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Trümmerpolitik

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Zerfall, Fragmentierung, Niedergang. In den vergangenen Wochen konnte man tatsächlich den Eindruck bekommen, dass die Weltordnung der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts jetzt endgültig zerbröckelt.

Da erlebten wir zunächst den Flop von Cancún. Die WTO sollte auf dem großen Treffen im mexikanischen Urlaubsort einen neuen Schritt zur Förderung des freien Welthandels machen, eine weitere Runde von Zollsenkungen einleiten – und scheiterte. Diesmal jedoch nicht an zornigen Globalisierungsgegnern wie 1999 in Seattle, sondern am mangelnden politischen Willen – allen voran der USA und der EU. Die Bush-Administration, die so vehement freie Märkte propagiert, hat in den vergangenen zwei Jahren ihre Zölle auf Stahl und die Milliarden-Zuschüsse für ihre Farmer erhöht und war jetzt in Mexiko – gemeinsam mit den Europäern – nicht bereit, ernsthaft über die Senkung ihrer Agrarsubventionen zu verhandeln. Der Süden – frustriert über die arrogante Selbstsucht des Nordens – ließ Cancún platzen. Und man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass in Zeiten des Wahlkampfs in den USA real und ideologisch nicht der Freihandel blüht, sondern der Protektionismus wieder sein hässliches Haupt erhebt.

Krisenstimmung auch in Europa. Alarmzeichen kommen aus Skandinavien. Trotz der tiefen Trauer über den gewaltsamen Tod der populären Außenministerin Anna Lindh, die sich für den Euro so stark gemacht hatte, lehnten die Schweden den Beitritt zum gemeinsamen Währungssystem ab. Und die EU-Verfassung, ein Text, der in monatelangen harten und erschöpfenden Verhandlungen im Konvent ausgearbeitet wurde, droht nun nicht in Kraft zu treten. Die kleineren Staaten machen gegen die EU-Riesen mobil. Sie bestehen darauf, dass partout jeder Staat einen Kommissar nach Brüssel entsenden muss. Wien gehört zu den Rädelsführern beim Versuch, aus kleinkariert patriotischen Motiven das große europäische Reformwerk zu kippen. Wenn das gelingt, schaut es düster für die europäische Zukunft aus.

Schließlich kann der momentane Almauftrieb der Staatsoberhäupter und Regierungschefs im New Yorker Glaspalast nicht darüber hinwegtäuschen, dass die UN tatsächlich tief in der Krise stecken und in den vergangenen Monaten nicht zuletzt durch den Alleingang der Amerikaner im Irak-Krieg tatsächlich rasant an weltpolitischem Gewicht verloren haben. Der sonst so ruhige UN-Chef Kofi Annan versucht seinen Verein vor dem Absacken in die Irrelevanz zu retten, indem er in einer feurigen Rede eine grundlegende Reform der Organisation propagiert. Der Wille dazu ist aber nirgendwo sichtbar. Und Washington macht einstweilen keine Anstalten, sich von der Weltorganisation irgendwelche Zugeständnisse abnötigen zu lassen. Auch die Nato, das institutionalisierte Symbol der transatlantischen Beziehungen, muss sich inzwischen ernsthafte Fragen hinsichtlich ihrer Existenzberechtigung stellen.

Der Chefredakteur von „Newsweek“, Fareed Zakaria, ist schwer beunruhigt: „In diesen Tagen besteht ein Führungsvakuum auf der Welt“, beklagt er. Die Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und seitdem schlecht und recht die Welt zusammengehalten haben, scheinen tatsächlich dem Untergang geweiht zu sein.

Auf den ersten Blick entspricht das dem Lauf der Dinge. Die Umstände, unter denen sie geschaffen wurden, sind nicht mehr gegeben: Die westliche Allianz wurde im Feuer des Antikommunismus geschmiedet. Das Ende des Kalten Krieges hat die Einheit untergraben. Europa hat sich als Reaktion auf die verheerenden Weltkriege integriert. Die Vereinten Nationen waren ebenfalls die organisatorische Antwort darauf und auf den Menschheitsskandal Holocaust. Aber die Erinnerung daran verblasst langsam, wie auch die Erinnerung an die dreißiger Jahre, in denen die Welt durch Protektionismus in eine desaströse Wirtschaftskrise geführt wurde.

Plötzlich erscheint das System internationaler Verträge, Allianzen und Institutionen, die seit 1945 halbwegs Stabilität schufen, in vielerlei Hinsicht anachronistisch. Und die USA setzen unter George W. Bush offenbar alles daran, diesem System den Todesstoß zu versetzen.

Ist diese Entwicklung aber wirklich irreversibel? Nicht unbedingt.

Zunächst: Die Geschichte zeigt, dass Institutionen, die unter ganz bestimmten historischen Umständen zu ganz konkreten Zwecken entstanden sind, durchaus einen Funktionswandel durchmachen und dann vital bleiben können. Das zeigen nicht zuletzt die Institutionen der Demokratie.

Der eklatante Antiinternationalismus der USA unter Bush ist keineswegs Schicksal. Früher oder später werden wahrscheinlich auch die unerschütterlichsten Hardliner erkennen, dass Alleingänge nicht funktionieren und überdies auf Dauer nicht zu finanzieren sind. Es ist kein Zufall, dass alle potenziellen Herausforderer Bushs bei den US-Präsidentschaftswahlen 2004 die Rückkehr zum Internationalismus und Multilateralismus (in Politik und Wirtschaft) propagieren und – so wie auch die US-Bevölkerung – viel Wert auf eine Zusammenarbeit mit den UN legen. Aller Voraussicht nach wird Bush die Wahlen verlieren – was die transatlantischen Beziehungen wieder verbessern dürfte.

Für Europa hat die momentane Entfremdung von den USA aber nicht nur negative Aspekte. Da mögen zwar jene historischen Erfahrungen nicht mehr so präsent sein, die zum Aufbau Europas nach 1945 führten. Der Konflikt mit Amerika aber, der in den vergangenen Jahren so spektakulär aufgebrochen ist, dürfte für Europa eine zusätzliche identitätsstiftende Wirkung haben und die Tendenz zur Einheit wieder verstärken.