Urumqi, Hauptstadt der Straßenschlachten

Urumqi, Hauptstadt der Straßenschlachten: Peking reagierte mit einem Heer aus Militärpolizisten

Peking reagierte mit einem Heer aus Militärpolizisten

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Von Kristin Kupfer, Urumqi

Der uigurische Ladenbesitzer an der Yinma-Gasse stürzt aus der Tür. Eine Hand voll seiner Landsleute stehen bereits draußen vor den fast durchwegs einstöckigen Erd- und Ziegelhäusern. Sie heben faustgroße Steine vom Boden auf. Am Ende der Gasse ertönt Kampfgeschrei. Rund hundert ­Militärpolizisten drängen eine Horde von Chinesen zurück. Einige schwingen Eisenstangen, Steine fliegen. Sie wollen Rache. Erst randalierten die Uiguren in ihren ­Straßen. Jetzt attackieren die Chinesen die uigurischen Gassen. Plötzlich drehen sich zehn Militärpolizisten um und rennen mit erhobenen Stahlruten auf die Uiguren zu. „Wir töten euch!“, schreien sie. Die Uiguren lassen die Steine fallen und flüchten in Hauseingänge. Die Polizisten machen kehrt.

Szenen aus Urumqi, der Vielvölkerstadt der autonomen Region Xinjiang und vergangene Woche noch Welthauptstadt der Straßenschlachten. Zwei Ecken von der Yinma-Gasse entfernt hält Erkabar vor dem Eingang eines der wenigen mehrstöckigen Wohnhäuser keuchend inne. Dann rennt er die Treppen hoch in den zweiten Stock und stößt eine Tür auf. Die Dreizimmerwohnung ist mit orientalischen Teppichen ausgelegt. Teller mit Fladenbrot und Rosinen stehen auf dem langen Wohnzimmertisch. Die Großmutter, die Schwester und zwei Tanten kauern an den Fenstern. Neben der Wohnungstür lehnt ein Holzstock, auf dem mit schwarzem Strick ein Beil befestigt ist. „Wir wollen das doch eigentlich auch nicht“, sagt der 18-Jährige im für Uiguren typischen bunt bestickten Hemd. Er sucht seit Wochen nach einer gut bezahlten Arbeit. Überall hört er nur, dass es für Uiguren keine Stellen gibt. Die Chinesen verachteten die Uiguren, sagt Erkabar: „An unserem Aufstand gegen sie sind sie selbst schuld.“

Strafaktionen. Nun aber sehen sich die Uiguren doppelten Strafaktionen von Bevölkerung und Behörden gegenüber. Nach offiziellen Angaben haben die Sicherheitskräfte bereits über 1400 Verdächtige verhaftet. Im südlichen Stadtteil nahe dem großen Bazar protestierten hunderte Ehefrauen weinend gegen die Verschleppung ihrer Ehemänner. Der Parteisekretär der Stadt Urumqi, Li Zhi, hat harte Strafen gegen die uigurischen Randalierer angekündigt. Ihren Anführern droht die Todesstrafe. Und in der Yinma-Gasse sollen vier uigurische Jugendliche mit einem Beil ermordet worden sein.

Begonnen hat die Eskalation der Feindseligkeiten vor nunmehr zwei Wochen mit einer inzwischen offiziell als falsch entlarvten Meldung im Internet. Sechs uigurische Wanderarbeiter waren darin beschuldigt worden, in einer Spielzeugfabrik der Stadt Shouguang in Chinas südlicher Provinz Guangdong zwei chinesische Kolleginnen vergewaltigt zu haben. Daraufhin zog die chinesische Belegschaft gegen uigurische Arbeiter zu Felde. Mindestens zwei Uiguren starben. Die lokalen Behörden versuchten, das Ereignis herunterzuspielen. Am 4. Juli tauchte auf uigurischen Webseiten ein Aufruf zu Demonstrationen auf dem Volksplatz auf. Gefordert wurden eine öffentliche Untersuchung und Aufklärung der Vorfälle in Shouguang. Am 5. Juli zogen zunächst dutzende uigurische Studenten auf den Platz. Rasch schloss sich ihnen eine große Menge uigurischer Männer an.

