Tsunami und Aufklärung

Tsunami und Aufklärung

Drucken

Schriftgröße

In den Feuilletons für die gebildeten Schichten liest man in diesen Tagen viel vom Erdbeben, das im 18. Jahrhundert Lissabon zerstörte. Die Ereignisse von damals sind der aktuellen Katastrophe in Südasien sehr ähnlich. „Das Blutbad beim Einnehmen einer Stadt“, schrieb ein Augenzeuge, „ist so schrecklich nicht wie das Erdbeben“, das eine gewaltige Flutwelle auslöste, die schließlich das Vernichtungswerk in der portugiesischen Hauptstadt vollendete. 30.000 Tote waren an jenem 1. November 1755 zu beklagen. Und wenn heute die Welt nicht zuletzt deswegen so erschüttert ist, weil neben der einheimischen Bevölkerung auch tausende Touristen aus der so genannten Ersten Welt betroffen sind, so war der Schrecken damals so groß, weil die Natur nicht irgendwo „hint’ in der Türkei“ gewütet, sondern eine der reichsten Städte im europäischen Zentrum getroffen hatte.

Interesse am Lissabonner Erdbeben weckt aber heute vor allem auch die Tatsache, dass das grausige Geschehen damals die Geistesgeschichte so tief greifend beeinflusste. Die größten Denker der Zeit beschäftigten sich mit den Ereignissen in Portugal: Kleist und Kant, Voltaire und Rousseau und viele andere verfassten Oden, Romane, Polemiken und philosophische Abhandlungen. Und in der Tat: Nach Lissabon dachte die Welt grundlegend anders als zuvor.

Der metaphysische Optimismus, wonach Gott die „beste aller Welten“ (Leibnitz) geschaffen habe, lag in Trümmern. „Wenn das die beste aller Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein“, lässt Voltaire seinen Candide zynisch sagen. Die Theodizee, die Frage, wie Gott so devastierende Geschehnisse wie das Erdbeben zu Lissabon zulassen könne, wo er doch allmächtig und gütig sei, trieb die Denker um. Der Abschied von Gott nahm damit seinen Anfang.

Rousseau wiederum, der Gegenspieler Voltaires, legte die Grundlagen für eine andere Variante der Aufklärung: die moderne Zivilisationskritik. Die Natur sei gut, der Mensch jedoch verderbe alles, diagnostizierte der Urvater der Grünen: Hätte man in Portugal anders gebaut, wären nicht so viele durch das Beben, die Feuersbrunst und die Flut zu Tode gekommen.

Im Interesse an diesen historischen Ereignissen schwingt auch die Frage mit, welche Veränderungen im Denken die Flutkatastrophe vom Stefanitag 2004 bewirken könnte.

Die Philosophen und Dichter werden jetzt wohl nicht mit großen Theorien und Erzählungen auf die Tragödie reagieren. Großes Denken ist heute nicht gerade en vogue. Aber kleine Verschiebungen im globalen Bewusstsein sind nicht auszuschließen.

Gewiss: Die Theodizee hat heute keine Kraft mehr. Da mag man allerorten eine Renaissance der Religion beobachten, an den allmächtigen und gütigen Gott glaubt aber – vor allem auch nach Auschwitz – in dieser säkularisierten Welt kaum mehr jemand. Deswegen klingen die Auslassungen der Theologen, Bischöfe und Priester zum Thema vielfach so wolkig und zuweilen geradezu lächerlich. Auch Zivilisationskritik à la Rousseau greift diesmal nicht so recht. Da mag man das nicht vorhandene Frühwarnsystem beklagen oder Anstoß an den Auswüchsen der Tourismus-Industrie nehmen: Letztlich war an dem Tsunami aber – und das ist für viele besonders schmerzlich – absolut niemand schuld.

Ganz im Unterschied zum 11. September 2001. Der gewaltige Schock, den die Terroranschläge in New York und Washington auslösten, wird nun überdeckt vom Tsunami-Trauma. Damit besteht die Chance, dass die Welt sich zunehmend bewusst wird, dass der „Kampf gegen den Terror“, den die USA geradezu obsessiv führen, wichtig ist, aber nur ein Element jener Weltpolitik darstellt, die am Anfang des 21. Jahrhunderts gebraucht wird.

Die Bilder der Tragödie zeigen der Welt eindringlich die elenden Lebensbedingungen der Menschen in den betroffenen Ländern und untermauern die dringende Notwendigkeit verstärkter Entwicklungspolitik. Dass diese in den vergangenen Jahren international dramatisch heruntergefahren wurde, wirkt vor dem Hintergrund der Bilder aus Südasien nun umso obszöner.

Der Tsunami mag als eine der größten Naturkatastrophen der Menschheit in die Geschichtsbücher eingehen“, schreibt Barbara Stocking von der Hilfsorganisation „Oxfam“. Aber die globale Welle des Mitgefühls und der Solidarität könnte gleichfalls historisch werden: „Der Anfang des Jahres 2005 könnte als jener Moment in Erinnerung bleiben, an dem die Menschen weltweit beschlossen haben, dass Armut und Leiden nicht existieren müssen und nicht existieren dürfen“, hofft Stocking. Diese Erkenntnis mag auch durch die vielen Berichte gestärkt werden, die davon erzählen, wie selbstlos die einheimische Bevölkerung von Sri Lanka, Indien und Thailand den westlichen Touristen nach der Katastrophe half, wie die Menschen dort das Letzte, was sie hatten, mit den Gästen aus Übersee teilten.

Sicher wird die internationale Solidarität mit den asiatischen Ländern wieder ermatten. Die Berichte über mysteriös versickernde Hilfsgelder werden auch nicht lange auf sich warten lassen. Aber diese Tage und Wochen, in denen nun Sympathie und Empathie einen ungeahnten Aufschwung nehmen, in denen das erste Mal die Menschen in dieser unserer globalisierten Welt auch global fühlen und real erleben, dass wir in einer Welt leben – dieser emotionale Flash könnte, auch wenn er nur kurz dauern mag, eine nachhaltige Wirkung im menschlichen Bewusstsein zeitigen.

Vielleicht bringt die Flutkatastrophe 2004, so wie das Lissabonner Erdbeben 1755, doch auch einen Aufklärungsschub. Einen kleinen zumindest.