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TV: Schein oder nicht sein

Schein oder nicht sein

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Keiner sagt hier zum Abschied leise Servus, denn nach dem letzten Vorhang des Willi-Forst-Musicals im Wiener Metropol mit Alfons Haider im Heldenpart steht Operette auf dem Spielplan – eine Operette mit dem Arbeitstitel „Im Land der Lächler“. Es sind nämlich die „Seitenblicke“ da.

Längst haftet diesem Satz auf dem heimischen Gesellschaftsparkett eine Art Erlösungcharakter an. Zu den drei großen narzisstischen Kränkungen, die Nikolaus Kopernikus, Charles Darwin und Sigmund Freud der Menschheit beschert haben, kommt für den Homo austriacus potenziell eine vierte hinzu: nicht für die „Seitenblicke“ als würdig erachtet worden zu sein.

„Man gewann ja zunehmend den Eindruck“, konstatiert der ehemalige Burgtheater-Direktor und geläuterte „Seitenblicke“-Phobiker Claus Peymann, „dass in Österreich Dinge, die nicht in den ,Seitenblicken‘ stattgefunden haben, genauso gut gar nicht passieren hätten müssen.“

Seit genau 16 Jahren existiert die Sendung, deren ursprüngliche Mission in der Zerschlagung des Printmonopols auf die Adabei-Berichterstattung bestand. Eine merkwürdig bedrohliche Augenprothese mutierte zum Signation-Symbol für die allabendliche Peepshow einer Neo-Elite, in der stets öffentlich-rechtlich verordnetes Schönwetter herrscht. Am 11. Oktober wird dieses Auge zum 5000. Mal seinen Blick auf ein Land richten, das der schwarze Satiriker Helmut Qualtinger einst als „Heimat großer Zwerge“ beschrieben hat.

Und wie immer werden 700.000 bis 900.000 Zuschauer dabei sein, darunter vorrangig Frauen in der zweiten Lebenshälfte, wenn die 15-köpfige Redaktions-crew der „Seitenblicke“ durch den österreichischen „Streichelzoo“, so der interne Jargon für das abzubildende Gesellschaftskonglomerat, streift.

Quietschfidel. Im Gegensatz zu den Boulevardmagazinen des deutschen Privatfernsehens wie „Blitz“, „Exklusiv“ und „taff“, in denen Samenraub, rauchende Beziehungstrümmer, Koks-Geständnisse und Brustimplantate zum täglichen Geschäft gehören, hat der prototypische „Seitenblicke“-Mensch nie Widrigkeiten wie Pleiten, Pannen und Trennungen zu bewältigen. Er ist stets guter Laune, sieht im Rahmen seiner Möglichkeiten blendend aus und ist Teil eines quietschfidelen Geschehens, „das oft das so Unwesentliche in die Wesentlichkeit überführt“, so der ehemalige Burgtheater-Direktor Claus Peymann.

„Bei uns muss niemand die Hosen runterlassen“, erklärt die Mode-Doyenne der „Seitenblicke“, Catharina Braunsteiner. „Er kriegt sie eher noch raufgezogen. Merke ich, dass einer sich nicht wirklich ausdrücken kann, springe ich helfend ein.“
Dass die Küsse-statt-Nüsse-Operette trotz des täglichen Tragödien- und Dramen-Voyeurismus im internationalen VIP-Segment im Jahresdurchschnitt über einen nationalen Marktanteil von 30 Prozent verfügt, lässt sich mit der eskapistischen Sehnsucht nach heiler Welt und der spezifischen Lust des Österreichers am eigenen Saft erklären. Des Menschen „Affinität zur Glückssuche“, so der TV-Produzent und Autor Alexander Kluge, „überwiegt am Ende des Tages alle Verstandestugenden“.

