Tschitty, Tschitty BANG!

Tschitty, Tschitty BANG!

Drucken

Schriftgröße

Der Vatikan ist in Wahrheit viel weltoffener und fortschrittlicher, als man ihm gemeinhin zugesteht. Erst kürzlich zum Beispiel, genauer: am 31. Oktober 1992, wurde der berühmte Mathematiker und Astronom Galileo „Und sie bewegt sich doch“ Galilei (1564–1642) vom Papst offiziell rehabilitiert – ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Schritt für die Kirche, verabschiedete sie sich damit doch ein für alle Mal von dem Dogma, dass die Erde das Zentrum des Universums sei.

Die modernen Naturwissenschaften galten lange Zeit – seit Kopernikus, allerspätestens aber seit Charles Darwin – als Feindbild jeder christlichen Religion, weil sie im Kern darauf angelegt waren, das göttliche Prinzip aus dem Kosmos zu verdrängen. Für das gute alte kuschelige Schöpfungsidyll war im kalten Ideengespinst von Evolutions-, Relativitäts- und Quantentheorie schlicht kein Platz mehr. Angesichts immer erdrückenderer Evidenz aus Physik, Biologie und Astronomie geriet die Kirche in einen dramatischen Argumentationsnotstand, der alle Metaphysik zu einer putzigen Trotzgebärde zu degradieren drohte.

Diese bitteren Zeiten sind nun vorbei! Vergangene Woche ließ der Vatikan verlauten, dass Urknall und Evolution durchaus mit der katholischen Schöpfungslehre vereinbar seien. In einem 95 Artikel umfassenden Text, approbiert von Kardinal Joseph Ratzinger, rückt die Internationale Theologenkommission des Vatikans den „Big Bang“ ins rechte Licht: Sie leugnet ihn nicht, hält jedoch fest, dass die Materie auch zuvor schon in anderer Form, nämlich als eine Schöpfung Gottes, existiert habe. Die Annahme eines vor dem Urknall liegenden absoluten Anfangs sei aus naturwissenschaftlicher Sicht „nicht unzulässig“ – aus christkatholischer Sicht ist sie naturgemäß höchst willkommen.

Ein brillanter Coup: Alle evolutionären Selektionsprozesse, alle radikalen Zufallsprinzipien werden umstandslos in den biblischen Masterplan zurückgebettet, weil auch sie, so die Theologenkommission, ursprünglich nur von Gott initiiert worden sein können. Den Urknall hat demnach kein anderer als Gott selbst besorgt – bildlich stellt man sich das am besten wohl so vor, dass ER vor Jahrmilliarden, lost in space, ein Papiersackerl aufblies und zum Platzen brachte: BANG!

Während in Rom also die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften feinsinnig zum ultimativen Gottesbeweis umgemünzt werden, rüsten in den USA die „Kreationisten“ zum Sturm gegen die positivistischen Bastionen der Gottlosigkeit (siehe auch Story ab Seite 116). Die kreationistische Bewegung will die – wissenschaftlich längst unumstrittene – Evolutionstheorie entweder ganz durch die Schöpfungsgeschichte ersetzen oder beide zumindest gleichwertig behandelt wissen, auch und gerade im Schulunterricht. Dabei handelt es sich keineswegs um ein obskurantistisches Randphänomen, sondern um einen anschwellenden weltanschaulichen und bildungspolitischen Mainstream. 90 Prozent der Amerikaner bezeichnen sich als gläubig, mehr als 60 Prozent halten die biblische Schöpfungsgeschichte für buchstäblich wahr.

Vor diesem Hintergrund muss man auch den Wahlsieg des wiedergeborenen Christen George W. Bush sehen. Zwischen einem Präsidenten, der seine Politik unerbittlich mit restaurativer Moral imprägniert, und einer Bewegung, die zentrale Inhalte neuzeitlicher Rationalität auf dem Altar einer kruden Frömmigkeit opfert, gibt es durchaus starke Affinitäten. Zur Disposition steht dabei nicht nur die Freiheit der Wissenschaften, sondern letztlich eine der ehernen Prämissen der Aufklärung: die strikte Trennung zwischen Staat und Religion.

Dieser neue christliche Fundamentalismus erscheint vordergründig nicht so rabiat wie sein islamistisches Pendant, was allerdings auch daran liegen kann, dass sein volles Wirkungspotenzial sich noch nicht annähernd entfaltet hat. Wenn der Boom jedoch anhält, wird der viel beschworene „clash of civilizations“ in nicht allzu ferner Zukunft innerhalb der Zivilgesellschaften ausgetragen werden. Einen repräsentativen Eindruck davon hat zuletzt der Präsidentschaftswahlkampf in den USA vermittelt, wo weniger Sachthemen als Weltentwürfe aufeinander prallten. John Kerrys Bitte an Bush, die Spaltung der Nation zu stoppen, war pathetisch, aber berechtigt.

In Europa ist die Tradition der Aufklärung wohl noch zu mächtig, um unmittelbar bedroht zu sein. Doch die Kreationisten formieren sich inzwischen auch hier zaghaft, und aktuelle Umfragen in diversen Ländern belegen, dass erstaunlich viele Menschen im Zweifelsfall lieber die Genesis beim Wort nehmen als die Evolutionstheorie – schon deshalb vielleicht, weil Letztere weniger eingängig wirkt.
Wird der Urknall bald ein Fall für die Geschichte sein? Der letzte Strohhalm für verzweifelte Atheisten und Agnostiker, die sich dem geballten Unwissen einer christlich-fundamentalistischen Übermacht hartnäckig verschließen? Wie lange wird es dauern, bis der Vatikan triumphal verkündet: Und die Erde ist doch eine Scheibe – sie hat den Urknall unbeschadet überstanden!