Türkei

Türkei: Feuer im Haus

Feuer im Haus

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Sie hatte es wirklich versucht. Keine politische Volte war der türkischen Regierung zu gewagt, keine Kehrtwendung zu peinlich, um ihr Land halbwegs unbeschadet durch die Krise im Nachbarland Irak zu manövrieren. Ankara versprach Hilfstruppen – und zog das Angebot im letzten Augenblick zurück; Ankara drohte mit einer Invasion im Nordirak – und gelobte am nächsten Tag friedliche Kooperation. Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, bloß niemanden ernsthaft und nachhaltig vergraulen, nicht die Amerikaner, nicht die irakische Übergangsregierung, nicht die Europäer und schon gar nicht die eigenen Wähler. Lange sah das wie eine weise – und erfolgreiche – Strategie Ankaras aus.

Bis der Terror nach Istanbul kam. Am 15. November fuhren Selbstmordattentäter mit Kleinlastwagen voller Sprengstoff in zwei Synagogen im Zentrum der 12-Millionen-Stadt. 25 Menschen starben, 250 wurden verletzt. Am 20. November fuhren zwei weitere Lastwagen in die türkische Zentrale der HSBC-Bank in Istanbul und in das britische Konsulat. Die Wirkung dieser Bomben war noch verheerender, vor allem weil das Konsulat an der immer stark belebten Fußgängerzone des Stadtteils Beyoglu liegt. Diesmal wurden mehr als 400 Menschen verletzt, 27 starben, unter ihnen der britische Generalkonsul. Wenig später erhielten türkische Zeitungen Bekennerschreiben des Terrornetzwerks al-Qa’ida und einer türkisch-islamistischen Gruppe namens „Frontkämpfer für einen Islamischen Osten“ (IBDAC). Auch die türkische Regierung und der britische Außenminister Jack Straw machten sofort al-Qa’ida für die Anschläge verantwortlich.

Die Türkei hat in ihrer jüngsten Geschichte viele Attentate erlebt: Kurdische Nationalisten jagten Polizeistationen, Banken und Reisebüros in die Luft, rechte Todesschwadronen ermordeten linke Intellektuelle. Aber Explosionen von einem solchen Ausmaß gab es noch nie. Zwar wurden die Täter der Synagogen-Anschläge als Türken aus Ostanatolien identifiziert (siehe Kasten Seite 89), doch die Ermittler glauben, dass so große, gut koordinierte Aktionen nur mithilfe von Hintermännern gelingen konnten, die zu Widerstandsbewegungen im Irak oder zu al-Qa’ida gehören.

Bombenwarnung. Schon Mitte Oktober war in Bagdad vor der türkischen Botschaft eine Autobombe explodiert. Man sah dies als Warnung vor einer geplanten Stationierung türkischer Soldaten im Irak; die Pläne wurden kurz darauf auf Eis gelegt. Viele Türken dachten, mit einer gemäßigt islamistischen Regierung in Ankara, die sich im Irak nicht einmischen will, wäre das Land aus der Schusslinie. Sie irrten sich.

Die Anschläge trafen jüdische und britische Einrichtungen. Aber sie galten auch der bei Fundamentalisten besonders verhassten türkischen Regierung. Der gemäßigte Islamist Recep Tayyip Erdogan wurde mit seiner Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) vor einem Jahr von den Türken mit überwältigender Mehrheit an die Macht gewählt. Er schien die einzige Alternative zu den verkrusteten Strukturen der alten politischen Elite zu verkörpern. Andere Parteien beriefen sich zwar auf den Gründervater der modernen Türkei, Kemal Atatürk, und dessen Ideen von einer strikten Trennung von Religion und Staat. Doch unter dem Deckmantel des Kemalismus wucherten Korruption und Vetternwirtschaft. Erdogan versprach, alles anders zu machen.