Die Illusion von Nähe und die vermeintliche Greifbarkeit der handelnden Personen tragen ein Übriges zur Breitenwirkung des Formats bei. „Was wir machen“, so der deklarierte „Seitenblicke“-Junkie Richard Lugner, „geht den Leuten halt einfach viel näher, als wenn sich die Lopez und der Affleck trennen.“ Das dargebotene Prominenten-Material wird durch seine stetige Wiederkehr zum integrativen Bestandteil der österreichischen Familie und wiegt die Daheimgebliebenen im süßen Glauben, selbst Teil der in der Endlosschleife rotierenden Karawane zu sein. „Dieses komische Holzauge, das da auf uns runterblickt“, diagnostiziert der Dichter Franzobel, „erfasst ja alles, wo sich nur zwei Prominente aufhalten. Diese Sprücheklopf-Sendung ist das Symbol für die Vermenschlichung der Leute, die man eigentlich beneiden würde. Aber durch ihre Witzchen wirken sie nicht mehr abgehoben. Das hat offensichtlich beruhigende Wirkung.“

Die österreichische Gesellschaft erweist sich mit ihrer barocken Schwäche „für alles oberflächliche Pitschi-Patschi“, so der ÖVP-Politiker Erhard Busek, und ihrer Lust an der Selbstinszenierung als besonders versiert für das Spiel mit der begehrtesten Spezies der Spätmoderne: der Prominenz. Für „Seitenblicke“ wird in Badewannen gestiegen, wettgemolken, in den Spagat gesprungen, auf Schiffen geturnt und mit letzter Kraft gekrächzt „Ich bin so dankbar, dass es mich gibt“, wie das die umtriebige Operetten-Legende Harald Serafin erledigte.

„Menschen wie Serafin, Birgit Sarata oder Otto Schenk, die auch einen leeren Raum beleben können“, weiß die „Seitenblicke“-Sendungsverantwortliche Evelyn Prochaska-Pluhar, „sind eben ein Geschenk. So was können die in Deutschland nur suchen.“

Kreiskys Credo. Im Vergleich zu Deutschland, der Schweiz und Amerika sei Österreich „viel egalitärer“ strukturiert, erklärt der Historiker Ernst Hanisch. „Die Unterschiede zwischen Reich und Arm sind viel weniger ausgeprägt. So verschwimmen auch die Grenzen zwischen den einzelnen Schichten.“

In der Ära Kreisky, der frühzeitig erkannte, dass das Schaukochen einer Eierspeise Sympathien beim Wähler wecken kann, bildete sich eine neue Elite des schönen Scheins, in der Kunst, Wirtschaft, Politik, Geld und Aristokratie sukzessive ihre Berührungsängste abbauten. In der Spaßdekade der Achtziger wurde das Elite-Ideal zusehends verwässert, weil die Masse auf Integration ins Geschehen pochte. Plötzlich meldeten City-Friseure, Boutiquen-Entrepreneusen, Scheidungs-Millionärinnen, Hauben-Köche, Kleindarsteller, Automobil-Generalvertreter und Baumeister ebenfalls ihre Ansprüche auf Wahrnehmung an und erlangten sie auch durch beharrliche Scheinwerfer-Präsenz.

„Selbstinszenierung und Statussymbole“ (Hanisch) wurden zu den stärksten Waffen der selbst ernannten Prominenz. In diese „Jeder kann mitspielen“-Aufbruchstimmung fiel auch die Gründung der „Seitenblicke“ Ende September 1987, auf deren Entwicklung der Miterfinder und damalige ORF-Generalintendant Thaddäus Podgorski heute nostalgisch zurückblickt: „Mein Konzept war es, die Leute wie merkwürdige Käfer und Spinnen zu betrachten. Diese Distanz ist inzwischen leider völlig verloren gegangen. Mittlerweile wird ja von jedem Bankdirektor berichtet, der in Gramatneusiedl drei Freunde einlädt.“

Den Anschein von Geschehen zu schaffen unterliegt eben auch den Sachzwängen der Angebotslage. 500 Einladungen trudeln im Schnitt zwar allwöchentlich bei Purzl Klingohr ein, der mit seiner Firma „Interspot“ seit sechs Jahren als Produzent fungiert. Doch das Spektrum reicht vom Jubiläum des Grenzlandchors Arnoldstein bis zum Jahrestreffen der Hamster-Clubs in Amstetten.

Redlich rackern. Mit der Institutionalisierung der „Seitenblicke“ hat eben auch die erstbeste Gesellschaft folgendes Prinzip verinnerlicht: „Wenn man niemand ist, geht man eben zu denen, die schon wer sind, weil in diesem Umfeld ist man dann flugs auch wer“, so die langjährige Redakteurin Romana Casata.

Oder umgekehrt: Die gemeinhin als „Seitenblicke“-Gesellschaft apostrophierte Prominenz rackert redlich daran, sich selbst für prominent zu halten, um dies auch in Folge vor den Kameraobjektiven glaubwürdig dokumentieren zu können.

