USA vor der Wahl: Die Zeit der Wölfe

USA: Die Zeit der Wölfe - Wer Schwäche zeigt, wird untergehen

Die Kandidaten haben ihre Schuldigkeit getan

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Die fünfte Kolonne sammelt sich knapp nach Tagesanbruch. Der kalte Wind pfeift durch die Häuserschluchten vor dem Madison Square Garden, aber sie sind alle da, mit festem Schuhwerk an den Füßen, einem Regenschutz im Rucksack und einem Schnabelbecher Caffè Latte in der Hand: die dauerplaudernde alte Dame mit Hutnadel, die Slacker-Studenten in Designermänteln und Viermeterschals, das in Würde alternde Lesbenpärchen in schwarzen Rollkragenpullovern, der kettenrauchende Jungvater mit Lebenskrise, Werbefachleute, Lehrerinnen, Webdesignerinnen, Kellner.

Es ist ein repräsentativer Querschnitt von Manhattan, der hier zu einem Wandertag der besonderen Art aufbricht: an einen Ort, der diese Wahl entscheiden wird, nach Pennsylvania. Pennsylvania mit seinen 21 Wahlmännerstimmen muss John Kerry unbedingt gewinnen, damit er Präsident der Vereinigten Staaten werden kann – doch es wird verdammt knapp.

Die zwei Busse sind bis auf den letzten Platz voll, es gibt noch zehn andere, die von Sammelpunkten abfahren, und in den nächsten Tagen werden es noch mehr sein. Die Ausflügler sind freiwillig früh aufgestanden. Sie zahlen diese Reise selbst. Es treibt sie nichts anderes an als die feste Entschlossenheit, etwas, irgendetwas zu tun, um die Ära Bush zu beenden.

Weil die andere Seite, in eben dieser Stunde, genau dasselbe tut, gleichen die Straßenkarten der wichtigsten „Swing States“, Pennsylvania, Ohio und Florida, mittlerweile militärischen Aufmarschplänen. Es gibt „eroberte Gebiete“ und „umkämpfte Zonen“, und in Letzteren wird um jeden Straßenzug, um jeden Häuserblock gerungen. Die Wege der feindlichen Teams werden sich an diesen Stellen kreuzen, aber sie werden einander nicht viel Freundliches zu sagen haben.

Ankunft in Westchester, einem Vorort von Philadelphia. Das Herbstlaub der Bäume strahlt in allen Farben. Die Einfamilienhäuser sind solide gebaut, die Veranden mit Halloween-Devotionalien geschmückt, bloß das dritte Auto passt meistens nicht mehr in die Doppelgarage. Es ist ein Ort, wie ihn sich Familien überall in Amerika zum Leben wünschen. Bruce, der Reiseleiter, erklärt: „Wenn auf eurer Liste ein 40-jähriger Mann steht und eine drei Jahre jüngere Frau mit dem gleichen Nachnamen im selben Haushalt, dann handelt es sich wahrscheinlich um ein Ehepaar.“ New Yorkern muss man die Grundregeln des Lebens in Suburbia, der Welt der Vorstädte, erst beibringen. Zweite Lektion: Achtung vor den Hunden.

Dann bleibt nichts mehr dem Zufall überlassen. Jeder kriegt einen Stadtplan mit farbig markierten Straßenzügen. Einer übernimmt jeweils die geraden, ein Zweiter die ungeraden Hausnummern. Die Zielpersonen sind registrierte Demokraten. Der Computer hat ihr Alter und ihr Wahlverhalten ausgespuckt und sie in Kategorien eingeteilt: „faule Wähler“, „treue Wähler“, „potenzielle Rekrutierungsziele“. Der Auftrag des Tages: an die Tür jeder aufgelisteten Adresse klopfen, freundlich grüßen, sich von Bush-Wählern allerdings sofort wieder freundlich verabschieden (Debatten sind verschwendete Zeit). Bush-Wähler sind auszusortieren, Unentschlossene zu überzeugen, sichere Kerry-Wähler zu identifizieren, um sie rechtzeitig noch mehrmals ans Wählen erinnern zu können. Und, sobald sich irgendwo überdurchschnittlicher Kerry-Enthusiasmus zeigt: sofort Telefonnummer aufschreiben und einen freiwilligen Helfer für den 2. November anwerben.

