Gebrauchsanweisung

Ulrich Seidls neuer Film kommt in die Kinos

Tragikomödie. Ulrich Seidls Film "Paradies: Liebe" feiert Kinostart

Drucken

Schriftgröße

Herzlichen Glückwunsch und eine höfliche Direktive vorab: Sie haben sich für ein Qualitätsprodukt entschieden – für „Paradies: Liebe“, einen leistungsstarken Spielfilm mit zahlreichen filmkünstlerischen Vorzügen, geeignet für Einsteiger und Fortgeschrittene. Um möglichst viel Freude an dem von Ihnen gewählten Film zu haben, bitten wir Sie, folgende Gebrauchsinformationen durchzulesen und nach Möglichkeit zu beherzigen. Bei falscher Bedienung oder unsachgemäßem Gebrauch dieses Films wird keine Haftung für Unzufriedenheit oder den Verlust romantischer Illusionen übernommen. Garantieleistungen sind nicht nur in solchen Fällen ausgeschlossen.

+++Autorin Sibylle Berg über "Paradies: Liebe"+++

Vor erstmaliger Verwendung
Bitte überprüfen Sie, ob Sie diesen Film tatsächlich unter einwandfreien Projektionsbedingungen sehen können. Um die ästhetischen Entscheidungen des Regisseurs nachvollziehen zu können, ist eine ungestörte und technisch hochwertige Vorführungssituation unabdingbar.

Grundlegendes zur „Paradies“-Trilogie
Als ein großer Film, in dem drei Urlaubsgeschichten, drei Frauenschicksale, abwechselnd erzählt werden sollen, wurde „Paradies“ zunächst konzipiert. Der Film sollte Aspekte weiblicher Sexualität ausloten, die von der verbotenen ersten Liebe eines Teenagers bis zum libidinösen Gottvertrauen reichen. In der kenianischen Episode, die später zu „Paradies: ­Liebe“ ausgeweitet wurde, sollte eine österreichische Touristin namens Teresa, furchtlos dargestellt von der Wienerin Margarethe Tiesel, erste Erfahrungen im Umgang mit den sich anbietenden Beachboys machen. „Nach ewig langen Schnittversuchen“, sagt der Regisseur heute, habe sich herausgestellt, „dass die vernetzte Fassung aller drei Geschichten gute fünfeinhalb Stunden in Anspruch nahm. Hätten wir uns auf verträglichere zweieinhalb Stunden Laufzeit heruntergearbeitet, so hätten alle Geschichten an Substanz und Inhalt verloren. Ich entschied mich dafür, die drei Geschichten einzeln zu erzählen, da die Vernetzung die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu sehr belastet hätte.“

„Paradies: Liebe“ (Kinostart: 30. November 2012), „Paradies: Glaube“ (zu sehen ab 11. Jänner 2013) und „Paradies: Hoffnung“ (ab 22. Februar 2013) erzählen also drei lose miteinander verknüpfte Frauengeschichten, als deren Hauptschauplätze ein Luxus-Hotelkomplex in Mombasa, ein katholisch-muslimisch umfehdetes Reihenhaus am Wiener Stadtrand und ein Diätcamp für übergewichtige Teenager fungieren. Das 320-minütige Triptychon dreht sich um Sextourismus, religiösen Fanatismus und erste Liebe – somit um Kolonialismus, Rassismus, Ehekrisenalltag, Kulturkampf, Autoritätssysteme und libidinöse Verstrickungen. Mit Kleinigkeiten gibt sich Ulrich Seidl nicht zufrieden. Die „Paradies“-Filme entstanden, wie schon 2007 Seidls „Import Export“, als österreichisch-deutsch-französische Koproduktion.

+++Seidls Darstellerinnen im Interview+++

Sicherheitshinweise
Verwenden Sie „Paradies: Liebe“ nur für die vom Regisseur vorgesehenen Zwecke: als kreativen Diskussionsbeitrag zu den finsteren Aspekten des Massentourismus und den Marktwerten weiblicher Sexualität. Halten Sie Kinder von diesem Film fern, oder beaufsichtigen Sie diese, um sicherzustellen, dass sie nicht mit Bildern und Weltsichten konfrontiert werden, deren kritisches Potenzial sie nicht ermessen könnten.

Erste Schritte. In diesem Kapitel finden Sie vorbereitende Maßnahmen und Basis-­Charakteristika des Films „Paradies: Liebe“.
Für Ulrich Seidls Verhältnisse ist „Paradies: Liebe“ erstaunlich locker angelegt. Im direkten Vergleich mit „Import Export“ erscheint die Inszenierung zärtlicher, sanfter, weniger heftig, weniger „provokant“. Unangestrengt zeichnet der Regisseur hier die wechselnden Stimmungen nach, die sich unter österreichischen Sextouristinnen abzeichnen: die Hysterie in einer von Hotelanimateuren, jäher Urlaubsfreiheit und vulgären Fantasien befeuerten Frauengruppe im Hotel, die Frivolität im Umgang mit den so geschäftstüchtigen wie charmanten Beachboys, aber auch die Ungeschicktheit der ersten erotischen Kontakte in den billigen Motels abseits der Touristenzonen – und das Gefühl der Einsamkeit, das mit der Erkenntnis der ökonomischen Realität hinter der fingierten Gefühlsduselei korrespondiert.