Sicherheitskräfte traten den Demonstranten entgegen. Gegen Abend eskalierte die Lage. Ein Mob von Uiguren ging gewalttätig gegen chinesische Läden und Passanten vor. Erst spät bekamen die Sicherheitskräfte die Lage unter Kontrolle. Nach offiziellen Angaben starben mindestens 156 Menschen, meist Han-Chinesen. Hunderte wurden verletzt.
Der Uigurische Weltkongress (WUC) mit Sitz in München spricht jetzt von 400 Toten aufseiten der Uiguren. Die Stadt ist im Schock. Peking lässt Militärpolizei einrücken, aber keine Panzer. Chinesen formieren sich mit Stöcken und Stangen vor ihren Läden und Wohnungen. Einen Tag später findet sich eine Masse in den Straßen zusammen und streift zornig durch uigurische Gassen.

Einheit des Volkes. Blutige Auseinandersetzungen zwischen zwei Gruppen der eigenen Bevölkerungen hat es seit dem chinesischen Bürgerkrieg in den vierziger Jahren nicht mehr gegeben. Der nationale Aufstand der Tibeter im März des vergangenen Jahres forderte die Ordnungsmacht der kommunistischen Führung heraus. Die Kämpfe zwischen Chinesen und Uiguren drohen die Einheit des Volkes zu zerstören. Dadurch könnte das ganze Land ins Wanken geraten, so die Angst Pekings.

Urumqi ist die Hauptstadt der autonomen Region Xinjiang, dank ihrer Gas- und Erdölvorkommen eine der Schatzkammern Chinas. Sie ist auch strategische Pufferzone zu den Nachbarstaaten Indien, Russland und den zentralasiatischen Republiken – und eine Spielwiese für deren strategische Interessen. Wie ernst Peking die Lage nimmt, bewies Staats- und Parteichef Hu Jintao mit seiner überstürzten Abreise noch vor dem prestigeträchtigen G8-Gipfel aus Italien. Was nützt China der internationale Ritterschlag als Weltmacht in Finanz- und Klimafragen, wenn das eigene Land aus den Fugen gerät.

Rund um die Yinma-Gasse herrscht ­immer noch eine feindselige Atmosphäre. Dutzende von Militärpolizisten mit Schlagstöcken haben die aufgebrachten Chinesen zurückgedrängt. Ein gepanzertes Fahrzeug mit Tränengaswerfer ist angerückt. Weitere dutzende Militärpolizisten mit automatischen Waffen und schwarzem Arm- und Beinschutz sperren alle Zugänge zu angrenzenden Gassen und Hauseingängen ab. Um die Ecke in der Yinmin-Straße hocken Gruppen von uigurischen Männern vor ihren Häusern. Scheiben sind zerschlagen. Rollläden verbeult. Einige zeigen ihre mit Stofftüchern verbundenen Fleischwunden. „Wer weiß, wie lange uns die Militärpolizisten schützen“, meint einer. Gerüchte machen die Runde. Zwei uigurische Mädchen seien in einem Bus erstochen worden, berichtet ein herbeieilender junger Mann. Die Männer ballen die Fäuste.

Korruption. Auf der anderen Seite der von der Militärpolizei errichteten Barrikade sitzen Chinesen in kleinen Grüppchen auf den weißen Bänken eines mit Bäumen überwachsenen Steinsäulenkorridors beisammen. „Meine Frau hat eine Wunde am Kopf davongetragen und stöhnt vor Schmerzen“, erzählt Wang Liping im Kreise seiner drei Nachbarn, „aber im Krankenhaus ist wegen der vielen Schwerstverletzten kein Platz mehr für sie.“ Ihren Kleiderladen in der nahen Xinhuanan-Straße hätten die Angreifer völlig verwüstet. Einer der Nachbarn hat seinen Sohn verloren und weint leise vor sich hin. Dann murmelt er: „Nie habe ich den Uiguren getraut. Das werden sie büßen, diese Undankbaren, diese Fanatiker, diese …“ Er zerdrückt eine leere Plastikflasche, wirft einen grimmigen Blick auf die Militärpolizisten und geht schließlich weg.

