US-Wahlkampf: Das große Spektakel

Demokraten: Parteitag in Boston - Schwung für Kerry

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Jay Rosen hält das Ganze nur noch für eine Lachnummer. „Niemand kann mir mehr überzeugend erklären, was ein Wahlparteitag wirklich ist“, sagt der New Yorker Medienkritiker und Journalismus-Professor. „Oder warum man 15.000 Reporter braucht, um darüber zu berichten.“ Von Politikern wie Massenmedien als PR-Show inszeniert, seien Veranstaltungen wie das Nominierungstreffen der US-Demokraten diese Woche in Boston längst zu „einer großen, toten Zone im Präsidentschaftswahlkampf“ verkommen.

Und genau deshalb ist Rosen jetzt also selbst nach Boston gereist.

Rosen gehört nämlich zu einer Gruppe handverlesener Pioniere: Er ist einer von über 30 Internet-„Bloggern“, die dieses Jahr offiziell Zutritt zu einem US-Wahlparteitag erhalten – zum ersten Mal in der Geschichte dieses Politrituals. Die Demokraten haben die Blogger, jene Verfasser oft anarchistisch-unabhängiger Online-Tagebücher (Blogs), eigens akkreditiert, damit sie ungeschminkt über den viertägigen Konvent berichten mögen, auf dem John Kerry zum Kandidaten seiner Partei gekürt werden soll. Die Willkommensgeste an die Web-Kolumnisten ist keineswegs ohne Eigennutz: „Viele junge Leute bloggen heutzutage“, erläutert Parteitagssprecherin Lina Garcia die Motivation. „Sie sind uns wichtig.“ Klartext: Jede Stimme zählt.

Professor Rosen – der einen täglichen Politik- und Medien-Blog namens „PressThink“ schreibt – hat allerdings anderes im Sinn, als sich in Boston in die demokratische Choreografie der Vermarktungsshow einzuordnen. „Kauft denen das Drehbuch nicht ab“, ermuntert er seine Blogger-Kollegen zu spontanem, radikalem Aufmucken – und vor allem zu verbalem Widerstand gegen die Parteipropaganda. „Verstärkt die menschliche Stimme des Dissenses – egal, welcher Art.“

Doch viel Dissens ist im Bostoner Fleet Center sowieso nicht zu erwarten. Die demokratische Parteispitze hat das Stelldichein der rund 5000 Delegierten und 30.000 akkreditierten Parteitagsgäste als 95 Millionen Dollar teuren Werbe-Event mit militärischer Präzision durchgeplant – vom „empfohlenen“ Inhalt der Festreden (kämpferisch, doch bitte schön nicht allzu scharf „anti-Bush“) bis hin zur Zahl der Luftballons in den Landesfarben Rot, Weiß und Blau, die zum TV-Finale von der Hallendecke rieseln (100.000). Dissidenten müssen draußen bleiben – in einem mit Stacheldraht eingezäunten Geviert, das für Demonstrationen reserviert ist.

Selbst den Journalisten fällt da nichts Neues mehr ein: Sie kritisieren den Parteitag, wie sie es schon seit Jahren tun, als „Posse ohne Hauch von Spontaneität“ (so etwa Howard Kurtz, der Medienkritiker der „Washington Post“) – und sind doch wieder zu abertausenden angereist, um die ihnen zugewiesenen Statistenrollen zu spielen. All das Geld hätte man viel besser investieren können, hat der „Boston Globe“ ausgerechnet: 95 Millionen Dollar reichten allemal, um jedem Bostoner ein Flugticket zur Flucht ins sonnige Florida zu spendieren.

Startschuss. So sehen das die Demokraten natürlich nicht. Für die Strategen ist dieser Parteitag – dessen Veranstaltungsort schon lange bevor Kerry seine Kandidatur fixiert hatte, festgelegt worden war und der daher tatsächlich rein zufällig in der Heimatstadt des Kandidaten stattfindet – nicht nur der „offizielle Beginn des Wahlkampfs“, der den Ton für die kommenden Wochen setzen soll, wie es Wahlkampfmanagerin Mary Beth Cahill formuliert. Der Parteitag böte Kerry auch die Chance, sich noch vor der heißen Phase des Wahlkampfs einen entscheidenden Vorsprung vor George W. Bush zu sichern, so Cahill. Boston, kündigt Parteichef Terry McAuliffe an, sei die Bühne, auf der sich „John Kerry den Millionen Wählern vorstellen“ werde.

Über 80 Millionen Dollar haben Kerry & Co bisher in TV-Werbespots investiert, die dem Volk den Kandidaten schmackhaft machen sollen. Dass in Umfragen dennoch jeder dritte Amerikaner bekundet, „keine Meinung“ zu Kerry zu haben, liegt an der Fokussierung der Kampagne auf die so genannten Swing States (siehe Kasten „Im Auge des Sturms“). Die Demokraten haben den Stimmenfang zur eigenen Wissenschaft gemacht und sich, von Computeranalysen gesteuert, auf wenige kommunale „Wahlmärkte“ wie St. Louis, Kansas City und Cleveland konzentriert, wo angeblich die meisten Wechselwähler residieren. Doch wegen der orchestrierten Anti-Kerry-Propaganda des republikanischen Lagers konnte der demokratische Herausforderer auch dort von George Bushs Schwächen bislang nicht ganz so wie erhofft profitieren. Dennoch: Aufgrund von Folterskandal, Irak-Debakel, 9/11-Versäumnissen und der jüngsten Senatsscharade um die Schwulenehe hat die Mehrheit der Amerikaner, so Umfragen, die Nase voll vom Amtsinhaber im Weißen Haus – und Kerry hat inzwischen die Führung übernommen.

