Halbmondsüchtig

Türkei. Der rasante Auftsieg eines verhinderten EU-Mitgliedslandes

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Auch gute Nachrichten können bisweilen medientauglich sein. Vergangene Woche kehrte der türkische Publizist Guven Sak von einer Israel-Reise heim und hatte ausschließlich Positives zu berichten: freundliche Menschen, keine Spur von antitürkischen Ressentiments. Als er am Abend in einem noblen Restaurant in Tel Aviv dinierte, kredenzte die Kellnerin spontan eine Flasche Champagner. „Wir sind doch jetzt wieder Freunde!“, begründete sie die Einladung. Zurück in der Türkei schrieb der entzückte Guven Sak in der Tageszeitung „Hürriyet Daily News“: „Es ist heute wieder gut, ein türkischer Reisender in Israel zu sein.“

Die Anekdote wäre durchaus ausbaufähig. Ein türkischer Reisender könnte auch Gaza besuchen, Amman, Beirut, Teheran, Kairo oder Tunis, und überall gäbe es gute Gründe, ihn mit Champagner zu bewirten. Das kommt nicht von ungefähr: Die Türkei verfolgt unter ihrem Langzeit-Premier Recep Tayyip Erdogan (Bild) einen ehrgeizigen Plan. Sie will ein Player werden, an dem in der Region des Nahen und Mittleren Ostens bis hinunter nach Nordafrika kein Weg vorbei führt. Vieles spricht dafür, dass ihr das gelingen wird.
Die Wiederannäherung von Erdogan und seinem israelischen Amtskollegen Benjamin Netanjahu ist nur ein Puzzle-Teilchen im großen geopolitischen Mosaik, an dem Ankara bastelt. Netanjahu rief Ende März Erdogan an, um sich – zumindest formell – für den israelischen Angriff auf den Schiffs-Konvoi zu entschuldigen, der im Mai 2010 Hilfsgüter nach Gaza bringen sollte. Damals waren acht türkische Staatsbürger ums Leben gekommen. Mit dem Telefonat ist die diplomatische Eiszeit beendet, die strategische Partnerschaft zwischen Israel und der Türkei kann neu aufleben. Erdogan ließ sich in seiner Heimat als Politiker mit Rückgrat und Durchhaltevermögen feiern, und die israelische Zeitung „Haaretz“ analysierte trocken: „Israel braucht die Türkei mehr, als diese aufstrebende und wirtschaftlich blühende Regionalmacht Israel braucht.“

In derselben Woche ließ Abdullah Öcalan, der legendäre Anführer der kurdischen Rebellenorganisation PKK, eine sensationelle Nachricht verlautbaren: Ab sofort gelte zwischen seiner Organisation und dem türkischen Staat Waffenruhe. Das Ziel weiterer Verhandlungen sei „eine Demokratisierung auf dem Gebiet der ganzen Türkei“, so der seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte PKK-Chef. Damit ist das Ende eines drei Jahrzehnte dauernden Kampfes, der an die 40.000 Menschenleben gekostet hat, in Sicht.

„Erdogans kurdisches Gambit“
Ein endgültiger Frieden mit dem kurdischen Volk würde Premier Erdogan zur historischen Figur werden lassen. Dies hätte zudem enorme innen- und außenpolitische Konsequenzen: Erdogan möchte dank einer neuen Verfassung, die den Kurden Autonomierechte einräumen soll, die Türkei zu einem präsidentiellen Staat umbauen – mit Erdogan selbst als nächstem mächtigen Präsidenten. „Erdogans kurdisches Gambit“ nennt der Think Tank Carnegie Endowment for Peace dieses taktisch kluge Manöver.
Die Hälfte der rund 30 Millionen Kurden lebt in der Türkei. Der Rest verteilt sich auf Iran, Irak, Syrien und Armenien. Erdogan weiß, dass für seine Vision einer regionalen Vormachtstellung der Türkei eine Aussöhnung unabdingbar ist.

Mit den irakischen Kurden ist Ankara seit längerem handelseins. Die Regionalregierung der Autonomen Region Kurdistan in Arbil hat in der Türkei ihren wichtigsten Wirtschaftspartner gefunden. Ankara erhofft sich dafür Zugang zu den Öl- und Gasfeldern, um von den Energielieferungen Russlands und des Iran unabhängiger zu werden.

