Troia: Mythische Metropole

Wie die antike Stadt tasächlich ausgesehen hat

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Die Experten mussten sich mit Ruinen begnügen. Sie hatten einen Haufen alter Steine, Mauerreste, Fragmente verfallener Treppen, verkohlte Holzbalken. Und doch gelang es, mit diesen spärlichen Mitteln eine komplette Stadt zu errichten, um die sich seit mehr als zweitausend Jahren die größten Mythen der Weltgeschichte ranken: das legendäre Troia*), Schauplatz von Homers Epos „Ilias“.

Die im Nordwesten der Türkei gelegene Stadt entstand allerdings nicht aus echten Ziegeln wieder, sondern am Computer. Forscher der deutschen Universität Tübingen fertigten eine virtuelle Rekonstruktion Troias an und präsentieren sie nun in einem eben erschienenen Buch (siehe Seite 122). „Das Projekt war auf zwei Jahre begrenzt und ist jetzt abgeschlossen“, sagt der Archäologe Peter Jablonka, einer der Autoren. „Außerdem wollten wir bewusst einen Kontrast zum Film schaffen und die im Vergleich dazu weniger prächtige Realität zeigen.“

Der österreichische, seit 1995 in Tübingen forschende Wissenschafter spielt damit auf den Auslöser der jüngsten Troia-Begeisterung an – den am 14. Mai startenden Streifen „Troja“. Die mediale Begleitmusik fiel erwartungsgemäß lebhaft aus: Wissenschaftsmagazine wie „Abenteuer Archäologie“ hoben den „Mythos Troia“ aufs Titelblatt, und Jablonka berichtet, er könne sich zurzeit der Anfragen aus aller Welt kaum erwehren.

Jablonka und seine Kollegen gelten als ausgewiesene Troia-Kenner. Seit 1988 leitet der Tübinger Prähistoriker Manfred Korfmann die Grabungen auf dem heute Hisarlik genannten Burghügel. Jeden Sommer suchen die Forscher in Kooperation mit der University of Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio und unter Beiziehung von Disziplinen wie Archäobiologie, Klassische Philologie, Numismatik, Chemie oder Geophysik nach neuen Befunden für die Besiedelungsgeschichte Troias.

Jablonka, der dem Grabungsteam angehört, betreute nun die virtuelle Wiedererschaffung der Ruinenstadt. Anhand von Fotos und Plänen freigelegter Fundamente konnten zunächst Grundmauern von Palästen, Wohnhäusern oder der Stadtmauer rekonstruiert werden. Dann ging es an knifflige Detailarbeit, teils gepaart mit dem Mut zur logischen Schlussfolgerung: Verbrannte Balken können auf eine Dachkonstruktion hindeuten, der Ansatz einer Treppe auf ein zweites Stockwerk, Ausnehmungen in Mauern auf die dort befestigte Tragekonstruktion einer Überbauung, gefundene Faserspuren auf die Verwendung von Schilfmatten als Sitzgelegenheiten.

Anhand zeitlich und kulturell vergleichbarer Bauwerke ließen sich Mutmaßungen über die Beschaffenheit von Fassaden oder sonstigen Gebäudeelementen anstellen, und schließlich wurden die Daten in den Computer eingespeist: Auf die Grundrisse der Häuser setzten die Forscher Polygone auf – Drei- oder Vierecke, die wie ein Drahtgittergeflecht zusammengefügt werden und derart das Gerippe von Bauwerken bilden. Anschließend überzogen die Experten ihre Modelle mit Farbe, Oberflächenstrukturen, Licht und Schatten.

Hochrechnung. Dass Troia tatsächlich exakt so ausgesehen hat wie das virtuelle Modell, behaupten die Forscher freilich gar nicht. Vielmehr handle es sich, formulieren die Buchautoren, um „eine auf harter wissenschaftlicher Basis erstellte Hochrechnung“. „Hundertprozentig kann man nie sicher sein“, sagt Koautorin Birgit Brandau, „dafür müsste man schon eine Zeitreise unternehmen können.“

Von Spekulationen ist die Troia-Forschung allerdings seit jeher ebenso geprägt wie von Kontroversen über Größe, machtpolitische und ökonomische Bedeutung der Stadt am Hellespont. Und die Ansichten änderten sich über die Jahrhunderte mehrmals grundlegend. Hatten die antiken Griechen und später die Römer keinerlei Zweifel an der Authentizität des Troianischen Krieges, galten später die „Ilias“ und auch Troia selbst als bloße Fiktion – bis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ausgräber Frank Calvert und Heinrich Schliemann erste Burgareale freilegten (siehe Kasten Seite 120). Seit damals ist der mythische Ort in Kleinasien regelmäßig Gegenstand fachlicher Debatten.

