Ukraine: „Ihr seid die Helden!“

Ukraine: „Ihr seid die Helden“

Die Präsidentenwahl wird am 26. 12. wiederholt

Drucken

Schriftgröße

Noch während der Vorsitzende des ukrainischen Höchstgerichts das Urteil verlas, explodierten schon die ersten Feuerwerkskörper über dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum Kiews – in den ukrainischen Nationalfarben Gelb und Blau. Es war genau der Richterspruch, den die zehntausenden auf dem Platz versammelten Menschen herbeigewünscht, ja erbetet hatten: Vergangenen Freitag, um 18 Uhr Ortszeit, erklärte das Oberste Gericht die Stichwahl um das ukrainische Präsidentenamt zwischen Viktor Janukowitsch und Viktor Juschtschenko für ungültig und ordnete Neuwahlen für den 26. Dezember an.

Es zog damit einen vorläufigen Schlussstrich im Machtkampf, der das Land und seine großen Nachbarn im Osten und im Westen in den zwölf Tagen zuvor in Atem gehalten hatte. Die orange Revolution hat gewonnen.

Und zwar auf der ganzen Linie: Schon Freitagabend galt es in Kiew als sicher, dass Viktor Janukowitsch zur Wiederholung der Stichwahl nicht mehr antreten wird. Sein ehemaliger Wahlkampfmanager und seine russischen Spin-Doktoren raten ihm davon ab – sie prophezeien ihm für den Fall eines Antretens ein katastrophales Ergebnis. Oppositionsführer Juschtschenko steht damit praktisch als nächster Präsident der Ukraine fest.

Als großer Sieger betritt der Kandidat der Orangen daher Freitagabend die Bühne auf dem Maidan. Erst streut er den Demonstranten Rosen: „Ihr seid die Helden! Nur wegen euch wurde diese Entscheidung gefällt!“ Dann macht er unter tosendem Applaus gleich die nächsten Kampfansagen: Präsident Leonid Kutschma müsse endlich das Misstrauensvotum des Parlaments gegen die Regierung vom vergangenen Mittwoch akzeptieren und Viktor Janukowitsch als Premierminister entlassen. „Wir werden hier bleiben, bis unsere Forderungen erfüllt sind“, ruft er der Menge zu.

Dieser Sieg kam plötzlich – und für manche sogar unerwartet. In der vergangenen Woche schien sich die Revolution manchmal schon allzu lang hinzuziehen, ihr drohte die Luft auszugehen. Der bedächtige Oppositionsführer Juschtschenko hatte den Konflikt von der Straße weg und in die Institutionen getragen – ins Parlament, zum Obersten Gerichtshof und zu den Verhandlungen mit internationalen Vermittlern.

Derweil standen hunderttausende seiner Anhänger immer noch im Schneematsch auf Kiews Straßen, blockierten Regierungsgebäude und fühlten sich um ihren Sieg gegen das verhasste Regime betrogen. In der ersten Woche waren sie noch handelnde Akteure gewesen, die Subjekte der Geschichte. Dann wurden sie immer mehr zu Zuschauern, vor den Leinwänden auf der Straße, vor den Fernsehschirmen zu Hause.

Rituale. Kiew verharrte lange in einem merkwürdigen Schwebezustand. Der emotionale Ausnahmezustand der ersten Tage war zur Normalität geworden. Es hatten sich Rituale etabliert: Tagsüber fanden sich zehntausende mit orangefarbenen Armbinden, Überwürfen oder Schals in der Innenstadt ein, beobachteten stundenlang TV-Übertragungen und diskutierten über die Einordnung der letzten Ereignisse. Am Abend entlud sich die Spannung auf dem Maidan-Platz, wo gemeinsam die Nationalhymne und der neue Revolutionssong im HipHop-Stil gesungen wurde. Manchmal gab es einen kleinen Sieg zu feiern. Doch immer öfter mussten Durchhalteparolen reichen.

Die Demonstranten von Kiew standen vor jenen entscheidenden Fragen, die alle politischen Bewegungen auf dem Weg zum Machtwechsel irgendwann beantworten müssen: Was tun? Handeln oder verhandeln? War der richtige Zeitpunkt für eine spektakuläre, alles entscheidende Aktion vielleicht schon vorbei? Oder verspielte man durch überstürztes Handeln seine Chance?

