Guantanamo: Langer Weg nach draußen

USA: Der lange Weg nach draußen

USA: Hartnäckige Anwäl-te stehen vor dem Sieg

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Das archetypische amerikanische Heldenepos erzählt vom Sieg des Einzelnen gegen eine Übermacht. Etwa so: In einem unwirtlichen Land werden die Tore eines Gefängnisses geöffnet. Heraus tritt ein Mann, der nicht mehr daran geglaubt hatte, jemals wieder freizukommen. Er war einer unbesiegbaren Übermacht in die Hände gefallen, die ihn gefangen hielt, obwohl er unschuldig war, und er hatte nur wenige Mitstreiter auf seiner Seite.

Und doch – nach mehr als fünf Jahren in Gefangenschaft geschieht das Unmögliche. Er tritt als freier Mann die Heimreise an. Seine Eltern warten zu Hause in Bremen auf ihn. Sein Name: Murat Kurnaz. Diese Heldengeschichte ist wahr, außer dass der Moment, in dem Murat Kurnaz seine Freiheit zurückerlangt, noch nicht gekommen ist. Er steht jedoch unmittelbar bevor.

Das Besondere an diesem Epos vom Kampf des Einzelnen gegen das System ist die Tatsache, dass der Protagonist ein des Terrors verdächtiger türkischer Staatsbürger ist und die feindselige Übermacht die USA. Murat Kurnaz ist Häftling im US-Gefängnis in Guantanamo Bay auf Kuba. 2001 war er in Pakistan festgenommen worden, als er ein islamisches Missionarszentrum aufsuchte.

Kurnaz gehört zu jenen knapp 500 Gefangenen, die zum Teil seit Anfang des Jahres 2002 in Baracken festgehalten werden, die nach Angaben der US-Regierung für Mitglieder der Terrorgruppe al-Qa’ida errichtet wurden, für „die Schlimmsten der Schlimmsten“, wie US-Präsident Bush befand. In den Monaten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das Pentagon und das World Trade Center wollte niemand ernsthaft das Vorgehen der US-Regierung hinterfragen. Amerika war attackiert worden und musste sich gegen brutale Terroristen verteidigen, die es auf Freiheit und Demokratie abgesehen hatten. Solche Bösewichte wurden gefasst und nach Guantanamo gebracht. Männer wie Murat Kurnaz.

Erst Jahre später, am 31. Januar 2005, sollte ein US-Gericht zu dem Schluss kommen, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Kurnaz „irgendeine Handlung gegen die Vereinigten Staaten oder ihre Verbündeten gesetzt oder terroristische Aktivitäten gegen diese unterstützt“ habe. Zu diesem und vielen ähnlichen Urteilen wäre es wohl nie gekommen, wenn nicht bereits im Jahr 2002 ein paar Anwälte und Menschenrechtsaktivisten damit begonnen hätten, nach der Rechtsstaatlichkeit im Gefängnis von Guantanamo zu fragen.

Einer von ihnen war der britische Anwalt Clive Stafford Smith, der für die Menschenrechtsorganisation „Reprieve“ tätig ist. Seine Motivation, sich für Gefangene in Guantanamo einzusetzen, beschreibt er so: „Ich dachte mir damals: Es ist doch absurd, die USA starten einen Kampf für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und als Erstes bringen sie Leute nach Kuba und nehmen ihnen alle Rechte.“ Eine Hand voll Anwälte in Europa und den USA lehnte sich dagegen auf, dass auf Guantanamo gemäß der eigenwilligen Logik des Pentagon die übliche Rechtsordnung außer Kraft gesetzt war: Obwohl die Insassen angeblich im Krieg gegen den Terror gefasst worden waren, galten sie nicht als Kriegsgefangene im Sinne der Genfer Konvention, und obwohl Guantanamo von den USA verwaltet wird, durfte auf die Insassen kein amerikanisches Recht angewendet werden.

Etappensiege. Die Anwälte verbissen sich in den Fall und errangen Etappensiege. Im Juni 2004 entschied das Höchstgericht der USA, dass die amerikanischen Gerichte für die Guantanamo-Häftlinge zuständig sind. Damit hatte der Plot einen ersten Höhepunkt erreicht: Guantanamo war plötzlich wieder Teil der zivilisierten Welt geworden. Die Anwälte gingen für Kurnaz und mehr als 200 weitere Mandanten vor Zivilgerichte und klagten auf Feststellung der Rechtmäßigkeit der Haft.

