Ukraine: Die orange Revolution

Der Staat erlebt seine demokratische Feuertaufe

Drucken

Schriftgröße

Anatoli kauert zitternd in einem Wust von Decken und Schlafsäcken, eiskalt ist es in seinem Zelt. Die ganze Nacht hat der 18-jährige Medizinstudent auf einer Barrikade vor dem ukrainischen Präsidentenpalast in Kiew gestanden und Parolen gebrüllt: „Wir sind viele, ihr könnt uns nicht besiegen!“ Nun kann er nicht mehr und will nur noch schlafen. Aber es kommt Besuch, eine Taschenlampe richtet sich auf sein Gesicht. Er blinzelt, dann fragt er: „Wollen Sie Tee?“

Rundherum: ein Meer aus Zelten. Auf der Flaniermeile, dem Kreschtschatik, ist ein regelrechtes Camp aus dem Straßenpflaster gewachsen. „No pasaran“ hat einer auf sein Iglu geschrieben, „Born to be free“ ein anderer, und über seinen Zelteingang hat er gemalt: „Liberté, Egalité, Fraternité“. Es dampft aus großen Kesseln, in denen Wasser für Suppe und Tee gekocht wird. Die Temperatur liegt bei acht Grad unter Null.

Manipulationen. Seit einer Woche harren tausende rund im die Uhr aus, täglich strömen zehntausende Demonstranten herbei. Auf ihre Hüte haben sie orange Fähnchen gesteckt, sie tragen orange Halstücher und orange Mützen. Orange ist die Farbe des ukrainischen Oppositionsbündnisses „Nascha Ukraina“ („Unsere Ukraine“), und wenn dieser Aufstand für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gelingt, wird er wohl einmal die „orange Revolution“ heißen. Seine Symbolfigur ist Wiktor Juschtschenko, der am vorvergangenen Sonntag in der Stichwahl um das Präsidentenamt dem bisherigen Ministerpräsidenten Wiktor Janukowitsch unterlegen sein soll – jedenfalls nach Ansicht der zentralen Wahlkommission (CWK).

„CWK – hanba“, rufen jetzt die Demonstranten: „CWK, schäm dich!“ Denn dass bei den Wahlen massiv manipuliert wurde, war schnell klar: Studenten und Staatsbedienstete berichteten von Anweisungen ihrer Professoren, Janukowitsch zu wählen, Wahlbeobachter der OSZE berichteten von Polizisten und Beamten, die noch an den Urnen die Wähler beeinflussten. Mithilfe von Wählerbescheinigungen sollen manche Janukowitsch-Leute bis zu vierzigmal ihre Stimme abgegeben haben, und in Janukowitschs Hochburg, der Millionenmetropole Donezk, lag die Wahlbeteiligung in einem Bezirk bei mysteriös-märchenhaften 98,20 Prozent – unnötig zu betonen, dass hier fast alle Stimmen auf Janukowitsch entfallen waren. Was in Kiew schon sarkastisch die „eigene Philosophie des Zählens“ genannt wird, bescherte Janukowitsch am Ende mit 49 Prozent einen Vorsprung von drei Prozentpunkten auf seinen Herausforderer.

„Banda het“ („Weg mit der Bande!“), schallt es seither durch Metrostationen und Einkaufspassagen der Hauptstadt. Die Parfümverkäuferin Uliana spreizt ihre langen, bunten Fingernägel zu Krallen, wenn sie an den amtlichen Sieger denkt. „Janukowitsch war schon zweimal im Gefängnis“, zischt sie. „Gibt es so etwas in einem zivilisierten Land, einen Präsidenten mit Vorstrafen?“ Sie schnitzt mit ihrem Nagel Muster in eine Orange, die wollte sie eigentlich einem Demonstranten schenken, aber bei Janukowitsch verliert sie die Fassung.

Leonid Kutschma, der scheidende Präsident, machte Janukowitsch vom Gouverneur von Donezk zum Ministerpräsidenten der Ukraine. Der 54-Jährige entstammt der Kohle- und Stahlregion im Osten, die neben Kiew die reichste des Landes ist. Russland fühlt man sich dort traditionell verbunden. Die Ankündigung des Ministerpräsidenten, das Russische zur zweiten Amtssprache erklären zu wollen, kam deshalb gut an. „Der spricht ja selbst nicht mal Ukrainisch“, sagt Uliana – auf Russisch. Janukowitschs Anhänger schätzen den über 1,90 Meter großen Hühnen als starke Führerfigur und fähigen Ökonomen, unter dem die Ukraine ein jährliches Wirtschaftswachstum von zuletzt elf Prozent erlebt hat. Seine Gegner sehen in ihm eine Marionette Kutschmas, unter dem Korruption und Macht der Oligarchen erblüht seien.