Das wichtigste Argument in diesen Stunden wird lauten: „Diesmal geht es nicht um viel, es geht um alles. Das ist die wichtigste Wahl, die Sie je erleben werden.“

Bruce weiß schon, dass die Demokraten mit dieser Sicht der Dinge nicht mehr allein sind. Früher war die Basisarbeit ihre Domäne, doch „die Republikaner haben in den letzten zwei Jahren mächtig aufgeholt“, sagt er, „die sind heute mindestens so entschlossen wie wir“. Die Bodenoperation für Bush wird direkt im Weißen Haus orchestriert. Die Demokraten hingegen haben sie ausgelagert – an formell unabhängige Organisationen wie „America Coming Together“ (ACT). An eine Million Türen klopfe man am Tag, sagt Bruce, auf der Gegenseite werden es ähnlich viele sein. Kosten: geschätzte 400 Millionen Dollar – zehnmal so viel wie bei der letzten Präsidentenwahl.

19 Dollar pro Stimme. Solche Methoden muten recht archaisch an, in Zeiten von Kabelfernsehen und Internet. Bloß sind sie, wenn man einschlägigen Analysen glauben darf, immer noch am wirksamsten. Donald P. Green und Alan S. Gerber, Politologen an der Universität Yale, haben für die verschiedenen Techniken, die eigenen Anhänger zu den Urnen zu bringen, Kosten-Nutzen-Rechnungen aufgestellt: Der persönliche Kontakt an der Haustür bringt demnach am meisten. Pro 14 Gespräche gewinnt man im Durchschnitt einen Wähler, in Geld übersetzt, sind das zwischen sieben und 19 Dollar pro Stimme. Flugblätter kosten zwischen 14 und 42 Dollar pro Stimme, am ineffizientesten sind Telefonanrufe (200 Dollar). Nachrichten vom Tonband, TV-Einschaltungen und E-Mails hatten überhaupt keinen messbaren Effekt auf die Wahlbeteiligung.

Es ist dennoch ein mühsames Geschäft, und es gibt gute Gründe, es nur in bequemem Schuhwerk zu versuchen. Die meisten Familien von Westchester sind an diesem Samstag wahrscheinlich im Shopping Center; die wenigen Mütter, die zu Hause sind, haben eben eine heiße Pfanne auf dem Herd und wenig Zeit zum Reden. Doch dann und wann steht einer von jenen in der Tür, um die es in dieser unbarmherzig geführten Materialschlacht geht: einer wie Jason Ashe, Immobilienmakler, 29 Jahre alt, frisch verheiratet.

Jason verkörpert eines der Dilemmata der Mittelklasse von Suburbia: Er will einen Mann der Mitte im Weißen Haus. Er hat George W. Bush gewählt, weil der versprach, ein solcher zu sein. Aber dem jungen Mann ist der Präsident seither zusehends unheimlicher geworden. „Ich quäle mich jeden Tag mit der Frage, ob ich ihn noch einmal wählen kann“, lächelt er verlegen, „ich schaue mir im Fernsehen alles ganz genau an, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass da einiges ganz furchtbar schief läuft.“ Er sei ein Konservativer, sagt Jason. Er wolle ein anständiges Leben führen, Geld verdienen, möglichst wenig Steuern zahlen; er habe mit Schwulen und Feministinnen kein Problem, aber auch nicht viel zu schaffen. Die Vorstellung, einen Linken zu wählen, komme ihm seltsam vor. „Aber irgendwie scheint mir, dass Bush sich verrannt hat, dass er den Irak nicht im Griff hat und dass man ihm nicht mehr trauen kann. Was soll ich tun?“

Polit-Geografie. Die Verschiebungen in Jasons Weltbild sind typisch. Das umkämpfte Pennsylvania gehört, wie das ebenso umkämpfte Ohio, zum alten industriellen Amerika. Die Metropole Philadelphia an der Ostküste war im 19. Jahrhundert das Einfallstor für Einwanderer aus Süd- und Osteuropa, die Arbeit in der blühenden Stahlindustrie fanden (ein Drittel der Wähler, der höchste Anteil amerikaweit, sind daher heute noch katholisch). Entlang der Bahnstrecke nach Westen breiten sich die wohlhabenden Vororte aus, einst Bastionen der Republikaner. Doch in sozialen Fragen – Waffenkontrolle, Straffreiheit der Abtreibung – drifteten die Vorstadtmütter immer weiter zur Mitte. Pennsylvania wählte zum letzten Mal 1988, mit George Bush senior, einen Republikaner; danach gewannen Bill Clinton und Al Gore.

Im Westen des Staates verlief die ideologische Verschiebung spiegelbildlich: Pittsburgh (der Wohnsitz von Teresa Heinz Kerry) war das Zentrum der Stahlindustrie, eine Hochburg der Gewerkschaften, die heute mit Abwanderung und Krise kämpft. Die einfachen Arbeiter, einst sichere Parteigänger der Demokraten, drifteten in den vergangenen 20 Jahren nach rechts – in eben denselben sozialen Fragen. Der Westen Pennsylvanias ist heute kulturell konservativ; ähnlich wie in Ohio sind Waffenbesitz und Jagd hier eine Religion.