Das System schlug zurück. Die US-Regierung setzte in Guantanamo Militärgremien ein, so genannte „Combatant Status Review Tribunals“, die feststellen sollten, dass es sich bei den Gefangenen um „feindliche Kämpfer“ handelte. Damit wollte die Bush-Administration den Zivilgerichten zuvorkommen. Deren Verfahren brachten jedoch erste Ergebnisse. Murat Kurnaz etwa schöpfte Hoffnung, als ihm das Gericht in erster Instanz beschied, dass es keinerlei Beweise für seine Schuld gebe. Die Regierung ging in Berufung.

Die Anwälte erzielten unterdessen auch auf politischer Ebene Erfolge. Sie übten Druck auf Regierungen aus, damit diese sich für ihre Staatsbürger, die in Guantanamo saßen, einsetzten. Nach und nach wurden alle Häftlinge mit europäischen Pässen in ihre Heimat überstellt und dort von der Justiz in Empfang genommen. Imad Achhab Kanouni etwa, ein 28 Jahre alter französischer Staatsbürger, kehrte im Juli 2004 von Guantanamo nach Frankreich zurück und wurde wegen Mitgliedschaft bei einer terroristischen Vereinigung gleich wieder inhaftiert. Doch im Zuge des Verfahrens stellte sich heraus, dass man ihm außer einer Neigung zur fundamentalistischen Spielart des Islam nichts nachweisen konnte. Er kam frei.

Für Häftlinge ohne europäischen Pass ist das schwieriger – wie für den jungen Jemeniten Farouq Ali Ahmed, der vom New Yorker Anwalt Marc Falkoff und seinen Kollegen von der Anwaltsfirma Covington & Burling vertreten wird.

Nachdem Farouq im Jemen die Schule abgeschlossen hatte, machte er Gott ein Versprechen: Sollte es ihm gelingen, die 6000 Verse des Koran auswendig zu lernen, würde er ein Jahr lang afghanischen Kindern Koranunterricht erteilen. Die Übung gelang, und im Frühling 2001 machte sich der 17-Jährige auf nach Afghanistan. Als Ende 2001 amerikanische Bomben fielen, floh er nach Pakistan – wo er von den Behörden aufgegriffen und den Amerikanern übergeben wurde. Seit über vier Jahren sitzt der mittlerweile 22-jährige Farouq nun in Guantanamo.

„Farouq hat weder irgendetwas mit al-Qa’ida zu tun noch für die Taliban gekämpft“, sagt Anwalt Falkoff. „Dürfte irgendein normaler Mensch seine Akte einsehen, würde er sagen: Wollt ihr mich veräppeln?! Solche Leute halten wir fest?!“

Ein „Combatant Status Review Tribunal“ in Guantanamo entschied dennoch, dass Farouq ein „feindlicher Kämpfer“ sei. Ihm wurde vorgeworfen, auf Osama Bin Ladens Flughafen gesehen und gemeinsam mit einer Gruppe bewaffneter al-Qa’ida-Kämpfer festgenommen worden zu sein. Später fanden Falkoff und seine Kollegen heraus, dass die Anschuldigungen von anderen Guantanamo-Häftlingen gekommen waren: Der eine war gefoltert worden und hatte laut FBI-Dokumenten eine Psychose erlitten, der andere hatte nachweislich gelogen. „Das ist wie in einem Hexenprozess im Mittelalter, wo alles nur auf Hörensagen basiert“, klagt Falkoff.

Kanouni und Farouq sind keine Einzelfälle – das geht aus den Protokollen der „Review Tribunals“ hervor, deren Veröffentlichung die Anwälte erstritten haben: In vielen der 517 Fälle glaubt die US-Regierung selbst nicht, es mit Terroristen zu tun zu haben. 55 Prozent der Guantanamo-Häftlinge werden nicht einmal verdächtigt, feindliche Akte gegen die USA gesetzt zu haben. Nur acht Prozent der Insassen werden vom Verteidigungsministerium als al-Qa’ida-Kämpfer klassifiziert. 86 Prozent der Häftlinge wurden nicht von den USA, sondern von der afghanischen Nordallianz oder den pakistanischen Behörden aufgegriffen – und das zu einer Zeit, als die USA für jeden Gefangenen mindestens 5000 Dollar Kopfgeld boten.