Während die „orange Revolution“ zur Demokratieparty wird, bleibt Janukowitsch seltsam unsichtbar. Die Massenproteste gegen ihn kommentierte er mit dem Satz, es geschehe derzeit „nichts Ungewöhnliches in der Ukraine“, zudem willigte er in den Vorschlag Kutschmas ein, Gespräche mit der Opposition zu führen. Diese wollte davon nichts wissen und setzte weiter auf den Druck der Straße.

Kiew ist fest in der Hand des Oppositionsbündnisses. Auf dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der Stadt steht ihre große Bühne, auf der tagsüber Juschtschenko die Regierung attackiert, die Parlamentsabgeordnete Julia Timoschenko, die immer für einen populistischen Spruch gut ist, zu Straßenblockaden aufruft und der Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko die Menge begeistert. Er war eigens aus seinem Trainingscamp in Las Vegas eingeflogen und erklärte: „Wenn sich bei einem sportlichen Zweikampf ein Gegner unfair verhält, wird er disqualifiziert; sein Ergebnis wird annulliert.“ Die Menge verstand die Anspielung.

Superstar Ruslana. Abends verwandelt sich das Podium in eine Konzertbühne, auf der die Sängerin Ruslana „Freiheit für die Ukraine“ fordert. Im Frühjahr hatte sie noch im knappen Lederschurz in Istanbul den Song Contest gewonnen, jetzt rockt sie mit orange Schal für Demokratie und Wiktor Juschtschenko. Die Leute lieben sie, rufen fast ekstatisch „Ruslana! Ruslana!“, bis sie sich wieder ihrer eigentlichen Mission besinnen: „Juschtschenko! Juschtschenko!“ Ein alter Herr mit Pelzmütze hakt sich bei seiner Frau ein, und beide wippen im Takt, umgeben von zappelnden Teenagern. Um ihre Krokoledertasche hat die Dame das gelbe Tuch der Studentenbewegung „Pora“ geknotet.

Nur einige hundert Meter weiter steht Anatolis Zelt direkt neben der Barrikade vor dem Präsidentenpalast. Hier übernachten vor allem Mitglieder von „Pora“ („Es wird Zeit“). Die Gruppe hat sich im vergangenen Winter formiert, um für faire Wahlen zu kämpfen, und bildete damit die Keimzelle der jetzigen Proteste. Immer wieder geistern Gerüchte durch die Menge, dass diese Demonstranten Ziel eines Angriffs werden sollen. Am Mittwoch ist von Panzern die Rede, die auf Kiew zurollen, von russischen Spezialeinheiten, die sich im Präsidentenpalast befänden, von Schlägertrupps aus Donezk, die den friedlichen Protest in Randale verwandeln sollten. Doch es blieb ruhig.

Nervosität. Zu Ruhe und Gewaltfreiheit ruft auch Wiktor Juschtschenko immer wieder auf. Er hat in den vergangenen Wochen eine erstaunliche Wandlung vom eher trockenen Wirtschaftsfachmann zum Volkshelden durchlaufen. Der ehemalige Nationalbankchef wurde 1999 Ministerpräsident – unter dem Präsidenten Leonid Kutschma. Diesen nannte er einst sogar seinen politischen Vater, zerstritt sich dann aber mit ihm wegen seiner allzu eifrig betriebenen Reformen und flog 2001 aus dem Amt. Er hat den Ukrainern einen westlichen Kurs, demokratische und marktwirtschaftliche Reformen versprochen. Seit seiner angeblichen Vergiftung, die den Ärzten des Wiener Privatspitals Rudolfinerhaus seit Oktober Rätsel aufgibt, ist der Vater von fünf Kindern entstellt, sein Gesicht sieht ledern, verquollen und pustelig aus. Gesundheitlich wirkt er angeschlagen.

Gut möglich, dass die orange Revolution mit einem sanften Umsturz endet. Denn nach und nach zieht Juschtschenko auch Teile des Staatsapparates auf seine Seite. Spektakulär war etwa der Spruch des Obersten Gerichtshofs, der der Regierung am Donnerstag untersagte, das Wahlergebnis im Amtsblatt zu veröffentlichen, solange die Fälschungsvorwürfe nicht ausgeräumt seien. Bis dahin ist das Ergebnis „nicht gültig“, sagte eine Sprecherin, mit der Prüfung werde diese Woche begonnen. In Lemberg versprach der Kommandeur der Armee im ukrainischen Westen, Michail Kuzin, er werde nicht auf die Demonstranten schießen lassen. Die Truppen wollten neutral bleiben. Der stellvertretende Minister für Wirtschaft und europäische Integration, Oleh Haiduk, reichte seinen Rücktritt ein, mit der Begründung, wenn die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl praktisch nirgendwo anerkannt würden, werde die Ukraine isoliert und sein Job demnach sinnlos. Und in der Hauptstadt Kiew erklärten 300 Diplomaten des ukrainischen Außenministeriums verdeckt ihre Unterstützung für Juschtschenko. Die Ukraine sollte von einem Präsidenten geführt werden, „der ein echtes Mandat des Vertrauens des Volkes hat“, forderten sie. Auch im Innenministerium gärt es. Große Städte, vor allem im Westen und in der Zentralukraine, haben Janukowitsch die Gefolgschaft verweigert. Es riecht nach Doppelherrschaft.

