good news: Helmut A. Gansterer

Über merkwürdige Hoffnungsregionen.

Rotchina und Club Med

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An müden Tagen, da ich selber wünschte, die Welt stünde eine Zeit lang still, ohne Forscherehrgeiz, Innovation und weitere Globalisierung, brächte ich auch Verständnis für jene Seelen auf, die in Peter Rosegger und Karl Heinrich Waggerl den Höhepunkt der Evolution wähnen. Gottlob gibt es die „Kronen Zeitung“. Sie hält munter. Sie reißt zuverlässig aus Indolenz und Lethargie. Sie ist ein immergrünes Studienobjekt. Sie ist ärgerlich, verstörend und wirtschaftlich respektabel. Im weltweiten Vergleich ist sie die erfolgreichste Nationalzeitung. Wäre sie ein Palfinger-Kran, ein Frequentis-Modul oder KTM-Bike, also einer von drei Exportschlagern Österreichs, würde man ihr Gespür für den Kunden loben. So aber bedient sie den kleins­ten, gemeinsamen Nenner der inländischen Denkart. Man wird Hans Dichand, den Capo und „Cato“ der „Krone“, nun weniger denn je überreden können, seine Zeitungsmacht für Höheres einzusetzen. Seit dem Leserbrief-Kniefall der SPÖ in der EU-Politik ist dies undenkbar. Der „Krone“ scheint wirklich egal, ob der einst blutigste Kontinent jetzt befriedet ist. Und ob ein stabiles Euro-Bollwerk gegen Dollar & Yen errichtet wurde. Oder dass wir Österreicher dank EU und deren Südosterweiterung ungleich mehr Geld verdienen, als wir als EU-Nettozahler an Mitgliedsbeitrag entrichten. Nationaler Abstimmungsstolz ist der „Krone“ wichtiger. Der Streit überdeckt in provinzieller Manier die Notwendigkeit, uns größeren Räumen zuzuwenden, beispielsweise Rotchina und der Idee eines Club Med, der die EU mit den Staaten rund um das Mittelmeer verzahnt. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie die Club-Med-Vision bei vielen „Krone“-LeserInnen ankommt, mit all den Kameltreibern, Schafhirten, Levantinern und Juden an den südlichen und östlichen Stränden des mare mediterraneum, arabisch auch al-bahr al-abyad („Weißes Meer“) genannt.

Man darf sich von der „Krone“ nicht die eigene Skepsis rauben lassen. Nur gegen sie zu sein, ist auch kein Programm. Manchmal hat sie ja Recht. Meine Skepsis gilt beispielsweise Rotchina, dem heute alle in den Hintern kriechen: 1200 Millionen emsige Menschen, was für ein Markt! Die Skepsis erwächst aus ökonomischen Faustregeln, die zwar langweilig, aber bislang unwiderlegt sind. Beispielsweise der Regel, dass jede gesunde Volkswirtschaft eine Kontinuität der Reifung verlangt, wie sie den USA seit 232 Jahren, Europa seit 63 Jahren vergönnt ist. Gemessen an bisherigen Mindestlaufzeiten einer Harmonisierung von Agrikultur, Arbeit, Kapital, Klassenfrieden, Rechtssicherheit und Umweltschutz gleicht China einem unaufgeklärten, erhitzten Pubertären, der selbst für die Eltern unberechenbar ist. Ich erwarte nach den Olympischen Spielen einen China-Crash, gegen den der New-Economy-Crash 2000 wie ein nasses Feuerwerk wirkt.

Praktisch gestern, vor 29 Jahren, sah ich erstmals das alte China. Mit einigen Kollegen (darunter der Freund und profil-Chefredakteur Helmut Voska (†) sowie Ernst Trost, „Krone“-Kolumnist und Filmer) rutschte ich in die erste Gruppe, die Tibet sehen durfte, nach 20 Jahren hermetischer Abriegelung. Wir flogen vom verschlafenen Dschengdu aufs 4500 Meter hohe Lhasa-Plateau, im nicht lizenzierten chinesischen Nachbau des nicht lizen­zierten russischen Nachbaus der holländischen Fokker. Heu­te ist das bäuerliche Dschengdu industriell verseucht. In Lhasa wartet ein Bahnhof. Shenzhen an der Grenze von Hongkong und China wand sich damals wie Vösendorf-Süd in Geburtswehen. Heute ist es einer der teuersten Bauplätze Chinas. Unvergesslich ein Flug von Kanton übers verstaatlichte Bauernland. Reformator Deng hatte je ein Hektar Land (für Städter: 1 Hektar = 100 mal 100 Meter) für Privatnutzung freigegeben. Im unendlichen gelben Staub unter dem Flugzeug sah man tausend winzige grüne Oasen, exakt hundert mal hundert Meter groß. In Schanghai bot uns die chinesische Regierung Schauspieler, die Kapitalisten spielten: schroff, hart, kalt, unmenschlich. Wir winselten entzückt. Tolles Kabarett. Man wollte aber nur wissen, ob die Rolle gut angelegt war. Die Rotchinesen waren schon an der Leine talentierte, hochegoistische Frühkapitalisten. Man musste sie nur loslassen. Heutige Partner werden dies früher oder später spüren. Resümee: Großkonzerne müssen China probieren. Sie würden zu viel verlieren, wenn alles gut geht. Und sie verlieren nicht alle Eier im Korb, wenn es schlecht geht. Den KMU-Freunden, die bisher zögerten, rate ich weiterhin ab. Umso mehr, als technisch gutes und treues Personal täglich seltener und teurer wird. Manche China-Vorreiter blicken schon jetzt auf Kufstein, Eferding und Ternitz zurück wie auf verlorene Paradiese.

Der politisch gemeinte Club Med hingegen ist klass. Mir gefällt daran alles. Er hat die leichte Geste einer luftigen Vision. Kein Bürokrat hat noch irgendwas festgelegt. Keine EU-gestützte PR-Agentur legt die Pfeile auf uns Journalisten an. Globetrottel wie unsereins können nun auf Kosten sensibler Verlage wieder alte Orte vermessen. Einst waren diese nur kulturell angesagt, im Windschatten reisender Gentlemen wie Albert Camus, Humphrey Bogart, Bruce Chatwin und André Heller. Jetzt gibt es für Journalisten auch ökonomische und politische Gründe, das Alte wieder zu sehen und die Lücken zu schließen. Ah, Marrakesch, Casablanca, Tripolis, in Jerusalems King-David-Hotel endlich den Rothschild trinken, Amman, Damaskus und fast schon wieder heim nach Istanbul … profil wird berichten.