Die Türkei streckt ihre Fühler nach allen Seiten aus und klärt pragmatisch ab, was möglich ist. Mit Israel redet man wieder – was die Regierung in Ankara nicht davon abhält, ihre Palästinenserpolitik voranzutreiben. Schon in den kommenden Tagen will Erdogan demonstrativ in den Gaza-Streifen reisen – also ausgerechnet dorthin, wohin die israelische Armee den von der „Mavi Marmara“ angeführten Schiffskonvoi nicht hatte fahren lassen.
Auch im Rest der Region sucht Ankara seine Chance: Der Plan einer Freihandelszone mit Syrien, Jordanien und dem Libanon stand unmittelbar vor der Umsetzung, als der Bürgerkrieg in Syrien ausbrach. Ankara musste seine Nachbarschaftskonzeption, die den treffenden Titel „Null-Probleme-Politik“ trug, in Bezug auf Damaskus revidieren – und Erdogan zögerte nicht lange.

Bei allem Pragmatismus ist die türkische Außenpolitik doch von einer Konstante bestimmt: dem Islam. Das International Institute for Strategic Studies sieht in Außenminister Ahmet Davutoglu den bestimmenden Mann der geopolitischen Avancen. Dessen Ideologie kann man in von ihm verfassten Büchern nachlesen, etwa die Vorstellung, die weltweite Gemeinschaft der Muslime müsse zusammenarbeiten, damit der Islam die „bestimmende Zivilisation“ in der Welt werde. Davutoglu ist auch überzeugt, dass die osmanische Vergangenheit in den Beziehungen der Türkei zu ihren Nachbarn notwendigerweise nachwirkt – und zwar im Sinne einer türkischen Hegemonie.

Aufstieg in der Beliebtheitsskala
Früher war die Türkei in den arabischen Ländern freilich wenig geachtet. Für Säkulare und Modernisierer unter den Arabern waren die Türken die Nachfahren der Osmanen, welche die arabische Welt jahrhundertelang schlecht regiert und daran gehindert hatten, am europäischen Fortschritt zu partizipieren. Für fromme Araber hingegen hatten sich die Türken unter Staatsgründer Kemal Atatürk vom Islam losgesagt, Europa nachgeäfft und waren dabei noch nicht einmal sehr erfolgreich gewesen. Man mochte die Türken also nicht besonders. Noch im Jahr 2002 lag die Türkei bei Meinungsumfragen in der Region auf den unteren Rängen der Beliebtheitsskala.

Das hat sich mittlerweile radikal geändert. Im Jahr 2010 war das Land erstmals gleich nach Saudi-Arabien das Zweitbeliebteste der Region. Was die Nachbarstaaten an der Türkei vor allem anzieht, sind neben den relativen Freiheiten, die seine Bürger genießen, seine Konsumtempel und TV-Soaps. Dem Staatsmodell, das Islam und Demokratie zu vereinen versucht, eifert – abgesehen von Tunesien – derzeit noch niemand nach. „Die Türkei kann nie die bestimmende Regionalmachtsein, schon allein weil sie kein arabisches Land ist“, sagt der grüne Europaparlamentarier, Ökonom und Türkei-Experte Joost Lagendijk, der seit 2009 in Istanbul lebt.
Der stetige Wirtschaftsaufschwung trägt zum neuen Selbstbewusstsein wesentlich bei: Seit Ausbruch der globalen Finanzkrise versuchen immer mehr türkische Unternehmen in arabischen Ländern zu investieren, um den Einnahmenausfall im Europageschäft auszugleichen. Türkische Exporte nach Libyen, Ägypten, Saudi-Arabien und Tunesien steigen kontinuierlich. Hinzu kommen die guten Beziehungen zum Iran: Das Geschäft Öl aus dem Iran gegen Gold aus der Türkei floriert, die internationalen Sanktionen gegen das Mullah-Regime in Teheran ignoriert Ankara geflissentlich.
Ökonomischer Erfolg zieht auch Migration an. Während in Europa beträchtliche Mittel in den Schutz der Grenzen fließen, investiert Ankara in die Steuerung einer Zuwanderung, die den wirtschaftlichen Aufschwung unterstützt. Eine neue Generaldirektion für Migrationsmanagement soll 3000 Mitarbeiter beschäftigen. „100 sind für Migrationsattachés an den türkischen Botschaften im Ausland reserviert, die gezielt erfolgreiche Türken aus der Diaspora ins Land zurückholen sollen“, sagt Sabine Kroissenbrunner, österreichische Gesandte in Ankara.