Wie fängt man solche Wähler im letzten Moment noch ein?
Zum Beispiel so: John Kerry kleidet sich in tannengrünes Jägeroutfit und geht in Ohio Wildgänse schießen. Das ist wichtig, um die Jäger zu überzeugen, dass er ihnen nicht die Flinten im Schrank verbieten will. Tote Tiere in die Kamera halten will der Kandidat allerdings nicht – die wären ein falsches Signal an die friedliebenden Vorstadtmütter. Doch, er habe erfolgreich zwei Gänse erlegt, erzählt Kerry also, er zeigt seine blutbespritzten Hände als Beweis, er sei allerdings zu müde gewesen, um sie nach Hause zu tragen. Sein Büro versichert, man werde sie ihm in den nächsten Tagen zum Verzehr nachschicken.

Es sieht fast so aus, als hätten die Kandidaten selbst im Endspurt nur noch wenig beizutragen. Sie versuchen es mit schierer Präsenz: In Wisconsin verdammt Kerry die zu niedrigen Milchpreise, in Oregon entsteigt George Bush zur Melodie von „Top Gun“ einem Marine-Hubschrauber. Immer hektischer wird dieser Tage das Herumgefliege – wo die Umfragedaten knicken, muss sofort nachgelegt werden; wo man sich auf der sicheren Seite fühlt, werden eilig Geld und Ressourcen abgezogen und umgeschichtet; Michigan braucht einen unvorhergesehenen Zwischenspurt beiderseits, weil Bush überraschend zugelegt hat. Am Montag dieser Woche umarmte Kerry seinen wichtigsten Stimmenfänger, Bill Clinton, in Pennsylvania – dafür brachte Bush nur wenige Tage später Arnold Schwarzenegger nach Ohio mit. In Pennsylvania war der Präsident schon 41-mal.

Fußvolk. Doch die Kandidaten haben ihren Part eigentlich längst erledigt, bei ihren Nominierungsparteitagen, bei den Fernsehdebatten. Die letzten Tage gehören nicht mehr ihnen, sondern dem Fußvolk. Den Rechnern und Zählern, den Verwaltern der Datenbanken, den Wahlorganisatoren, den Bezirksrichtern, den Anwälten, den Freiwilligen mit dem festen Schuhwerk und den Regenponchos sowie den lokalen Parteifunktionären mit ihren kleinen ausgeklügelten Überraschungscoups.

Und da unten, in den Niederungen, im „Untergrundkrieg“, wie das Magazin „Time“ es nennt, kann bis zum Wahltag noch viel kommen.

Am 2. November werden in den USA hunderttausende kleine Einzelrennen ausgetragen – jedes nach seinen eigenen Regeln, jedes angeheizt von örtlichen Emotionen und Animositäten, jedes ausgetragen zwischen Gegnern unterschiedlicher Intelligenz, Fantasie und Skrupellosigkeit. Jeder Wahlbezirk in den umstrittenen Staaten rechnet damit, als das wahlentscheidende Miami-Dade von 2004 in die Geschichte eingehen zu können. Dementsprechend arbeitet man mit allen Tricks: Hier wurden Unterschriften gefälscht, dort Wählerinnen namens „Mary Poppins“ registriert; die Demokraten beschuldigen Republikaner, die Registrierungskarten ihrer Leute einfach vernichtet zu haben; die Republikaner die Demokraten, Obdachlose mit Gratisschnaps zu den Urnen zu karren. „Der Untergrundkrieg ist die hässliche Seite der Demokratie“, schreibt „Time“. „Er zielt nicht darauf, dem Wählerwillen zum Durchbruch zu verhelfen, sondern darauf, ihn zu pervertieren.“ Dutzende solcher Vorwürfe sind bereits gerichtsanhängig.

Scharmützel. All das wird sofort vergessen und irrelevant sein, wenn es am Abend des 2. November einen klaren Sieger gibt. Wird es allerdings knapp, dann wird jedes dieser Scharmützel wohl nachträglich ausgefochten. Staranwalt David Boies, der vor vier Jahren die Florida-Causa für die Demokraten vertrat, hätte einen guten Ratschlag. „Es wäre hilfreich, die Regeln vor dem Wahltag festzulegen und öffentlich kundzutun“, meint er: bis wann Wahlkarten einlangen müssen, ob händische Nachzählungen erlaubt sind, was eine gültige von einer ungültigen Stimme unterscheidet. Man würde solches für selbstverständlich halten. Doch das ist es nicht.