Schuld daran ist Homer selbst: Hätte der Dichter nicht eine derart fesselnde Story verfasst, die Hollywood nach rund 2700 Jahren immer noch einer Verfilmung für würdig befindet, wäre das Interesse an den Ruinen in dem 20.000 Quadratmeter umfassenden Areal auf dem knapp 40 Meter hohen Hügel wohl kaum so groß. Zwar beteuern Forscher, keineswegs nach einer Verifizierung Homers zu trachten – doch dem Schatten des großen Dichters entkommen sie nicht. „Was auch immer ausgegraben wird, wird unmittelbar mit Homer verknüpft“, sagt Birgitta Eder von der Mykenischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. „Eben weil seine Geschichte so gut ist, ist Troia noch heute so bedeutend.“

Fiktive Handlung. Einig ist die Fachwelt heute darin, dass die „Ilias“ kein Geschichtsbuch ist. Wie viele gute Schriftsteller wählte Homer einen reellen Ort als Schauplatz für seine fiktive Handlung. Diese, angesiedelt im Umfeld eines Krieges zwischen Griechen und Troianern, erstreckt sich nur über ein paar Wochen – eine denkbar kurze Episode in der Geschichte Troias. Doch weder ist ein singulärer vernichtender Krieg oder gar das berühmte Troianische Pferd belegt, noch existierte bloß ein einziges Troia.

Vielmehr war der kleine Burghügel über einen Zeitraum von 4000 Jahren mehr oder minder permanent besiedelt. Die Wissenschaft unterscheidet heute zehn Bauphasen: Troia I bis Troia X, nochmals unterteilt in gut 40 Subphasen, welche zum Beispiel Troia VIIa heißen. Weil die jeweiligen Siedler ihre Behausungen stets auf den Überresten ihrer Vorgänger errichteten, entstanden im Lauf der Zeit übereinander liegende architektonische Schichten.

Die erste Hochblüte erlebte der Ort – nach frühen Ansiedlungen, die bereits 4800 vor Christus entstanden waren – um die Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends. Nach Ansicht der Tübinger Forscher errichteten die Bewohner von Troia I und II eine Verteidigungsmauer mit mindestens drei Toren in den inneren Bereich, wo herrschaftliche Häuser standen. Die Menschen fertigten verzierte Keramikgefäße auf Töpferscheiben, verarbeiteten Wolle zu Textilien, Kupfer und Zinn zu Bronze. Besonders die Metallverarbeitung in der frühen Bronzezeit verdient Beachtung: Die Troianer produzierten Klingen, Rasiermesser, Sägen, Äxte und Gefäße aus Bronze. Goldschmiede stellten Schmuck und aus Bergkristall geschliffene Linsen her. Aus dieser Zeit stammt auch der berühmte Schatzfund Heinrich Schliemanns.

Die rund 650 Jahre währende erste Hochkultur beendete ein Feuer um das Jahr 2350. Nach dem Wiederaufbau lebten die Menschen unter bescheideneren Verhältnissen – bis vermutlich ein Erdbeben die Stadt neuerlich zerstörte. In der Folge ließen sich Zuwanderer aus dem Inneren Kleinasiens hier nieder, was Funde von Alltagsgegenständen und die Bauweise belegen: lang gestreckte, dicht gedrängte Häuser aus Lehmziegeln.

Naturgewalten. In den folgenden Jahrhunderten erlebten die Menschen recht wechselhafte Zeiten: Je nach den Umständen delektierten sie sich an Rindfleisch oder begnügten sich mit Wild, hausten eher ärmlich oder statteten ihre Häuser mit Möbeln aus. Und mehrfach wurden sie von Katastrophen aller Art heimgesucht – von Bränden, Erdbeben, plündernden Horden, eventuell auch Seuchen.