Gegenschlag. Dennoch: Das System ist uneinsichtig. Erst im Dezember holte die Regierung wieder zu einem schweren Schlag gegen die Häftlinge und ihre Anwälte aus. Sie brachte den „Detainee Treatment Act“ durch den Kongress, ein Gesetz, das den Gerichten kurzerhand die Kompetenz über die Guantanamo-Häftlinge entzieht. Lässt sich die Justiz das gefallen – der Oberste Gerichtshof entscheidet darüber Ende März –, ist die jahrelange Arbeit der Anwälte zumindest vorübergehend zunichte gemacht.

Alle Anwälte sind sich sicher, dass sie die juristische Schlacht am Ende gewinnen werden. Das Vorgehen der Regierung widerspricht ihrer Ansicht nach der amerikanischen Verfassung, doch der Instanzenweg kann noch Jahre dauern.

Um ihre Klienten schneller freizubekommen, kämpfen die Juristen daher an der PR-Front. So etwa der New Yorker Anwalt Christopher Karagheuzoff und seine Kollegen von der Anwaltsfirma Dorsey, die sechs Häftlinge aus Bahrain vertreten. Die Anwälte reisten in den arabischen Golfstaat, um dort die Behörden und die Öffentlichkeit auf das Schicksal ihrer Landsleute aufmerksam zu machen. Wenige Monate später kamen drei der Häftlinge frei, zwei von ihnen haben inzwischen geheiratet. „Die beste Aussicht auf Freilassung hat ein Häftling dann, wenn seine Regierung mit der US-Regierung verhandelt“, sagt Karagheuzoff.

Für die anderen drei in Guantanamo Verbliebenen macht das die Lage umso unerträglicher: Der 32-jährige Juma Al Dossary, der seit zwei Jahren in einer Isolationszelle sitzt, hat nach Angaben des US-Militärs zehn Selbstmordversuche hinter sich. „Sein Zustand ist ziemlich hoffnungslos“, seufzt Karagheuzoff, der Al Dossary Ende Jänner besucht hat. „Er versteht nicht, warum er nicht freigelassen wird wie die anderen. Die Regierung konnte uns nie erklären, warum er isoliert wird.“

Die PR-Arbeit trägt Früchte, in geringstem Maße allerdings in den USA. Im Rest der Welt ist die Öffentlichkeit zusehends empört darüber, dass Leute ohne Verfahren unbegrenzt lange gefangen gehalten werden. Zudem wurden die immer wieder vorgebrachten Foltervorwürfe jüngst in einem UN-Bericht bestätigt. Sogar der britische Premier Tony Blair, der engste Verbündete von US-Präsident George Bush, übte zuletzt Kritik an der „Anomalie“ von Guantanamo.

Die Anwälte haben einzelne Gefangene rausgeboxt, und sie haben auf juristischem und politischem Weg das hermetische System von Guantanamo aufgebrochen. Die US-Regierung führt einen Abwehrkampf und weiß, dass sie Guantanamo nicht mehr lange halten kann. Die Einzelkämpfer haben die Übermacht ins Wanken gebracht.

Murat Kurnaz, der Bremer mit türkischem Pass, steht offenbar vor der Freilassung. Die Regierung konnte durch den „Detainee Treatment Act“ verhindern, dass das Urteil der zweiten Instanz bekannt gegeben wurde, doch sein Bremer Anwalt Bernhard Docke hat auch dagegen Einspruch eingelegt. Zudem hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn des Jahres in einem Vieraugengespräch mit US-Präsident George W. Bush auf eine Lösung im Fall Kurnaz gedrängt.

Wenn die Gefängnistore für Murat Kurnaz und weitere zu Unrecht Festgehaltene aufgehen, könnte die Schande von Guantanamo ein spätes Happy End nehmen, wie es der uramerikanische Plot vorsieht. Doch die Supermacht USA will das nicht zulassen.

Während sich Guantanamo langsam leert, füllen sich US-Gefängnisse wie jenes in Bagram, nördlich von Kabul in Afghanistan. Einige Gefangene der USA sind dort seit mehr als zwei Jahren in einer ehemaligen sowjetischen Flugzeugwerkstatt untergebracht, teilweise in Käfigen und ohne den dürftigen Rechtsschutz, den die Anwälte in Guantanamo erkämpft haben. „Bagram ist viel schlimmer als Guantanamo“, sagt Anwalt Marc Falkoff. „Das wird unser nächster Kampf.“ Auch der Bremer Anwalt Bernhard Docke beharrt darauf, dass es „nirgendwo auf der Welt einen rechtsfreien Raum geben kann“. Good-bye Guantanamo, good morning Bagram.

Von Sebastian Heinzel und Robert Treichler