Eine radikale Kursänderung wollten auch die türkischen Fundamentalisten. Bloß: Der Zug fuhr für sie in die falsche Richtung. Der vermeintliche Islamist Erdogan will der Türkei nicht Schleier und Scharia verordnen, sondern sein Land öffnen und in die Europäische Union führen. Das Kopftuchverbot für Frauen in öffentlichen Gebäuden gilt nach wie vor, die Türkei ist noch immer der wichtigste Verbündete der USA und Israels in der Region. Aus fundamentalistischer Sicht hat sich Erdogans Regierung des schlimmsten Verbrechens schuldig gemacht: des Verrats.

Allein die Existenz der modernen Türkei ist eine stetige Kampfansage an den Islamismus. 1922 hatte der junge Offizier Mustafa Kemal den Sultan von der Macht vertrieben und seine Vision von einem modernen Staat umgesetzt: Das Tragen von Kopftuch und Fez in der Öffentlichkeit wurde verboten, das Schulwesen der Geistlichkeit entrissen, religiöser Widerstand brutal unterdrückt.

Kemal, der 1923 zum Präsidenten der Republik gewählt wurde und sich „Vater der Türken“ (Atatürk) nannte, schaffte es binnen weniger Jahre, die Religion vom Staat zu trennen und die Türkei westlich auszurichten. Heute kämpfen Atatürks Nachfolger mit einer neuen Generation religiöser Politiker um sein Erbe. Es ist auch ein Kampf um Symbole: Als Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer Ende Oktober zum großen Empfang anlässlich des 80. Jahrestages der Staatsgründung lud, blieben die Abgeordneten der AKP demonstrativ fern. Ihre Ehefrauen hätten für den Empfang den Schleier ablegen müssen.

Beinharte Islamisierung? Dass heute gemäßigte Islamisten die streng säkularen Kemalisten in der Regierung abgelöst haben, mache den Staat erst recht zur Zielscheibe moslemischer Fundamentalisten, warnt die englischsprachige Tageszeitung „Turkish Daily News“: „Für al-Qa’ida sind Parteien wie die AKP das größte Hindernis. Die Fundamentalisten wissen genau, dass, solange die AKP an der Macht ist, sie in der Türkei niemals ein Taliban-ähnliches Regime installieren könnten.“

Recep Erdogan hat großen Rückhalt in der Bevölkerung. Aber er kann es weder hartgesottenen Kemalisten noch verstockten Islamisten recht machen. Militär und Verwaltung beschuldigen ihn, er wolle unter pseudoliberalen Vorzeichen eine beinharte Islamisierung der Gesellschaft durchziehen. Als Beweis dafür sehen sie den Kopftuch-Fanatismus der AKP und den Plan der Regierung, Religionsschulen den gleichen Status wie staatlichen Schulen zu gewähren.

Für radikale Islamisten und konservative Mitglieder der AKP hingegen ist der Regierungschef ein Büttel des Westens, der sich den Europäern, noch mehr aber Amerikanern und Israelis an den Hals wirft. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht gerecht. Denn die Bündnispolitik hat die heutige türkische Regierung von ihren Vorgängern geerbt.

Die Türkei war der erste Staat der islamischen Welt, der Israel anerkannte. Schon Anfang der fünfziger Jahre knüpften die Geheimdienste der beiden Länder Kontakte, 1958 wurde – sehr zum Ärger der arabischen Nachbarländer – ein Militärpakt geschlossen. In den folgenden Jahrzehnten folgten weitere Vereinbarungen über den Ausbau der Waffen- und Wirtschaftshilfe. 1979 stürzte in Persien der Schah, die Vereinigten Staaten verloren ihren treuesten Vasallenstaat im Nahen Osten. Die Türkei, seit 1952 auch Mitglied der NATO, bot sich als Ersatz an.

Seither gibt es zwischen den drei Staaten enge Kooperationen: Die USA liefern den Türken das Kriegsgerät, die Israelis bringen es auf den letzten Stand der Technik. Es gibt auch Kooperationen zwischen Ankara und Jerusalem bei der Energie- und Wasserversorgung und im Tourismus. Sicherheit und Verteidigung haben jedoch Priorität. Israel half den Türken mit Satellitenaufklärung bei der Bekämpfung der kurdischen Rebellenarmee PKK, dafür lassen diese in Israel ihre amerikanischen M-60-Panzer auffrisieren.