Durchmarsch. Den nötigen Enthusiasmus soll nun also in Boston die fürs Fernsehpublikum produzierte Revue schaffen und Kerry den erhofften Auftrieb für einen Durchmarsch verschaffen. Um mindestens fünf bis zehn Prozentpunkte sollte Kerry seinen Vorsprung in den Umfragen durch den Parteitag ausbauen können, hoffen die Demokraten. An Bill Clintons Meisterstück von 1992, an das sich alte Parteikämpen fast wehmütig erinnern, dürfte er freilich nicht herankommen: Clinton war, von Sex- und anderen Skandalen umtost, ziemlich angeschlagen in den New Yorker Wahlparteitag jenes Jahres gewankt; manche Beobachter hatten ihn zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschrieben. Doch eine spektakuläre TV-Inszenierung im Madison Square Garden (und ein desaströs missratener Parteitag der Republikaner in Houston) katapultierte Clinton mit einem historischen Vorsprung von 24 Prozentpunkten in den Rest des Wahlkampfs – und zum Sieg im November.

Dass Ähnliches dieses Mal auch nur annähernd klappt, ist keineswegs sicher. Viele tun das Bostoner Schaustück schon vorab als irrelevant ab. „Die Zeit der Parteitage ist längst vorbei“, findet zum Beispiel der kalifornische Politologe Nelson Polsby. Anders gesagt: abschalten, weghören.

Dabei war das alles ja mal ganz anders. Amerikanische Wahlparteitage begannen schließlich als Ereignisse von höchstem politischem und journalistischem Nutzwert: Demokraten und Republikaner rangen vor den Augen der Bürger um ihre Richtung, trugen Flügelkämpfe aus, stellten eine ganze Reihe von Kandidaten auf, von denen selten einer im ersten Wahlgang die Mehrheit auf sich vereinen konnte, was die Spannung zusätzlich steigerte. Dramatische Entscheidungen wurden getroffen und Schicksale besiegelt, nicht zuletzt das der Nation. Das geschah meist ganz ohne Drehbuch und oft von allerlei Turbulenzen begleitet. 1860 konnten sich die Demokraten auch in zehn Tagen nicht auf einen Kandidaten einigen und mussten sich sechs Wochen später nochmals treffen. 1924 benannten sie nach sage und schreibe 103 erfolglosen Wahlgängen einen Kompromisskandidaten, den Botschafter John Davis (der im November darauf mit 29 Prozent der Stimmen gegen den Republikaner Calvin Coolidge scheiterte).

Medienspektakel. Heute stehen die Kandidaten spätestens nach den Vorwahlen fest. Mit den ersten Live-Berichten im Fernsehen verkamen die Parteitage dann vollends zu reinen Medienspektakeln und aufwändig produzierten Werbespots für die Aspiranten aufs Weiße Haus. Die Länge der Reden, ja sogar der gesamten Affäre ist seitdem auf die Zuschauer maßgeschneidert: Tagsüber sprechen, wenn überhaupt noch, die mittleren Parteichargen, die „großen Reden“ dagegen kommen in die abendliche Hauptsendezeit. Kontroverse Reden sind nicht vorgesehen. Jeder Kongresstag steht zudem unter einem speziellen Motto, alle Kamerapositionen sind penibel festgelegt, die Kulissen in Farbe und Stimmung auf die erwünschte Wohlfühl-Wirkung zugeschnitten.

Unvergesslich etwa, wie die Republikaner vor vier Jahren in Philadelphia einen schwarzen Gospelchor und einen Wanderprediger auf die Bühne stellten, um den Amerikanern daheim ethnische „Vielfalt“ innerhalb der Partei vorzugaukeln – vor einem überwiegend weißen Delegiertenpublikum, das mit Luxuslimousinen angerollt war. Aber auch die Demokraten stehen dem kaum nach: „Die Hälfte unserer Delegierten gehört Minderheiten an“, prahlen sie in Boston. Was aber immerhin mehr als bei den Republikanern der Parteirealität entspricht. Die Demokraten sind tatsächlich die Partei der Minderheiten. Überdies werden Scharen von Vietnamveteranen die Bühne des Fleet Center betreten, um Zeugnis abzulegen über „Mut und Heldentum“ des Friedenskandidaten Kerry. Allen voran der Ex-Cop Jim Rassmann, den Kerry dereinst, als Kommandant eines kleines Patrouillenboots in Vietnam, unter Beschuss der Vietkong aus dem Wasser des Mekong River zog und ihm so, wie sich Rassmann unter Tränen erinnert, „das Leben rettete“.