Bleibt die Frage: Wohin steuert die Regierung Erdogan? Will sie als westliches Land ein Teil Europas sein oder doch lieber ein islamisch-religiöses, das seine Rolle im Nahen und Mittleren Osten sucht?
Wahrscheinlich greift die Entweder-Oder-Frage zu kurz, denn: „Die Türkei islamisiert und modernisiert sich gleichzeitig“, bringt es die türkische Frauenrechtlerin Seyran Ates auf den Punkt. Unter Premierminister Erdogan wurde das Strafrecht ­erneuert, die Macht des Militärs eingedämmt, das Justizsystem an westliche Maßstäbe angepasst, der Umweltschutz vorangetrieben. Zum anderen registrieren in- wie ausländische Beobachter eine schleichende Islamisierung der Gesellschaft: Religiöse Schulen boomen, neue Moscheen schießen aus dem Boden, Islamkritiker werden verfolgt. Erst vergangene Woche wurde der türkische Starpianist Fazil Say zu einer zehnmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Der Grund: Say hatte sich über die Medienplattform Twitter über Muslime lustig gemacht.

„Das Land ist bereit"
Dass in der Türkei heute eine fromme Elite herrscht, verdankt sich nicht zuletzt dem seltsam konspirativen Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Er stammt aus der osttürkischen Provinz Erzurum, lebt seit 1998 im US-Bundesstaat Pennsylvania, und steht für eine moderne Lesart des Koran. Seine weltumspannende Bewegung, in der sich religiöse Sittenstrenge, ein calvinistisches Arbeitsethos und Weltläufigkeit verbinden, entwickelte sich zu einem Wirtschaftskonglomerat, zu dem Schulen, Banken, Versicherungen, Medienkonzerne, darunter die größte türkische Tageszeitung „Zaman“ gehören. Gülen-Sympathisanten sitzen an Schaltstellen in Justiz, Polizei und an Universitäten. Sie unterstützen die Regierungspartei AKP – und werden von ihr unterstützt.

„Das Besondere am außenpolitischen Konzept der Türkei ist, dass trotz Islamisierung keine Abkehr von ihrer traditionellen Westbindung stattfindet“, sagt die türkischstämmige Politikwissenschafterin Gülistan Gürbey aus Berlin. Ankara hat als NATO-Mitglied beste Verbindungen zu den USA. Für Washington ist die Türkei neben Israel der einzige verlässliche Partner in dieser so fragilen Region. Israel und die Türkei blieben trotz diplomatischer Zerwürfnisse wirtschaftlich stets verbunden. Zwar ging die Zahl israelischer Touristen in der Türkei zurück, der Handel nahm in den vergangenen drei Jahren aber weiter zu. Und: Keine andere ausländische Fluggesellschaft fliegt Tel Aviv häufiger an als die staatliche Turkish Airlines, mit fast 40 Flügen in der Woche.

Begeht die EU also einen strategischen Fehler, wenn sie die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seit Jahren aussetzt? Obwohl die EU nicht mehr die oberste Priorität Ankaras ist, ,,möchte die Türkei ein Teil der Europäischen Union sein. Das Land ist bereit, die dafür nötigen Reformen durchzuführen“, sagt Savas Genc, Politikwissenschafter an der Fatih Universität in Istanbul.

Durch die historische Versöhnung mit den Kurden wäre jedenfalls ein wesentliches Hindernis für eine Intensivierung der Beitrittsverhandlungen beseitigt. Doch so einfach ist die Sache nicht.

Zu Recht beklagen Oppositionelle, dass der Regierungsstil unter Erdogan autoritärer geworden ist: Nach wie vor sitzen Hunderte Funktionäre der gesetzlich zugelassenen Kurdenpartei BDP als angebliche Sympathisanten der militanten kurdischen Arbeiterpartei PKK im Gefängnis. Regierungskritiker werden systematisch kontrolliert und schikaniert. Die größten Medien des Landes stehen fast alle unter der Kontrolle der Regierungspartei AKP. 60 Reporter sind in Haft, so viele wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr. Der jüngste Bericht der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen reiht die Türkei bei der Pressefreiheit nur noch auf Platz 154 – hinter den Irak und China. Die Regierung versuche „Institutionen, die sie als Gefahr sieht, zu zermürben, darunter auch die Justiz“, klagt die ehemalige Oberste Richterin Emine Ülker Tarhan.

Im kommenden Jahr wird Recep ­Tayyip Erdogan laut türkischer Verfassung als Premier abtreten müssen. Nach drei Legislaturperioden darf er kein weiteres Mal für dieses Amt kandidieren. Und dann? Erdogan will um jeden Preis das Amt des Staatspräsidenten übernehmen – und in dieser Funktion die Vormachtstellung im Nahen und Mittleren Osten vorantreiben. Europa wird den Aufstieg der Türkei wohl auch weiterhin mit einer Mischung aus Staunen und Unbehagen verfolgen. Türkische Reisende dürfen sich in vielen Hauptstädten auf Champagner freuen – aller­dings nicht in Berlin, Paris oder Wien.