Das Regime setzte auf die zermürbende Kraft der Kälte, und die Angst, es könnte ihr gelingen, die Revolution einfach auszusitzen, hatte sich bereits eingeschlichen. Viele wurden langsam ungeduldig. „Geduld“, sagten die Älteren. „Genug“, sagten die jungen Stürmer und Dränger. „Genug“ auf Ukrainisch heißt „Pora“, und Pora heißt auch jene Studentenorganisation, die die Straßenproteste angezettelt hat und nun auf mehr Druck pochte; auf ein sichtbares Zeichen des Machtwechsels, auf die Besetzung von Territorium, im wörtlichen und im übertragenen Sinn.

Dieser Tage beschränkt sich das Pora-Territorium noch auf die Zeltstadt, die sich fast über die ganze Länge der Kreschtschatik, der breiten Prachtmeile Kiews, erstreckt. Umzäunt von Parkbänken und Holzplanken, drängen sich hier dicht an dicht schneebedeckte Zelte, vom kleinen 2-Personen-Iglu bis zur 10-Mann-Version. Dunkle Augenringe und mehrere Schichten Pullover gehörten hier zur Grundausstattung, ein Flachmann war optional. 3000 Leute, behauptet ein Wächter, trotzten hier Nacht für Nacht den Minusgraden. Die Zeltstadt verfügt über eine komplette Infrastruktur und professionelles Management. Verpflegung, Getränke und Medikamente sind für alle gratis, gespendet von wohlhabenden Ukrainern, organisiert von Pora und anderen Organisationen, zubereitet von Freiwilligen. Sogar eine Müllentsorgung und Handy-Ladestationen gab es.

Durchhalten. Andrij Batalov hat wieder eine Nacht überstanden, ohne krank zu werden, und ist am Morgen steif und verfroren aus dem Zelt gekrochen, das er sich mit neun Freunden aus Morschin in der Westukraine teilt. Jetzt sitzt er auf einem dicken Stück Styropor im Schneematsch und wärmt sich an einer Tonne, in der ein Feuer glost. Seit einer Woche hält der 18-Jährige hier die Stellung, die Kälte hat ihn einsilbig gemacht. „Morgen fahre ich nach Hause“, sagt er. Dann kommt die Ablöse: Zehn neue Leute aus Morschin reisen an, damit die Zeltstadt voll bleibt und kein Zentimeter Territorium aufgegeben wird – denn noch ist Juschtschenko nicht Präsident, noch braucht er die Demonstranten, die ihm Legitimität verleihen. Von den Verhandlungen mit dem Regime hat Andrij nie etwas gehalten. „Juschtschenko hatte doch schon gewonnen!“

In einem schicken Café etwas weiter unten auf der Kreschtschatik sitzt einer der Architekten der Revolution. Andrij Ignatow, 30, ist einer der Leiter des Internetforums Maidan.org.ua und war Mitbegründer von Pora. „Wir haben gesehen, wie Serbien und Georgien ihre autoritären Regime losgeworden sind. Wir wollten unser Land ebenso befreien“, erklärt er. In Serbien war es im Jahr 2000 die Otpor-Bewegung, die die Methoden des Marketings für den zivilen Widerstand einsetzte. Mit einem Slogan, einem Symbol und unkonventionellen gewaltfreien Aktionen haben sie den Umsturz gegen Slobodan Milosevic angezettelt. 2003 machte es ihnen die Kmara-Bewegung in Georgien nach und vertrieb den autoritären Edward Schewardnadse von der Macht.

Andrij Ignatow und seine Mitstreiter haben sich lang auf die ukrainischen Präsidentenwahlen vorbereitet. Sie sind nach Belgrad gereist, um von den Otpor-Leuten zu lernen, später holten sie Otpor- und Kmara-Vertreter in die Ukraine, um Aktivisten auszubilden. „So haben wir in zwei Jahren mehr als 900 Leute trainiert“, rechnet Ignatow stolz vor. „Wir haben gelernt, was funktioniert und was nicht.“

Die Kurse in Revolutionskunde waren zweigeteilt: Erfahrungsberichte und Analysen aus Serbien und Georgien, dazu Praxistipps in Fächern wie Rekrutierung, Marketing oder Sicherheitsmaßnahmen. „Wir sehen uns als Think Tank für den zivilen Widerstand gegen Autoritarismus“, sagt er. Der Finanzexperte, der in den USA studiert hat, verwendet Worte wie „Kosteneffektivität“, „Ergebnisorientierung“ und „Stärken-Schwächen-Analyse“, wenn er von der Revolution spricht, und es klingt, als wäre sie eine erlernbare Technik. Ihn selbst motiviert die Wut über die Oligarchen, die seit Jahren den ukrainischen Staat plündern. „Jetzt, wo Juschtschenko gewonnen hat, werden wir dafür kämpfen, dass all diese korrupten Bastarde bestraft werden“, bricht es aus dem stillen Theoretiker heraus.

