillary sich wirklich verändert, ist sie an ihren Fehlern gewachsen? Hat sie gelernt, weniger störrisch und herrisch und geheimniskrämerisch und rachsüchtig und voreingenommen zu sein?“, fragt Maureen Dowd, die (liberale) Starkolumnistin der „New York Times“, und bringt damit die auch unter Demokraten gegen Clinton herrschenden Vorbehalte auf den Punkt. Vielleicht schleppt Hillary zu viel persönlichen Ballast mit, um unbelastet jenen dynamischen „change“ zu verkörpern, den viele, auch viele Republikaner, nach den düsteren Bush-Jahren herbeifiebern. Davon könnte am Ende Barack Obama profitieren.

Doch die republikanischen Schlammschlachtstrategen werden ihn nicht so ohne Weiteres davonziehen lassen. Und die Clintons erst recht nicht.