USA: Frühjahrsmüdigkeit

Wird Kerry im November dennoch gewinnen?

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Die Bush-Präsidentschaft – ein Desaster. Erst die peinlichen Enthüllungen des ehemaligen Präsidentenberaters in Anti-Terror-Dingen, Richard Clarke; später die unangenehmen Hearings, denen sich die Regierung vor einem Kongressausschuss stellen musste; und dann der Super-GAU – die Folterbilder von Abu Ghraib. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld – schwer angeschlagen. Präsident George W. Bush – waidwund. Erstmals meint eine Mehrheit der Amerikaner, er habe eine Wiederwahl „nicht verdient“. Nur mehr 42 Prozent der Amerikaner sind mit seiner Amtsführung einverstanden. Seit es moderne Demoskopie gibt, schaffte kein Amtsinhaber die Wiederwahl, der ein halbes Jahr vor dem Urnengang so schlecht lag.

Doch die Konsequenz aus all dem müsse sein, formulierte die „Village Voice“, das legendäre Künstler- und Intellektuellenblatt aus New York, unlängst in einer sarkastischen Volte: „John Kerry muss abtreten.“

Die bitterböse Botschaft: Wenn eine Regierung derart trudelt, der Kandidat der Opposition dies aber überhaupt nicht zu nützen versteht, dann ist dieser Kandidat offenbar auf schrille Weise deplatziert.

Zwei Monate vor dem Nominierungsparteitag der Demokraten in Boston, der ihn auf den Schild heben wird, hat John F. Kerry sein Thema noch nicht wirklich gefunden – um es nobel zu formulieren. Tapfer tingelt er durch die Staaten, geißelt die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung, fordert Umweltschutzgesetze, sammelt Spenden für seine Kampagnenkassa und kritisiert – Höhepunkt der Angriffslust – das „außerordentliche Missmanagement“ der Bush-Kamarilla im Irak. Doch der Punch und Elan, wie ihn der Senator aus Massachusetts bei seiner Siegesserie bei den Vorwahlen im Winter zeigte, ist verpufft. Dabei ist es erst ein paar Monate her, da war der oft hölzern wirkende Präsidentschaftsaspirant für seine Verhältnisse geradezu locker – etwa wenn er seine Reden mit einem lässigen, auf Bush gemünzten „Bring … it … on!“ („Zeig, was du draufhast!“) beschloss.

Vergebene Möglichkeiten. Kerry kommt nicht vom Fleck, meinen auch demokratische Wahlkampfprofis und legen dabei die Stirn in Sorgenfalten. In Umfragen liegen der Herausforderer und der Amtsinhaber Kopf an Kopf. 60 Millionen Dollar hat Bushs Kampagnenteam in den vergangenen Monaten ausgegeben, um den Rivalen in Fernsehspots schlecht zu machen: Der sei ein Wischiwaschi-Liberaler mit erratischem Abstimmungsverhalten im Senat, der heute für einen Krieg votiert und morgen für Kürzungen im Wehretat, der die Steuern erhöhen möchte und eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt. Kerry hat es schwer, dagegenzuhalten. Einerseits, weil sich in Krisenzeiten alle Aufmerksamkeit auf den Präsidenten konzentriert; andererseits, weil sich für weite Teile des Publikums seine Botschaft in der Irak-Causa nicht wahrnehmbar von der der Regierung unterscheidet. Kerry ist für mehr NATO- und UNO-Engagement und gegen den notorischen Unilateralismus. In diese Richtung bewegt sich die Regierung, mit dem Rücken zur Wand, selbst auch schon. Für einen Abzug aus dem Irak ist Kerry nicht. Er kann sich eine Reduktion der Truppen vorstellen; aber auch eine Aufstockung. Hängt eben von den Umständen ab.

„Miserabel“ laufe es für John Kerry, so das Magazin „Newsweek“, er habe eine „Periode vergebener Möglichkeiten“ hinter sich. Und der Starjournalist Joe Klein, der dem Senator eigentlich äußerst gewogen ist, ätzt im Magazin „Time“, Kerry habe sich einen „ruhigen Frühling“ gegönnt. Um Bush zu schlagen, müsse er schon „mehr politische Courage“ zeigen.

Erweist sich der Mann, von dem sich die Welt ersehnt, er möge sie von George W. Bush erlösen, als eine Fehlbesetzung? Jetzt beginnt die Zeit des Lehnstuhl-Psychologisierens. Wie es in Präsidentschaftskampagnen unvermeidlich ist, wird die Frage laut: „Wie tickt Kerry?“

Pünktlich sind jetzt auch auf Deutsch zwei Bücher erschienen, die sich Werdegang und Charakter des möglichen nächsten Präsidenten der USA widmen. „John F. Kerry – Der Herausforderer“ von Michael Kranish, Brian C. Mooney und Nina J. Easton, Journalisten beim „Boston Globe“, dem führenden Blatt aus Kerrys Heimatstadt. Und „John F. Kerry – Eine amerikanische Biographie“ des deutschen Amerikanisten Friedrich Mielke. Beide schildern sie eine erstaunliche, keineswegs simple Figur.

