Urlaub am Berg: Auszeit auf der Alm

Urlaub: Auszeit auf der Alm

Sport und Freizeit in Österreichs Bergwelt

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Die Luft war nicht mehr stickig, sondern frisch und klar, die Stille nicht bedrückend, sondern beruhigend, und die Sterne waren zum Greifen nah. Das war der Moment, in dem Angelika Streit auf einer nächtlichen Almwiese eins mit sich selbst war. Die Unzufriedenheit mit dem Beruf spielte plötzlich keine Rolle mehr. Dieses Gefühl wollte sie festhalten und immer wieder erleben – auch wenn der Preis dafür untertags harte körperliche Arbeit in mehr als 2000 Meter Höhe war, die Nachtruhe selten länger als bis fünf Uhr Früh dauerte und Streit auf Fließwasser und jeglichen Komfort verzichten musste.

Immer mehr Städter zieht es im Sommer nicht nur zum Wandern in die Berge. Sie wollen teilhaben am Leben der Älpler – und das nicht nur beim Urlaub auf dem Bauernhof, wo Kühe nur zum Streicheln da sind und sich der Kontakt mit Heu auf dessen frischen Duft beschränkt, der am Morgen in der Nase kitzelt.

Diesen Boom beobachten auch Vermittlungsstellen für Plätze auf Almen und Bergbauernhöfen wie die „Österreichische Almwirtschaft“ oder die Aktion „Freiwillige Hilfe am Bergbauernhof“. Zwar sind Bauern schon seit Jahrzehnten mittels Inseraten auf der Suche nach Helfern, doch erst seit die Vermittlung über eine Internetplattform (siehe Kasten) erfolgt, wagen viele, die mehr als nur ein bisschen Landluft schnuppern wollen, den Schritt, sich im Urlaub als Almwirt, Sennerin oder Viehhüter zu betätigen. Dies hat auch Reinhold Jäger, Koordinator von „Freiwillige Hilfe am Bergbauernhof“, festgestellt: „Seit wir im Jahr 2004 unsere Aktion starteten, wächst die Zahl an Anfragen stetig. 2005 arbeiteten 50 Freiwillige auf Bergbauernhöfen mit, voriges Jahr schon 80. Manchmal klappt es allerdings organisatorisch nicht, bereits Vermittelte wollen wegen schlechten Wetters doch nicht kommen oder haben schlichtweg Muffensausen.“

Alltagsflucht. Das hatte auch Streit, bevor sie sich vergangenen Sommer einen Traum erfüllte und sich im Juni 2006 ins schweizerische Tessin aufmachte, wo sie drei Monate lang mit einem anderen Freiwilligen eine Alm mit rund sechzig Ziegen bewirtschaftete. Den Weg auf die Alm hatte sie aus ähnlichen Gründen gefunden wie die meisten Freizeitälpler: Die Unzufriedenheit mit ihrem Beruf als Klavierlehrerin wuchs proportional zur Schülerzahl, und irgendwann zog sie die Notbremse. Einfach nur entspannen und nichts tun war jedoch keine Option. „Als Kind verbrachte ich die Ferien immer im Haus meiner Eltern in der Semmeringregion“, berichtet Streit. „Unsere Nachbarn waren Bauern, und ich konnte mir schon damals nichts Schöneres vorstellen, als zu wandern und mich um die Tiere zu kümmern. Daran habe ich mich wieder erinnert, als ich nach einem Ausgleich zum Beruf gesucht habe.“

2002 wurde sie auf die Initiative „We’re Welcome On Organic Farms“aufmerksam, die Freiwilligen Arbeit auf Bauernhöfen gegen Kost und Logis vermittelt, und ging drei Sommer lang auf verschiedensten Höfen in die Lehre: Melken musste ebenso erlernt werden wie Ausmisten, Heumachen, Butterstampfen und die Herstellung von Käse. Vergangenes Jahr fühlte sie sich der Aufgabe gewachsen, eine Alm tatsächlich alleine bewirtschaften zu können. Vom Bauern wurden sie und ihr Kollege eingewiesen, danach waren die beiden auf sich selbst gestellt. Pech nur, dass die Chemie zwischen den zwei Almaspiranten ganz und gar nicht stimmte. Man ging sich nach Möglichkeit aus dem Weg – zumindest tagsüber, wenn Streit als Hirtin in den Bergen unterwegs und der Almgefährte als Senner beschäftigt war. Gemolken wurde immerhin gemeinsam, und spätestens beim Schlafengehen war es mit der Privatsphäre vorbei: In der Hütte gab es nur einen einzigen Raum. „Physisch und psychisch war es eine absolute Grenzerfahrung“, so Streit. „Ich habe noch nie in meinem Leben so hart körperlich gearbeitet. Die Ziegen mussten mit der Hand gemolken werden. Einerseits bekommt man schnell Muskeln, andererseits hatte ich kein Gefühl mehr in den Händen. Trotzdem musste danach auch noch Käse hergestellt werden. Wir konnten die Milch ja nicht schlecht werden lassen.“