Nach den Anschlägen auf die Synagogen waren neben dem israelischen Außenminister auch Anti-Terror-Spezialisten aus Jerusalem sofort zur Stelle. Israel und die Türkei wollen jetzt ihre Zusammenarbeit weiter verstärken und demnächst gemeinsame Truppenübungen abhalten. Die Nachbarländer Syrien, Libanon und Iran fühlen sich durch die Koalition regelrecht umzingelt. Für islamische Fundamentalisten ist die Türkei durch den Pakt zum Gehilfen des großen Satans geworden.

Zerstörte Dörfer. Ironie der Geschichte: Gerade die hochgerüstete türkische Armee schuf mit ihrem brutalen Vorgehen im eigenen Land den Nährboden für den islamischen Terror. Als die linksradikale kurdische Arbeiterpartei (PKK) den bewaffneten Kampf für ein unabhängiges Kurdistan begann, reagierten die türkischen Generäle mit einer Politik der verbrannten Erde. Tausende Dörfer wurden zerstört, ihre Bewohner vertrieben, ganz Ostanatolien wurde wirtschaftlich ausgehungert. Noch heute gibt es in den Gebieten nahe der irakischen und iranischen Grenze fast keine Arbeitsmöglichkeit. Die Analphabetenrate beträgt fast 40 Prozent. Kein Wunder, dass sich junge Türken dieser Region radikal-islamistischen Gruppen wie der „Türkischen Hisbollah“ oder den „Frontkämpfern für einen Islamischen Osten“ anschlossen, die tapferen Kämpfern das Paradies auf Erden (und im Himmel) versprachen.

Die Selbstmordattentäter in Istanbul kamen, ebenso wie ihr Helfer, aus Bingöl, einer Kleinstadt in Ostanatolien, die im Krieg zwischen PKK und Armee zuerst ausgeblutet und dann von Flüchtlingen überschwemmt wurde. Die Dörfer rund um die Stadt liegen noch immer in Trümmern, Arbeit gibt es nicht, wer Karriere machen will, wird kriminell oder wandert aus.

Recep Erdogan hat in seinem Wahlkampf zwar eine Wirtschafts- und Bildungsoffensive für Anatolien versprochen, aber davon ist nicht viel zu sehen. Viele Restriktionen gegen Kurden wurden unter der neuen Regierung formal aufgehoben, doch der kemalistische Beamtenapparat behindert den Bau neuer Schulen und Kultureinrichtungen, so gut es geht. Und in den Polizeigefängnissen wird noch immer gefoltert.

In ihrem jüngsten Bericht über die Türkei kritisiert die EU-Kommission die schleppende Umsetzung von Reformen und den immer noch starken Einfluss der Militärs auf die Politik. Vermutlich hätte sich Premier Erdogan diese Mahnungen wirklich zu Herzen genommen, aber seit vergangener Woche hat er andere Probleme. Sein Land wurde nicht nur zur Zielscheibe, sondern auch zu einer Quelle des internationalen Terrors. Die Europäer werden jetzt mehr soziales Engagement und Bekämpfung der Armut verlangen, die Amerikaner militärische Einsätze fordern.

Vor allem aber braucht Erdogan zur Bekämpfung des Terrorismus die Unterstützung der Armee. Eine langsame Entmachtung der Generäle, die gerade erst eingeleitet wurde, dürfte nun für längere Zeit gestoppt sein. Die Stimmen der Militärs werden wieder Gewicht bekommen.

Als die Stationierung türkischer Soldaten vor einem Monat am Widerstand des irakischen Regierungsrates scheiterte, warnte Generalstabschef Hilmi Özkök, dass seine Truppen dennoch in Bereitschaft und „zu allem entschlossen“ seien: Das Feuer im Nachbarhaus müsse gelöscht werden, bevor es übergreife. Jetzt wird der General erst einmal den Brand im eigenen Haus bekämpfen.