„Wenn meine Frau tot wäre, würde ich auch sofort gegen die Uiguren losschlagen“, meint der 36-jährige Wang und nimmt seine weiße Schlappmütze vom Kopf. „Aber wir müssen jetzt erst alle Dinge klar beim Namen nennen.“ Dann legt er vor den verbliebenen Nachbarn seine Sicht der Dinge dar: Viele der Uiguren hassten die Chinesen. Sie fühlten sich unterlegen, weil sie wegen ihrer schlechteren Bildung oft keine gute Arbeit fänden. Manche seien vielleicht auch durch ihren Glauben fanatisiert. Aber schuld an der ganzen Misere sei die lokale Regierung. „Die ist korrupt und hält sich an keine Gesetze“, sagt Wang zornig. „Unserem lieben Parteisekretär Wang Lequan kann es deshalb ja nur recht sein, dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen.“

Statistik der Zerstörung. Der Zorn der Männer beweist, wie behutsam die Regierung in Peking vorgehen muss, wenn sie der Lage in Urumqi wieder Herr werden will. Immer wieder zeigt das Staatsfernsehen Bilder randalierender Uiguren, brennender Fahrzeuge und schwer verwundeter Chinesen in Krankenhäusern. Insgesamt 271 Fahrzeuge und 290 Läden seien auf einer Gesamtfläche von 56.850 Quadratmetern durch die Gewalttäter angezündet worden – mit solchen detaillierten Statistiken der Zerstörung will Peking den Chinesen signalisieren, dass keiner der Vorfälle ungestraft bleiben werde. Für jeden Verstorbenen sollen die Verwandten rund 21.000 Yuan (2100 Euro) erhalten.

Die chinesische Regierung betont, dass der Mob der Uiguren durch „drei feindliche Kräfte im Ausland“ – das Kodewort für Extremisten, Separatisten und Terroristen – angefacht worden sei. Die Randale seien keine ethnischen oder religiösen Konflikte, sondern das Werk von Rebiya Kadeer, der im US-Exil lebenden, ehemaligen Abgeordneten des nationalen Volkskongresses, Bürgerrechtlerin und – nach chinesischer Diktion – „Anführerin des separatistischen Weltkongresses der Uiguren“ (WUC).

Die 58-jährige Kadeer weist die Vorwürfe Pekings scharf zurück (siehe Interview). Der WUC ringt seit Langem um internationale Aufmerksamkeit für die Sache der Uiguren. Er tritt „für die Befreiung von chinesischer Besatzung in Ostturkistan“ ein – eine Anspielung auf das einstige Großreich der zu den Turkvölkern zählenden Uiguren. Zeitliche und geografische Existenz Ostturkistans sind ähnlich wie im Fall von „Großtibet“ umstritten.
Kadeer und der Kongress beschwören eine friedliche Lösung. Die Nähe zu fragmentierten terroristischen Gruppen und Aktionen, mit denen die Uiguren seit ­Anfang der neunziger Jahre in Verbindung gebracht werden, wollen sie tunlichst vermeiden.

Die tiefe Kluft zwischen Uiguren und Chinesen zu überbrücken scheint unmöglich. Pekings Ablenkungsstrategien und die nun laut vorgetragenen, für China nicht annehmbaren Territorialansprüche des Uigurischen Weltkongresses verschlimmern die Lage nur. Paradoxerweise könnte aber vielleicht eben diese Aussichtslosigkeit aus Sicht beider Bevölkerungsgruppen zumindest die Rückkehr weg von offenen Feindseligkeiten und zum alten Nebeneinander in parallelen Lebenswelten bahnen. Am Rande des großen Bazargebäudes im südlichen Stadtzentrum wartet der uigurische Restaurantbesitzer Abdir Xit auf Kunden. Er hat die zerbrochenen Fensterscheiben ganz herausgeschlagen und zwei nagelneue, kupferfarbene Grilltröge aufgestellt. Lammspieße brutzeln über den glimmenden Kohlen. Die Läden und Restaurants neben ihm sind noch geschlossen.

Trauma. „Die Bilder von dem chinesischen Mob verfolgen mich in meinen Träumen“, sagt der 26-Jährige. Mit seinem hellen Teint und den kleinen Augen sieht er fast wie ein Chinese aus. Auch um das Trauma zu vergessen, habe er seinen Laden wieder aufgemacht. Außerdem braucht er Geld für seine Familie mit den kleinen Zwillingsbuben. Zwei junge Militärpolizisten kommen aus dem Bazargebäude auf Xits Grillladen zu. Stumm zeigt der eine Polizist auf die Spieße. Der andere zieht ihn schnell weg. Beim Weggehen dreht sich der erste Polizist noch einmal um. Abir Xit nickt ihm zu. Das Misstrauen sitzt zu tief, um so einfach überwunden zu werden.