Den zweifellos gefühlsstarken Auftritt Rassmanns heben sich die Demokraten für den allerletzten Parteitag auf. Zuvor wird ein Bataillon prominenter Redner aufgefahren, um den Hoffnungsträger der Partei ins beste Licht zu rücken: Jimmy Carter, Madeleine Albright, Wesley Clark, Al Gore, Bill und Hillary Clinton (auf Letztere wollten die Organisatoren zunächst verzichten, damit sie Kerry nicht das Rampenlicht stehle, und nahmen sie erst nach lautem Protest ihrer Anhänger nachträglich ins Programm). First Lady in spe Teresa Heinz Kerry wird das Publikum derweil über „Stärke, Charakter und Pflichtbewusstsein“ ihres Gemahls unterrichten – einer der wenigen riskanten Joker der Tagungsordnung, da die Dame ein ziemlich flottes Mundwerk und einen recht eigenständigen Charakter hat.

Mobilisierung. Die Parteitagsinszenierung – der eine massive TV-Werbekampagne folgen soll – richtet sich freilich nicht nur an die Wähler, sondern auch an die Parteibasis in der Provinz. „Dies ist eine Gelegenheit für uns, hunderttausende neue Menschen zu mobilisieren“, sagt Wahlkampfchefin Cahill. Landesweit organisieren die Demokraten deshalb „Parteitags-Partys“, bei denen sich die Leute gemeinsam vor dem Fernseher versammeln sollen. Und in Boston wollen sie mindestens 100.000 neue Wahlhelfer werben. Die würden sich, so ein Kerry-Berater, anschließend „in alle Lande zerstreuen“, um „als Aktivisten die Basis anzufeuern“.

Und wie damals schon Clinton hat auch Kerry einen Hollywood-Regisseur engagiert, um seine Biografie in einem Kurzfilm weichzuzeichnen, passend zum Parteitagsmotto „Stärker daheim, respektiert in der Welt“: den Dokumentarfilmer James Smoll, den, wie die „New York Times“ berichtet, Steven Spielberg höchstselbst empfohlen haben soll. Smolls Ode an den Kandidaten wird über eine gigantische, 30 mal sechs Meter große „interaktive“ Videowand hinter einer Bühne flimmern, auf der sich bis zu 200 Menschen gleichzeitig tummeln können.

Ob das Filmchen jedoch auch ungefiltert in die Wohnstuben flimmert, ist fraglich. Die TV-Networks ABC, CBS, NBC und Fox haben bereits angekündigt, ihre Übertragungszeit aus Boston auf je drei Stunden zu reduzieren. 1972 waren noch insgesamt 180 Stunden zusammengekommen, und selbst vor vier Jahren waren es noch 22 Stunden gewesen. Die übersättigte Stimmung in den Politikredaktionen illustriert Jim Murphy, der Sendungsverantwortliche der „CBS Evening News“: „Die endlose Strategieanalyse, das endlose Protzen mit Insiderwissen – das ist etwas für Politjunkies, aber nicht fürs gemeine Publikum.“

Entscheidungshilfe. Was angesichts sinkender Einschaltquoten für die Sender zwar ein finanziell sinnvolles Argument sein mag, Insider aber zusehends betrübt. „Sicher, Parteitage entscheiden heutzutage nichts mehr von Bedeutung“, sagt Curtis Gans, Direktor des Committee for the Study of the American Electorate. „Doch die Öffentlichkeit verdient es, zu sehen, was für eine Show die Parteien abziehen, um dem Volk bei der Wahlentscheidung behilflich zu sein.“ Die Parteitage, wendet auch der Washingtoner Journalisten-Pate Tom Rosenstiel ein, seien die einzige Möglichkeit, „mehr als minimale Wortspenden“ von den Kandidaten zu hören. Wenn die Networks jetzt aber lieber Reality-Shows ausstrahlten, „dann sagt das etwas darüber aus, was für ein Land wir sind“.

Besagte Politjunkies müssen sich auf Kabelkanäle wie CNN und MSNBC verlassen, den öffentlichen Sender PBS, die unkommentierten, von unbeweglichen Kameras eingefangenen Bilder von C-SPAN – oder das Internet, in dem die Demokraten ihre Parteitagssitzungen live übertragen (www.dems2004.org). Um möglichst jung und modern daherzukommen, haben sie dazu sogar einen eigenen Web-Blogger engagiert, der sich schon vorab vor Freude kaum darüber einkriegte, dass er „dem vielfältigsten Parteitag in der Geschichte“ beiwohnen darf.

Derweil rüsten die Parteisoldaten schon zur letzten Schlacht – für den Fall, dass Kerry auch durch den Parteitag nicht den entscheidenden Schwung erhält. So wird kolportiert, dass die Demokraten bereits hochkarätige Anwälteteams in Stellung gebracht hätten, um ein womöglich abermals haarscharfes Wahlergebnis gerichtlich anfechten zu können. Kerry wolle personell derart aufstocken, dass er nachträgliche zweite Stimmenauszählungen „in fünf Bundesstaaten gleichzeitig“ durchfechten könne.