Die nonchalante Form entspricht der Anlage des Films perfekt: Der Ernst der Lage – die Armut der Afrikaner, das Überlegenheitsgefühl der Europäer, das System gedankenloser gegenseitiger Nutzbarmachung – findet sich in einer Inszenierung wieder, in der das amüsante Blendwerk trotzdem zu seinem Recht kommt, in der sich all die Lügen und Selbstbetrugsroutinen finden, die sexuell motivierte Pauschaltraumreisen dieser Art ausmachen.
Achtung: Eine Veränderung des Bildausschnitts während der Vorführung ist nicht möglich. Auch mehrfaches Abspielen gelungener Szenen wird im Kino aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zugelassen.

Erweiterte Wahrnehmungen
„Paradies: Liebe“ ist ein entschieden sinnlich gestalteter Film, eine Inszenierung mit erhöhtem Sinn für jene Kleinigkeiten, über die andere locker hinwegsehen. Seidls Akteure sind körperlich so präsent, dass man ihre Erschöpfung nachvollziehen und den Schweiß auf ihrer Haut wahrnehmen kann: Hundstage in Mombasa. Den streng materiellen Hintergrund, vor dem Teresas zwischen Scham und Exhibitionismus changierende Einlassungen stattfinden, blendet sie zunächst auch aus Selbstschutz erfolgreich aus. Aber bald muss sie sich der Verzahnung von Sex und Geschäft, an der sie beteiligt ist, stellen. Sie beginnt, sanft dazu gedrängt, die verarmte Familie ihres Liebhabers zu finanzieren. „Paradies: Liebe“ zeichnet einen Prozess der Desillusionierung auf.

Hinweis bei Verwendung über einen längeren Zeitraum
Die relative Heftigkeit des Seidl’schen Kinos lässt es ratsam erscheinen, für einen wohldosierten Umgang mit den Filmen dieses Regisseurs zu sorgen. Sorgloser Konsum seiner Arbeiten kann zu Bewusstseinstrübungen und einem Gefühl der Abgeschlagenheit und Mutlosigkeit führen.

Häufig gestellte Fragen

Darf ich angesichts des Aberwitzes, den Seidl einem zumutet, lachen, obwohl eigentlich Deprimierendes verhandelt wird?

Selbstverständlich. Der Filmemacher erklärt, ihm liege viel daran, schwarzen Humor in seine Filme zu bringen. Am besten sei es, so Seidl, „wenn die Menschen lachen können und es ihnen im nächsten Moment kalt über den Rücken läuft: Ich will Schnittstellen finden zwischen Tragödie und Komödie.“

Was hat die frenetische Szene am Anfang des Films, die eine Gruppe behinderter Menschen beim Autodromfahren zeigt, mit dem Rest der Erzählung zu tun?

Auf den ersten Blick scheint sie bloß eine relevante Information zu bergen: Die Protagonistin arbeitet, wie man sieht, als Behindertenbetreuerin. Aber die Szene hat mit grundlegenden Aspekten zu tun, die auch den Massentourismus betreffen: Es geht um Freizeit und Hedonismus, um kurzfristige Ekstase und die institutionalisierte Gewährung „verbotener“ Freuden unter der Prämisse von Unverbindlichkeit und Gefahrlosigkeit. Oft sind es nur Bilder, die Seidls Erzählungen in Gang bringen. Das Behinderten-Autodrom beispielsweise ist eine Filmidee, die er seit 20 Jahren im Kopf hat.

Sind die Menschen, die in „Paradies: Liebe“ auftauchen, hauptsächlich Laiendarsteller?

Zwar verdingen die drei jungen Männer, an die Teresa gerät, sich tatsächlich als ­Beachboys, sind also im engeren Sinn nicht Schauspieler zu nennen. Aber alle vier Darstellerinnen, die hier Sextouristinnen spielen, sind bühnen- und filmer­probte Profis, die nur durch den Mut, sich Seidls eigenwilligen Methoden anzuvertrauen, zu jener radikal naturalistischen Qualität kommen, die unentwegt insinuiert, hier spielten vier Frauen sich einfach selbst. Die Eliminierung jedes geküns­telten, „hohen“ Schauspielertonfalls hat ­Ulrich Seidl über die Jahrzehnte perfektioniert. Das ist auch eine Frage des (von der langjährigen Seidl-Mitarbeiterin Eva Roth betreuten) perfekten Castings.

Technische Daten
Produktionsjahre: 2009–2012. Weltpremiere: Filmfestspiele in Cannes, 17. Mai 2012. Laufzeit: 120 Minuten. Sprachen: Deutsch, Englisch, Swahili. Format: 35 mm. Bildverhältnis: 1,85:1, Ton: Dolby Digital.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.