Geduld. Valery Ryabenko ist froh, dass die Revolution ohne illegale Aktionen abgelaufen ist. Der Mittvierziger sitzt im Hauptquartier von Viktor Juschtschenko, wo er für die Betreuung der Auslandsukrainer zuständig ist. „Es ist ja genau die Tatsache, dass wir mit legalen Mitteln kämpfen, die uns von unseren Gegnern unterscheidet! Genau darum geht es ja!“ Für Ryabenko ist es ein Kampf zwischen Moral und Unmoral, zwischen Gut und Böse. „Der legale Weg ist lang, aber der einzig richtige – obwohl es leicht gewesen wäre, unsere Stärke einzusetzen.“

Die vollständige Umkehrung der Kräfteverhältnisse ist das eigentlich Revolutionäre an den Ereignissen in der Ukraine. Denn bis zum Ausbruch der Wahlkrise hielten die meisten Juschtschenko-Anhänger den 1,90-Meter-Hünen Janukowitsch mit seinen 110 Kilogramm für übermächtig. Nur einmal war im Wahlkampf seine Verwundbarkeit offensichtlich geworden, als ein 17-Jähriger ein Ei auf ihn warf. Janukowitsch sank, an der Brust getroffen, stöhnend zu Boden und wurde ins Krankenhaus eingeliefert – eine Episode, die unter den Orangen heute noch für Erheiterung sorgt.

Im Lauf der letzten zwei Wochen wurden die Kräfteverschiebungen langsam deutlich. Die Versuche des Janukowitsch-Lagers, eine ähnliche Massenbewegung auf die Beine zu stellen, scheiterten kläglich. Im – mehrheitlich russischsprachigen – Kiew traten seine Anhänger so gut wie gar nicht in Erscheinung. Nur vor Janukowitschs Wahlkampfhauptquartier wurden ein paar blau-gelbe Fahnen geschwenkt.

Wer zu dem kleinen Grüppchen älterer Leute vordringen wollte, musste erst mit einer Gruppe dunkler Gestalten mit schwarzen Skimützen diskutieren, die nach eigenen Angaben „Provokateure abhalten“ wollten. War diese Hürde genommen, wurde schnell klar, warum die „Sicherheitsleute“ nicht wollten, dass mit den fahnenschwenkenden Janukowitsch-Fans gesprochen wird. „Ich bin eine Seherin“, meinte eine Frau mit starrem Blick und eigenwilliger Kopfbedeckung. „Juschtschenko hat keine kosmische Verbindung, seine Kinder werden viel Unheil erleben“, führte sie gegen den Oppositionskandidaten ins Treffen. Und ein alter Mann mit fehlerhaftem Gebiss meinte: „Schauen Sie Juschtschenkos Gesicht an, Gott hat ein Monster aus ihm gemacht. Die jungen Leute am Maidan-Platz sind alle Zombies geworden. Wissen Sie vielleicht, wie man sie retten kann?“

Man konnte sich des Eindrucks schwer erwehren, dass die Leute nur Staffage waren. Janukowitsch mag in der Ostukraine seine Basis haben – in der Hauptstadt Kiew stand er auf verlorenem Posten.

Zwischen den ukrainischen Flaggen auf der Kreschtschatik-Straße blitzten unversehens noch andere Landesfarben auf. Oppositionelle aus Weißrussland, Moldawien und Kasachstan hatten sich unter das orange Volk gemischt. „Wir sind hergekommen, um hier die Luft der Freiheit zu atmen“, strahlte Sascha, 21, aus der weißrussischen Hauptstadt Minsk. „Hier ist es wie beim Karneval in Rio“, zog er einen gewagten Vergleich. Sascha und seine Freunde protestierten vor ihrer Botschaft dagegen, dass Weißrusslands autoritärer Präsident Aleksandr Lukaschenko Viktor Janukowitsch als Sieger der ukrainischen Präsidentenwahl anerkannt hatte.

„Wir wollen hier lernen und üben“, grinste Sascha. Im Moment können sich die weißrussischen Studenten zwar nicht vorstellen, dass in ihrer Heimat eine vergleichbare Bewegung entsteht.

Doch das kann sich ändern, schneller, als man oft denkt.