John Kerry, groß, hager, beinahe schlaksig, das Gesicht lang gestreckt, mit dem charakteristischen Haarschopf und Augenbrauen, die wie Anführungszeichen hervorstechen, ist gewiss nicht der Mann, der die Leute automatisch begeistert. Er ist beinahe ein wenig düster, jedenfalls Lichtjahre entfernt vom sonnigen Optimismus eines Bill Clinton. Fast scheu, ist er keiner, der auf die Leute zugeht, sie angreift. Und er ist seit Jugendtagen eher ein Einzelgänger, der nur ganz wenige enge Freunde hat, wird angemerkt. Aufgewachsen in Nobelinternaten in der Schweiz und im heimatlichen Massachusetts – Kerrys Vater war als Diplomat lange in Übersee –, war er ein begeisterter Demokrat, der den liberalen John F. Kennedy glühend verehrte. Doch die meisten seiner Schulkollegen unterstützten die rechten Republikaner. Trotzdem war Kerry der, der den Ton angab – aber nicht, ohne ihn an seine Umgebung anzupassen.

Es blieb eine fixe Konstellation in seinem Leben: Kerry, integriert und beliebt, aber doch ein Außenseiter. Der seine Worte abwog, weil er seine Umgebung immer auch ein wenig als feindlich wahrnahm. Immer bedacht, einen Fehler zu vermeiden: Schließlich platzte der junge Mann vor Ehrgeiz. Schon seinen Kommilitonen am Elitecampus Yale vertraute er an, er wolle Präsident von Amerika werden. Die hänselten ihn daraufhin, indem sie immer die US-Hymne summten, wenn er den Raum betrat (siehe das ausführliche Kerry-Porträt in profil 6/2004). Sein vorsichtiges Bemühen um Ausgewogenheit und auch seine Ahnung über die langfristigen Schäden unüberlegter Äußerungen stammten aus diesen „Jahren, in denen er gezwungen war, immer beide Seiten einer Frage zu bedenken“, heißt es in der Kerry-Biografie der „Boston Globe“-Journalisten.

Als Kerry, mehrfach verwundet und als Kriegsheld hoch dekoriert, aus Vietnam zurückkam und sich der Antikriegsbewegung anschloss, wiederholt sich das Muster, diesmal allerdings seitenverkehrt. Unter den zornigen, zotteligen, wilden Kriegheimkehrern der „Vietnam Veterans against the War“ (Vietnamveteranen gegen den Krieg) war Kerry der Moderate, der genau deshalb, als gerade 27-Jähriger, in eine Sprecherposition gespült wurde. Sein Auftritt vor dem Außenpolitischen Ausschuss des US-Senats im April 1971 machte ihn zu einer nationalen Berühmtheit, seine Aussage steht heute in jedem amerikanischen Geschichtsbuch. Die Leute um Präsident Richard Nixon fürchteten den jungen Mann, „der wie Kennedy aussieht und genauso redet wie Kennedy“ (so Nixon-Stabschef H. R. „Bob“ Haldeman). Kerry war vom Geist der Rebellion angesteckt, aber doch bemüht, den Boden des Mainstreams nicht vollends zu verlassen.

Courage und Vorsicht. Kerry, der Führer der Antikriegsbewegung, war seltsam erwachsen, schien, wie Joe Klein einmal im „New Yorker“ schrieb, „der älteste Siebenundzwanzigjährige der Welt“ zu sein.

Diese Mischung aus Courage und Risikovermeidung wurde Kerry zur zweiten Natur. Was eine Bedingung für seine Karriere war, ist aber womöglich auch seine größte Schwäche: dass er nicht immer offen sagt, was er sich denkt. Es gibt diesen Typus linker Politiker, die aus Sorge, ihre eigentlichen Positionen wären beim Publikum nicht mehrheitsfähig, anders sprechen, als sie denken. Der Preis dafür ist, dass ihre Botschaft blass wird – und dass sie, weil man ihnen die Diskrepanz anmerkt, ihre Politik nicht immer glaubwürdig vermitteln können. Wie praktisch alle Demokraten aus dem liberalen Neuengland steht Kerry politisch am linken Flügel des amerikanischen Meinungsspektrums: für aktive Sozialpolitik, gegen die Todesstrafe, für kulturellen Liberalismus, gegen arrogante amerikanische Großmachtspolitik.

