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Ulli Lusts NS-Graphic-Novel "Flughunde"

Comic. Ulli Lusts NS-Graphic-Novel "Flughunde"

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Von Philip Dulle

Der Krieg klingt grässlich. Das Röcheln der Massakrierten an der Front ("ARRR“), das Donnern der Fliegerbomben ("KA-WUMM“), die Stiefel der im Gleichschritt marschierenden Truppen ("TRAP-TRAP“); ein Scharführer, der sich bei einer spontanen Kampfesrede die Stimme ruiniert.

Schon der Roman "Flughunde“, 1995 von dem deutschen Schriftsteller Marcel Beyer veröffentlicht und inzwischen zum modernen Klassiker avanciert, hat von diesen Geräuschen erzählt, von den Stimmen des Krieges und dem Niedergang des Nationalsozialismus, in einer kunstvoll montierten Parallelerzählung, die Historie und Fiktion verschwimmen ließ. Die beiden Hauptfiguren: der besessene Akustiker Hermann Karnau, ein ruhiger, durchaus liebenswerter Eigenbrötler, der den Reden der Nazi-Bonzen die nötige Verve verleihen soll; und Helga Goebbels, die zwölfjährige Tochter des NS-Propagandaministers.

"Starke Bilder"
Für Suhrkamp hat nun Ulli Lust, 1967 in Wien geborene Comiczeichnerin, Beyers Roman in eine über 300 Seiten starke Bildergeschichte übersetzt. Für Lust, die mit ihrem 2009 erschienenen autobiografischen Opus magnum "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ ihren Ruf als Ausnahmeerscheinung innerhalb der deutschsprachigen Comicszene festigte, war nicht nur die sprachliche Qualität der literarischen Vorlage ausschlaggebend, sondern vor allem auch die kindlich unschuldige Figur der Helga Goebbels: "Der Text hat in mir starke Bilder hervorgerufen“, erzählt die Wahlberlinerin im Gespräch mit profil.

+++ profil-online-Interview mit Ulli Lust: „Kann alles als Comic erzählen“ +++

Auch wenn Lust gar nicht erst versucht, den Stoff "werktreu“ zu bearbeiten, und auch wenn sie betont, dass Graphic Novels als eigenständige Werke funktionieren müssen, gelingt ihr nicht nur eine stimmige Hommage an den Roman (sie übernimmt ganze Textpassagen), sie hebt die Erzählung stellenweise sogar auf eine neue Stufe: wenn sie etwa die Kinder Goebbels’ auf dem idyllischen Familienanwesen in Schwanenwerder nahe Berlin zeigt und ihre Bilder in sanftes Orange setzt, nur um einige Seiten später die infernalische Kriegsmaschinerie der Nazis in bedrohliche Grau- und Brauntöne zu tauchen.

Die Akustik des Krieges, die Beyer poetisch in Szene setzt und der Vorstellung der Leser überlässt, gestaltet Lust als stakkatoartige Lautmalerei: Sprechblasen erzittern im Akkord, Granaten zerfetzen nicht nur das Lettering, sondern ganze Szenenbilder. Wie könnte man das Unaussprechliche sonst visualisieren? Wie viel Maschinengewehrgewitter à la "RAT-RAT-RAT“ verträgt ein Comic? Wie viel an markerschütterndem "AHHH“ und "OHHH“ müssen die Opfer des Krieges erst ausspeien, ehe sie durch leere Sprechblasen erlöst werden, die für ihr dahinschwindendes Leben stehen? Für Lust ist all das künstlerisch kein Problem; das Risiko der Darstellung von Gewalt bleibe dennoch groß, sagt sie. Meist deutet die Zeichnerin die Gräueltaten daher nur an - durch die demaskierenden Kriegsspiele der Kinder oder durch bloße Andeutungen im Text.

Mit "Flughunde“ gelingt Ulli Lust der Brückenschlag zwischen der klassischen Literatur und ihrem Comic-Metier. Besonders deutlich wird das, wenn sie in schneller Bildreihenfolge zwischen den Protagonisten und Erzählebenen changiert und ihre Leser sehr unmittelbar in das Geschehen zieht. In einer zentralen Szene führt sie dies auf erschütternde Weise vor: Während der Geräuschefanatiker Karnau, vom fleißigen Opportunisten zum Täter mutiert, zu obskuren Stimmforschungszwecken wehrlose KZ-Häftlinge malträtiert, beginnt die kleine Helga Goebbels inmitten der aufgepeitschten Hysterie im Berliner Sportpalast, schockiert ob der "Totalen Krieg“-Rede ihres Vaters, den kollektiven Kriegsirrsinn zu durchschauen. Sie bleibt sprachlos, nach Luft ringend zurück. Aufstehen. Raus. Atmen.