Spätestens, wenn die Tagwache noch vor dem Morgengrauen beginnt und die Blasen vom Heuwenden an den Händen schmerzen, wird auch den größten Romantikern klar, dass die Zeit auf der Alm wenig mit Alpinromantik gemein hat. Johann Jenewein, Koordinator der Initiative Almwirtschaft, hat schon so manchen Idealisten aufgeben sehen. „Viele sind sich nicht bewusst, was auf sie zukommt“, so Jenewein. „Romantiker werfen meist schon nach zwei Wochen das Handtuch.“ Ohnehin könne man bereits aus den Stellengesuchen herauslesen, wer die Schwerarbeit am Berg zu sehr verklärt und sich meist doch nicht zur Mithilfe eignet. Reinhold Jäger, der als Vermittler zwischen Bergbauern und Helfern fungiert, teilt die Almaspiranten mangels persönlichen Kontakts lediglich anhand längerer Telefonate den jeweiligen Höfen zu. Obwohl sich jedes Jahr rund 200 Interessenten melden, scheiden viele schon bei der Vorauswahl aus. „Einige verwechseln unser Angebot mit Urlaub auf dem Bauernhof“, so Jäger. „Wenn das Wetter schön ist, müssen die Leute auf den Berg oder bringen das Heu ein. Bei Schlechtwetter putzt man beispielsweise den Stall.“ Traut sich aber jemand zu, im Hochsommer zehn Stunden lang bei 30 Grad unterwegs zu sein und den ganzen Tag in Bergschuhen zu stecken oder auch mit Blasen an den Händen weiterzuarbeiten, hält er wohl auch auf der Alm durch.

Lässt man sich auf das Abenteuer ein, wird man meist entsprechend belohnt. Angelika Streit: „Es war unglaublich befreiend, niemandem etwas vorspielen zu müssen.“ Diese Erfahrung machten auch zwei deutsche Manager, von denen Jenewein berichtet: „Sie wollten einen Sommer lang körperlich arbeiten, um sich zu beweisen, dass sie das auch schaffen.“

Das wollte auch der Schauspieler Axel Fussi. Freunde schwärmten ihm Anfang der achtziger Jahre vom Leben auf der Alm vor. Nach der Geburt seines Sohnes im April 1983 machte er sich mit seiner Familie auf den Weg in die Berge – skeptisch beäugt von der Fürsorge, denn Fussi wollte zurück zur Einfachheit und bezog mit Frau und Säugling eine Hütte ohne Licht, das Wasser musste vom Brunnen geholt werden. Trotz schwieriger Bedingungen genoss Fussi das Zusammensein mit seiner Familie in der Abgeschiedenheit der Berge so sehr, dass es ihn bis 1997 jeden Sommer von Juni bis September auf die Alm zog. „Als Freiberufler war das gut möglich. Teilweise habe ich meine Arbeit auch bewusst so ausgesucht, dass ich mich im Frühsommer aus der Stadt verabschieden konnte. Heute wäre ein so langer Ausstieg für mich Luxus“, berichtet Fussi.

Am Hungertuch nagen müssen die Hobbyälpler allerdings nicht. Wer sich drei Monate Auszeit nimmt, wird dafür auch entlohnt. Fussi spezialisierte sich auf den Umgang mit Jungvieh, was ihm mehr Freizeit auf der Hütte bescherte, da das zeitaufwändige Melken wegfällt. Er begann ein Philosophiestudium und fand erst auf der Alm die Muße, sich mit den Inhalten zu befassen. Fussi schwärmt von der Einsamkeit, die Konzentrationsvermögen und Selbstreflexion fördern würde. Ähnliche Effekte hätten Extremerfahrungen. „Wenn man im September vom Wintereinbruch überrascht wird und mit fünfzig Rindern im Schnee feststeckt, schwört man sich, nie wieder auf die Alm zu gehen, und kommt trotzdem im nächsten Jahr wieder“, so Fussi. „Hat man ein solches Erlebnis gemeistert, weiß man, wie viel wirklich in einem steckt.“

Hobbyhüttenwirt. Das bestätigt auch Gerhard Nesvadba, der vor 18 Jahren zum Hobbyhüttenwirt wurde: Im Rahmen seiner Alpenvereins-Jugendgruppe lernte er einen Hüttenwart in der Region der Kärntner Kreuzeckgruppe am Rande des Nationalparks Hohe Tauern kennen, der seine Almhütte abgeben wollte. Die Gruppe nutzte die Gelegenheit und bewirtschaftete die Hütte, die vor allem von Wanderern als Quartier und Jausenstation besucht wird.

Die Gruppe hat sich zwar längst zerschlagen, aber Nesvadba widmet sich immer noch jeden Sommer der Gästebetreuung auf 2000 Meter Höhe. Selbst dann, wenn tagelang kein Wanderer einkehrt, ist er auf der Alm. Er bereitet Bettenlager vor, backt Brot und kümmert sich um Lagerung und Beschaffung der Lebensmittel aus dem Tal. Nesvadba: „Eine Zufahrt gibt es nicht. Wir schleppen einmal wöchentlich alle Lebensmittel nach oben. Auf Luxus wie einen Becher Joghurt verzichte ich gern. Geholt wird nur, was wirklich nötig ist, denn den anfallenden Müll müssen wir wieder ins Tal transportieren.“

Dadurch habe er den Wert der Dinge jedenfalls mehr zu schätzen gelernt, erzählt er: „Entschleunigung ist da oben mehr als nur ein Schlagwort. Es ist ein ganz anderer Lebensstil. Wir haben kein Fließwasser und auch keinen Kühlschrank, da geht man mit Ressourcen ganz anders um.“

Von Ulrike Moser