Um 1700 vor unserer Zeitrechnung begann jene Phase, die 500 Jahre dauern und in der zweiten Hochblüte der troianischen Geschichte gipfeln sollte. Dieses Zeitfenster, als Troia VI bis VIIa bezeichnet, ist für die meisten Forscher das spannendste – und zugleich im Hinblick auf die Deutung der Geschichte Troias das umstrittenste.

Sicher ist, dass in dieser Zeit gewaltige Bauwerke entstanden. Die Burg wurde auf einer Länge von 552 Metern von einer massiven, gut zehn Meter hohen und bis zu fünf Meter dicken Mauer umgeben, die mit Türmen bewehrt war und durch vier imposante Tore passiert werden konnte. Die Troianer erwiesen sich sowohl in Bezug auf Verteidigungstechnik als auch im Katastrophenschutz als innovativ: Die Mauern waren geböscht, also nach unten hin verbreitert, was sowohl die Statik verbesserte als auch den Vorteil bot, dass sich potenzielle Angreifer nicht in einem toten Winkel verstecken konnten. Zwecks Erdbebensicherheit wurde die Undulationstechnik angewandt: Steine wurden in Wellenlinien so angeordnet, dass entstehender Druck abgeleitet werden konnte.

Schöner Schein. Auch bei der Konstruktion der oft mehrstöckigen und auf Terrassenringen errichteten Paläste ersannen die Troianer architektonische Tricks: So war die der Burgmauer zugewandte Palastseite stets die massivste, und nach hinten hin verschmälerten sich die Gebäude. Von vorn – aus dem Blickwinkel ankommender Besucher – wirkten die Gebäude damit imposanter, als sie tatsächlich waren.

Doch Troia verfügte nicht nur über die Burganlage mit prachtvollen Palästen und herrschaftlichen Häusern, sondern auch über eine Unterstadt – eine Siedlung, in der die Bevölkerung lebte und arbeitete und die sich im Lauf der späten Bronzezeit über ein Areal von 270.000 Quadratmetern südlich des Hügels erstreckt haben soll.
Nach Ansicht des Troia-Ausgräbers Manfred Korfmann handelte es sich um ein prosperierendes Gewerbegebiet, in dem zahlreiche Handwerksberufe anzutreffen waren – Schmiede, Steinmetze, Weber, Salbenkocher und Kellermeister ebenso wie Sänger, Boten und Ärzte. Die Tübinger gehen von der Existenz massiver, teils zweistöckiger Steinhäuser aus, eingebettet in ein dichtes Straßennetz. 7000 Menschen könnten hier in bis zu 1000 Häusern gelebt haben.

Zudem sei auch die Unterstadt befestigt gewesen: unter anderem durch einen drei Meter breiten Verteidigungsgraben 400 Meter südlich der Burgmauer, der dazu gedient haben könnte, Streitwagen aufzuhalten. „All die Erkenntnisse sind sensationell gewesen“, sagt Archäologe Peter Jablonka, „das Stadtbild hat sich dadurch radikal verändert.“

Kritiker dieser Einschätzung, allen voran der ebenfalls in Tübingen forschende Althistoriker Frank Kolb, halten die Vorstellung einer blühenden bürgerlichen Stadt für weit überzogen. Kolb geht von einer recht locker bebauten und eher agrarisch dominierten Siedlung aus – und stützt sich dabei auf den Umstand, dass bislang erst ein bis zwei Prozent der Unterstadt tatsächlich freigelegt wurden. Daher mangle es schlicht an harten Fakten.

Korfmanns Team argumentiert, man müsse gar nicht alles ausgraben: Mit punktuell an neuralgischen Stellen durchgeführten Sondagen, kleinen Grabungsschnitten, könnten ebenfalls Relikte früherer Besiedlung aufgespürt werden. Tatsächlich habe man bisher bei praktisch allen Sondagen im Bereich der Unterstadt Treffer gelandet – und Mauerreste, Scherben oder allerlei Hausrat gefunden. Bei den heuer Mitte Juli beginnenden Grabungen, berichtet Jablonka, wolle man etwa alle 20 Meter die Vegetation entfernen und nach weiteren Sachbeweisen suchen.

Expertenstreit. Der wahre Gelehrtenstreit entzündet sich allerdings erst an der Frage, wie denn Troia – wenn es sich denn um eine wohlhabende Stadt handelte – zu seinem Reichtum kam. Örtliches Handwerk oder Viehzucht konnten kaum genügt haben, um Paläste und gewaltige Wehranlagen zu errichten.