Er ist europäisch orientiert, weltläufig, aber doch auf oft groteske Weise bemüht, sich das nicht anmerken zu lassen: Pariser Journalisten berichteten fassungslos, dass derselbe Kerry, der mit ihnen hinter verschlossener Tür in gepflegtestem Französisch parliert, ihnen nicht einmal antwortet, sobald sich amerikanisches Publikum im Raum befindet.

Als Collegeboy verschlang Kerry die Biografie des radikalen Schwarzenführers Malcolm X, in Vietnam schrieb er Kriegstagebücher im Hemingway-Stil, auf dem Schnellboot der Navy, das er im Mekong-Delta kommandierte, spielte er dröhnend die Doors, Stones und Jimi Hendrix, noch heute kann Kerry die Gedichte von T. S. Eliot auswendig aufsagen. Er liebt die britischen Dichter Keats, Yeats, Shelley und Kipling, und Besucher empfängt er – so Friedrich Mielke in seinem Kerry-Porträt – mit einem Zitat des französischen Dichters André Gide: „Versuchen Sie nicht, mich zu schnell zu verstehen.“

Ein einfach gestrickter Was-kostet-die-Welt-Typ, dem alles leicht von der Hand geht und der sich keine unnützen Gedanken macht, ist Kerry fürwahr nicht.

Aber ist er deshalb auch ein lahmer Bedenkenträger, der die Dinge so lange von allen Seiten betrachtet, bis er schielt, der bei heiklen Entscheidungen „sokratische Übungen“ (so Kranish & Co) unternimmt, weil er es allen recht machen will? Die, die ihn kennen, bestehen darauf, dass das öffentliche Bild, das Kerry selbst von sich erweckt, und der reale Kerry sich meilenweit unterscheiden. Zwar wisse er, dass das „Leben nicht simpel ist“ („New York Times“), und hat darum eine fast naturgegebene Abwehr gegen eingängige, aber dafür falsche Soundbites. Aber er sei keineswegs grüblerisch. „John ist alles andere als ein kalter Typ“, sagt einer seiner Freunde, und er komme erst auf Touren, wenn es hart auf hart geht. Vor allem eines betonen fast alle, die seine Karriere verfolgten: „Am besten ist er, wenn er unter Druck steht.“ Dann erwache Kerrys Kämpfernatur.

Schon oft ist es für Kerry Ecke auf Kante gestanden: 1996, als er sich mit dem populären Kongressabgeordneten William Weld eine veritable Schlacht um den Senatorenposten von Massachusetts lieferte; und zuletzt im vergangenen Herbst und Winter, als ihn alle schon abgeschrieben hatten, Kerry aber dann auf spektakuläre Weise an den favorisierten Bewerbern um die demokratische Präsidentschaftskandidatur vorbeizog, allen voran dem in Umfragen weit vorn liegenden Howard Dean. Es stecke in ihm, schreiben seine amerikanischen Biografen, „eine stählerne Entschlossenheit“. Als ihm die Niederlage drohte, „lief er – wie ein Rennpferd im Finish – zu Hochform auf und stürmte ins Ziel“.

Intakte Chance. Wird es dazu im Herbst wieder kommen? Gut möglich, meinen Beobachter, und die Chancen für Kerry stünden durchaus besser, als man glaube. Das Bush-Team, so Kerry-Stratege Michael Donilon, habe 60 Millionen Dollar ausgegeben „um Kerry zu zerstören“. Doch das Ergebnis der flächendeckend im TV geschalteten Rufmord-Spots ist nur, dass beide Kandidaten Kopf an Kopf liegen. Viel wichtiger sei, dass eine satte Mehrheit der Amerikaner bekunde, ihr Land sei auf „einem falschen Weg“ – und dass das Meinungsklima zum Irak-Krieg sich merklich ändere. Schon heute, so eine zu Wochenbeginn veröffentlichte Umfrage, plädieren 40 Prozent aller Amerikaner dafür, einfach aus dem Irak abzuziehen, auch wenn sich die Situation noch nicht stabilisiert habe. „Ich wette, eine kleine, aber signifikante Gruppe von Bush-Wählern ist bereit, zu Kerry überzulaufen“, schätzt Joe Klein, der meist eine gute Nase hat. Das würde reichen, vorausgesetzt, Kerry verliert nicht zu viele Stimmen aus dem Friedenslager an den unabhängigen linken Kandidaten Ralph Nader. Kerry hat gute Chancen, die entscheidenden Wechselwähler für sich zu gewinnen.

Aber er muss dafür etwas tun. Joe Klein: „Er wird sie sich verdienen müssen.“