Dieser Kreislauf bleibt auch deswegen so verlässlich in der Balance, weil die Redakteure „zum behutsamen Umgang“ mit den Objekten der Neugierde angehalten sind. „Zwischen uns und der Klientel herrscht ein Gentlemen’s Agreement. Schließlich arbeiten wir in einem sehr kleinen Land, und man dreht sich ständig im Kreis“, sagt Ossi Merkl, „Seitenblicke“-Produktionsleiter seit den Anfängen.

Artikulationsdefizite. In der Praxis bedeutet dies, dass unmäßig alkoholisierte oder an eklatanten Artikulationsdefiziten leidende Gesprächspartner den Endschnitt nicht erleben. „Von der Realität werden die Menschen sowieso anderswo zu Tode getrampelt“, übt sich Merkl in vorauseilender Rücksicht auf seine Patienten sowie sein Publikum. Zwischenfälle wie ein mit Speiseresten um sich werfender Ex-Serienstar Don Johnson, der sich durch die „Seitenblicke“-Kamera bei der Nahrungsaufnahme gestört gefühlt hatte, behalten da allenfalls anekdotischen Raritätswert.

Die Überschaubarkeit der großen Welt in diesem kleinen Land bringt zwangsläufig die ständige Wiederkehr des immer gleichen handelnden Personals mit sich. Im kollektiven Gedächtnis keimt der Verdacht auf, dass die „Seitenblicke“ vorrangig von der Scheinwerfer-Armada der Lugners, Schillers, Kollers, Antels und Wussows bestritten werden.

Eine Fehleinschätzung, wie sich statistisch belegen lässt. Die letzte Erhebung der Apa-MediaWatch, die sich die akkurate Auflistung von Prominenten-Präsenz in elektronischen Medien zur Aufgabe macht, kürte zwar im Jahr 1999 Dagmar Koller mit 281 „Seitenblicke“-Sekunden zur Präsenz-Königin, ihr dicht auf den Fersen lagen Bundespräsident Thomas Klestil und der damalige Wiener Kulturstadtrat Peter Marboe. Richard Lugner hingegen, der zügelloseste Selbstdarsteller und gleichzeitig das meistgeliebte Hassobjekt der Gesellschaftsberichterstattung, rangierte mit mickrigen 17 Sekunden vor den Linsen der „Seitenblicker“ nur auf Platz 43. Jeannine Schiller schien nicht einmal auf. „Ich weiß, dass ich gar nicht so oft vorkomme“, erklärt die hart arbeitende Society-Lady, „aber ich bin eben eine auffällige Person, die man sich einfach merkt.“ Der Baumeister Richard Lugner mimt angesichts der tristen Sekundenlage Gelassenheit und pocht auf die psychohygienische Funktion von seinesgleichen: „Früher hat man sich für den Klatsch der Kaiserhäuser interessiert, jetzt hat man sich eben in unsere Niederungen herabgelassen. Wer will sich schon den ganzen Tag mit der Pensionsreform beschäftigen? Da schaut man lieber, was die Sarata für ein Kleidl trägt.“

„Es ist zwar viel leichter geworden, berühmt zu werden“, beschreibt der deutsche Psychoanalytiker und Kommunikationsforscher Wolfgang Schmidbauer die neue Konkurrenzhärte im VIP-Bereich, „aber es ist gleichzeitig viel schwieriger geworden, berühmt zu bleiben.“ Und am schwersten ist es, die tägliche Dosissteigerung zu bekommen, die ein tiefes Bedürfnis derer ist, die erst einmal von der öffentlichen Geltung angefixt worden sind und sich einfach nicht vorstellen wollen, sie wieder zu verlieren.

Radarsystem. Durch die Anwesenheit der „Seitenblicke“-Kameras hat ein Event, etwa die Übersiedlung der Willi-Forst-Hommage von der Stockerauer Freilicht-Bühne ins Wiener Metropol, den schönsten aller Zwecke erfüllt: Die anwesenden Zuschauer werden durch die „Seitenblicke“-Kameras kurzfristig zu Hauptdarstellern geadelt und dürfen das Radarsystem der öffentlichen Wahrnehmung ein paar Herzschläge lang durchfliegen.