Die Kiewer Polizisten sind nur dann zu sehen, wenn mal wieder an einer Kreuzung eine Ampel ausgefallen und der Verkehr zu regeln ist, in Lemberg tragen sie die orangen Bändchen der Opposition. Kaum jemandem entgeht, dass es selbst die Eliteeinheiten am Präsidentenpalast gern geschehen lassen, dass ihnen Demonstranten orangefarbene Blüten an die Schilder heften.

Es ist wie immer in solchen Momenten: Jeder ist angesteckt von dem Gefühl, Teil eines historischen Ereignisses zu sein, und weil man nicht weiß, wie es ausgeht, schwanken die Gefühle zwischen Euphorie und Angst. Nervosität geht um. Der Ausnahmezustand hängt in der Luft. Und viel Pathos mit einer Prise Revolutionsromantik. „Es gibt nichts Erhebenderes, als sich in diesen Tagen in den Straßen Kiews aufzuhalten“, sagt die Schriftstellerin Oksana Zabuzhko.

Internetgeneration. Seit jeher sind in der Ukraine Russland und die mitteleuropäischen Mächte einander gegenübergestanden. Das russische Staatswesen begann im Mittelalter in Kiew, jahrhundertelang gehörten der Osten und Süden des Landes zu Russland, der Westen hingegen stand unter der wechselnden Herrschaft der Polen, Rumänen und Österreich-Ungarns. Aus dieser heterogenen historischen Erfahrung leiten sich immer wieder Befürchtungen über eine Spaltung des jungen Staates her, die auch jetzt wieder laut werden. Olek Basar, der Chefredakteur der Lemberger Zeitung „Lvivska Gazieta“, hält das allerdings für Unsinn. „Die Menschen haben doch ganz andere Sorgen als die Geschichte“, sagt er. Arbeitslosigkeit, schlechte Schulen und eine erschütternde Altersarmut machten ihnen zu schaffen. „Diese Sorgen sind überall im Land dieselben.“ Zwar hat der Osten eher Janukowitsch gewählt, der Westen und das Zentrum überwiegend Juschtschenko, doch die Geografie ist unter den Kiewer Demonstranten derzeit kein Thema. „Wir sind eine Nation, wir lassen uns nicht spalten“, sagen sie einhellig.

Die Spaltung existiert – aber, insistiert die Autorin Zabuzhko, „nicht entlang irgendeiner geografischen, linguistischen oder religiösen Grenze“. Sie manifestiere sich weniger im Raum als in der Zeit. „Die Spaltung existiert also zwischen Gegenwart und Vergangenheit.“ Zukunftshoffnung steht Sowjetnostalgie gegenüber, der Optimismus der Angst. Oder, wenn man so will: die Internetgeneration der Bergwerksgeneration.

Nicht zufällig finden sich die Wurzeln des Protests in einer Studentenbewegung. Unter den jungen Demonstranten macht der Begriff der „Kutschmarchie“ die Runde, der für Korruption, Wahlbetrug und Gesetzeswillkür steht. Damit, fordern die Demonstranten, müsse jetzt endlich Schluss sein. Seit Freitag ist ein neuer Aufkleber auf Metrowaggons, Ladentüren und Demonstrantenrücken aufgetaucht: „Die Freiheit lässt sich nicht aufhalten.“ Der Aufkleber ist orange.

Trotzdem: Wer glaubt, der Aufstand sei nur eine Sache von städtischen Eliten, Studenten und Intellektuellen, wird eines Besseren belehrt, wenn er in ein Zelt, nur ein paar Meter neben jenem des Medizinstudenten Anatoli, blickt. Da hockt Iwan, 36, ein Bauer aus Charkow im Nordosten. „So geht’s nicht“, sagt er: Wahlen fälschen, die Leute zur Stimmabgabe für den Regierungskandidaten nötigen. Nachdem die Chefs seiner Kumpel dies versucht hatten, setzten sich Iwan und seine Freunde in einen Kleinbus und bretterten in die Hauptstadt, mit Zelten, aber ohne ihre Frauen. Ein wenig Abenteurertum sei schließlich auch im Spiel, und das sei nichts für Frauen, findet Iwan. Die orange Revolution wird gewinnen, sagt er. Warum er sich da so sicher ist? Er lacht, dann ballt er seine kräftige, tätowierte Bauernhand zur Faust.