Generell versuchen die Demokraten, die Zahl der abgegebenen Stimmen zu maximieren. Die Republikaner, die sagen, sie wollen „Wahlbetrug verhindern“, versuchen das Gegenteil. In Ohio haben sie sämtliche Wählerlisten nach Irrtümern durchforstet. Am Wahltag werden 3600 republikanische Beobachter in den demokratisch dominierten Sprengeln des Staates Position beziehen – vor allem in der schwarzen Innenstadt von Cleveland –, mit Listen „zweifelhafter Wähler“ in der Hand, und versuchen, diese am Wählen zu hindern. Das sei „legal, aber ein Rezept für Verwirrung und Chaos“, warnt Doug Lewis vom unabhängigen „International Election Center“. Die Wahlleiter sind meist ältere Damen ohne rechtliche Detailkenntnisse. Das Albtraumszenario ist leicht auszumalen: lange Schlangen, frustrierte Wartende, die wieder nach Hause gehen, Tumulte, Debatten, böses Blut.

Als tückisch könnte sich auch eine Neuerfindung erweisen, die man in jedem anderen westlichen Land für absurd halten würde: Kommt ein Wähler in ein Wahllokal und steht nicht auf der Liste, obwohl er sich für wahlberechtigt hält, muss er einen „provisorischen Stimmzettel“ ausfüllen, dessen Gültigkeit erst später geprüft wird. Jeder Bezirk hat verschiedene Regeln, was mit diesen Zetteln geschieht – meist kann man davon ausgehen, dass sie weggeschmissen werden. Die Zahl solcher „provisorischer Stimmen“ dürfte in die Millionen gehen. Sie erfüllen den Zweck, Streit an den Urnen zu vermeiden. Der Wähler geht weg mit dem Gefühl, gewählt zu haben – doch genau das hat er nicht.

Nimmt man dazu noch die Rekordzahl an Wahlkartenwählern (22 Prozent im Durchschnitt, 40 Prozent in manchen Staaten), die Rekordzahl an involvierten Anwälten (20.000 im ganzen Land) und die schon beim letzten Mal bewiesene Schludrigkeit der Medien bei der Bewertung von Daten und Hochrechnungen – die Chance, dass es am Abend des 2. November tatsächlich einen Sieger der amerikanischen Präsidentenwahl gibt, dürfte bestenfalls bei 60 zu 40 liegen. Das Vertrauen der Bürger in ihr System ist jedenfalls tief zerrüttet: Stolze 48 Prozent der Amerikaner halten es für möglich, dass ein Mann an die Macht kommt, der dafür nicht demokratisch legitimiert wurde.

„Wer immer knapp verliert – er wird behaupten, nicht besiegt, sondern beraubt worden zu sein“, resümiert „Newsweek“.

Es sind archaische Tage; Tage, in denen der zivilisatorische Akt des Wählens von rauen Machtspielen überwuchert wird: Wer ist mehr, wer ist stärker, wer hat die kantigeren Ellbogen, und wer weicht eher zurück? Am Wochenende vor der Wahl ist Halloween, und in Westchester, Pennsylvania, baumeln die Gerippe von jeder zweiten Gartentür. Hier und dort wehen amerikanische Fahnen, auf den Treppen liegen bemalte Kürbisse, und auf den sauber getrimmten Rasenstücken davor sind Bush- oder Kerry-Plakate in die Erde gerammt. Manchmal sieht das Gesamtensemble so aus, als huldige man hier einem vorzeitlichen religiösen Kult.

Böser Wolf. Des Nachts, verrät Sara Sweatman, eine junge Mutter, toben um die Plakate kleine Nachbarschaftskriege. Die einen schleichen herum, um Plakate wegzuräumen, andere, um welche aufzustellen. „Es wird mir eigentlich schon alles zu viel“, sagt Sara. „Ich kann es gar nicht mehr erwarten, dass der 2. November endlich vorbei ist. Es soll Schluss sein.“

Zur Endzeitstimmung passt, dass auch in den TV-Spots der letzten Tage die Natur über die Zivilisation die Oberhand gewinnt. Kerry wirbt mit einem Adler, der über einem Canyon kreist. Bush setzt auf die Urangst vor dem bösen Wolf: Ein Rudel Wölfe rottet sich in der Finsternis zusammen, ihre Augen leuchten, sie heulen, wahrscheinlich umkreisen sie ihr Opfer.

Die Botschaft ist einfach: Wer Schwäche zeigt, wird untergehen.