Karl Hohenlohe, „Seitenblicke“-Redakteur und „Kurier“-Kolumnist mit feinem Sinn für hintergründige Ironie, sucht den aufgeregten „Streichelzoo“ im Metropol mit einer Frage zu bändigen: „Bringen Sie bei der Verführung von Frauen Pomade zum Einsatz?“ Bedauerlicherweise verwendet Startenor Neil Shicoff keine Brillantine. Baulöwe Richard Lugner hingegen würde alles aufwenden, um bezüglich der Gel-Manipulation seiner Mähne befragt zu werden. Nur ist das offensichtlich wieder einmal nicht sein Abend. Auch Alt-Regisseur Franz Antel will das Handicap seiner Glatze einfach nicht als Entschuldigung für sein Nicht-Befragtwerden gelten lassen. „Jetzt bin ich schon mehrere Male nicht drangekommen“, mosert Antel beleidigt in Richtung Karl Hohenlohe, der milde lächelt. „Die Sucht nach Öffentlichkeit“, sagt er, „ist eine lässliche Sünde, die man niemand zum Vorwurf machen kann.“

Kunststücke. Kurzfristig brennen dem Star des Abends, dem wackeren Willi-Forst-Darsteller Alfons Haider, die Sicherungen durch. „Ich will bitte endlich für meine Leistung als Künstler anerkannt werden“, verwahrt er sich gegen seine Vereinnahmung als „Seitenblicke“-Hengst, kriegt sich aber schnell wieder ein: „Alle, die über die Sendung schimpfen, sind nur beleidigt, weil sie nicht drin vorkommen. Ohne ,Seitenblicke‘ geht für einen Künstler in diesem Land gar nix.“ Der Aktionskünstler Hermann Nitsch ging sogar so weit, so Produzent Purzl Klingohr, die „Seitenblicke“ rundweg „als wichtigste Kultursendung des Landes“ zu bezeichnen.

Eine Einsicht, zu der auch ein internationales Kaliber wie Neil Shicoff inzwischen gelangt ist. „Wir können ein Kunststück“, tröstete er den gekränkten Haider hinter den Kulissen, „und wir haben ein Gesicht. Es gehört nun einmal zu unserem Geschäft, uns zu zeigen. Schlimm wäre es, wenn wir nur ein Gesicht – minus das Kunststück – hätten.“

Die Breitenwirkung der „lächerlichen Harmonisierung inklusive kuscheligem Grinsen“ (Claus Peymann) hat inzwischen auch den Politikern den Weg in den Mikrokosmos der „Seitenblicke“ gewiesen. Nahezu uneingeschränkt bedient etwa der niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll das Anforderungsprofil der Gesellschaftssendung.

Der heimliche Drang zur „Seitenblicke“-Kamera wurde vor allem von der schwarz-blauen Wenderegierung in die Salonfähigkeit überführt. Inzwischen spielen die meisten dankbar in der Rolle der „fröhlich-lustigen Freizeitmenschen“, so ÖVP-Klubobmann Andreas Khol, mit. „Daran ist nichts Verwerfliches“, findet Redakeurin Lisbeth Bischoff, „und ich maße mir auch nicht an, mich als Richter aufzuspielen – nach dem Motto: Der hat vielleicht Steuern hinterzogen, und den filme ich jetzt nicht.“

Der stramme Wille zur Kooperation treibt bisweilen fast befremdliche Blüten. „Manchmal ist man wirklich erstaunt“, so Redakteurin Karin Schiller, „dass der Häupl wirklich brav mitlacht, wenn man ihm ein Salathäuptel vor der Kamera unter die Nase hält.“

Thaddäus Podgorski lächelt aus der Ferne. Schließlich musste er seinerzeit bei der Installation der „Seitenblicke“ massive Widerstände seitens der politischen Fraktionen überwinden. Der Untergang des Abendlands war ausgerufen worden, denn „mit einer Informationssendung in den Händen der Unterhaltungsabteilung“ sank die Aussicht auf Einflussnahme drastisch.

Gerne erzählt Podgorski die Anekdote des damaligen ÖVP-Mediensprechers Heribert Steinbauer, der am Nachmittag in einer Sitzung die Abschaffung der „Seitenblicke“ gefordert hatte und abends dem Generalintendanten Podgorski ins Ohr flüsterte: „Sag, der Waldheim hat doch so a schlechte Presse, im Fernsehen findet er überhaupt nimmer statt. Könn’ ma das negative Bild nicht a bisserl in den ,Seitenblicken‘ zurechtrücken?“