Korfmann glaubt, dass Troia eine ökonomische Drehscheibe im Wirkungsbereich der damaligen Großmächte war – dem Imperium der Hethiter mit der Hauptstadt Huttusa im Osten, dem mykenischen Reich in Griechenland, jenem der Pharaonen in Ägypten. Die strategisch gute Lage Troias an der Dardanellen-Einfahrt hätten die Troianer wohl genutzt, um Maut zu kassieren oder Lotsendienste anzubieten. Kombiniert mit eigenen Handelsaktivitäten sei Troia zu einem Wirtschaftszentrum der Bronzezeit aufgestiegen.

Spekulationen. Diese Darstellung ging nicht nur dem Kritiker Kolb zu weit. Auch die Wiener Mykene-Expertin Birgitta Eder meint, mit Spekulationen über eine Art bronzezeitliches New York werde „die Rolle und Bedeutung Troias übertrieben“. So sei zwar eine Funktion Troias als Hafen, Mautstelle und regional bedeutender Handelsplatz durchaus plausibel – bloß sei die Route durch die Dardanellen ins Schwarze Meer damals von nur begrenzter Bedeutung gewesen. Doch das völlige Bestreiten einer anerkannten Position Troias im damaligen Machtgefüge entspreche wohl noch weniger den Tatsachen. Insgesamt könne man davon ausgehen, so Eder, dass Troia „weder ein Fischerdorf noch eine imperiale Hauptstadt war“. Es habe sich um eine durchaus begüterte Stadt und um den zentralen Ort in der ihn umgebenden Landschaft gehandelt.

Ein weiteres Indiz, mit dem versucht wurde, Troias Bedeutung zu erhärten, stammt von den Hethitern: ein Vertrag zwischen dem hethitischen Großkönig Muwattalli II. und einem Alaksandu von Wilusa. Der Keilschrifttext erwähnt diplomatische Kontakte zwischen den Herrschern und zeigt, dass Wilusa dem Einflussbereich der Hethiter zugezählt wurde.

Einige Forscher glauben, dass Wilusa mit Troia ident ist. Homer nennt seinen Handlungsort doppelt so oft Ilios wie Troia. Weil die Griechen einst den anlautenden Buchstaben W benutzten und erst später wegfallen ließen, habe die Stadt ursprünglich Wilios geheißen – was Wilusa auffallend ähnlich sei und, angesichts der im Vertrag erwähnten bilateralen Beziehungen, ein Beleg für die überregionale Bekanntheit der Stadt. Doch auch diese Interpretation ist umstritten. Eder meint, es bestehe eine „Möglichkeit bis Wahrscheinlichkeit“ einer Identität von Wilios mit Wilusa, „aber gesichert ist das nicht“.

Verwüstetes Reich. Bekannt ist indes, dass Troia um 1200 vor Christus zerstört wurde. Spuren belegen Kämpfe, Brände, Devastierungen – ohne zu verraten, wer die Täter waren. Vor allem, so Eder, „gibt es keinen archäologisch greifbaren Hinweis auf eine Beteiligung der Griechen“. Etwa um die gleiche Zeit zerfielen auch andere Zentren – die mykenischen Paläste ebenso wie das aus Hattusa regierte Großreich.

Die Welt der Bronzezeit und auch das mythische Troia waren zunächst aus der Geschichte getilgt, und erst Homer erzählte ein halbes Jahrtausend später von den berühmten Vorfahren der Griechen.

Bis ins 14. Jahrhundert nach Christus war der Ort noch besiedelt. Besondere Bedeutung hatte Troia aber nur noch für die antiken Griechen, die in Ilion auf ihren Spuren zu wandeln vermeinten, und später für die Römer, deren Vorfahr Aeneas dem Mythos zufolge aus dem brennenden Troia entkommen war. Alexander der Große besichtigte Troia ebenso wie Caesar und Kaiser Augustus.

Auch jene Funktion, die dem seit 1998 als Weltkulturerbe klassifizierten Ort heute teils zukommt, kannten schon die Römer: jene der Tourismusattraktion. In Ilium wurden allerlei mehr oder minder glaubwürdige Andenken an den großen Krieg ausgestellt und Souvenirs feilgeboten. Troia verkam zu einer wenig heroischen Stätte – einer Art antikem Disneyland.