Hugos letzte Brigaden

Venezuela: Guerilleros verwalten das Erbe von Hugo Chávez

Venezuela. Guerilleros verwalten das Erbe von Hugo Chávez

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Von Anna Giulia Fink, Caracas

Alberto Carias steht im Zentrum von Caracas und zeigt auf die Basilika Santa Teresa, dieses Monstrum von einer Kirche, das, genau genommen, aus zwei Gotteshäusern in einem besteht: ein wirres Gemenge aus diversen architektonischen Stilrichtungen. "Das wäre doch ein nettes Foto“, sagt er und grinst: "Ich, vor der Kirche, die ich in die Luft gejagt habe. An dem Ort, an dem alles begonnen hat.“ Dann zieht Carias weiter, er betritt schräg gegenüber einen riesigen Glas-und Betonkomplex im Regierungsviertel der venezolanischen Hauptstadt, steigt in den Aufzug ein und fährt in den neunten Stock.


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Hier drinnen, auf den Korridoren mit dem fahlen Licht verlassener Spitalstrakte, kennt ihn jeder. Ebenso wie draußen auf den chaotischen und lauten Straßen der südamerikanischen Megastadt, wo ihm Passanten die Hand reichen, Polizisten beschwingt vor ihm salutieren und ihn der Straßenhändler am Eck mit einem fidelen "Comandante!“ begrüßt.

Alberto Carias, 58 Jahre alt, ist der Chef der venezolanischen Tupamaros, jener bewaffneten Miliz, die einst denselben Kampf führte wie die deutsche RAF, die kolumbianische FARC und die italienischen Roten Brigaden - und heute vor allem ein Ziel verfolgt: das Erbe des sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez weiterzutragen.

Carias, untersetzter Körperbau, schlabbrige, schwarze Jeans, sportliches Hemd und Turnschuhe, nimmt in einem karg möblierten Raum Platz und bittet eine junge Frau mit einem freundlichen "mi amor“, das in Venezuela so oft verwendet wird wie das in den USA übliche "honey“, um ein Glas Wasser. Ein Hüne mit todernster Miene steht reglos in einer Ecke und verschwindet irgendwann genauso plötzlich, wie er aufgetaucht ist.

Carias sagt von sich selbst, schon an vielen Fronten gekämpft zu haben. In mindestens acht Ländern stehe er auf der schwarzen Liste der Fahnder. Er hat dunkle Stoppelhaare und schmale, schwarze Augen, denen er seinen Spitznamen "Chino“ verdankt: "der Chinese“. An seinen Wangen blättert Haut ab: "Das waren ein paar Kids, die vor einer Woche Geld von mir wollten und mich mit ihren Pistolen geprügelt haben, weil ich keines dabei hatte“, sagt er mit seiner ruhigen, rauen Stimme: "Die wussten natürlich nicht, wer ich bin.“

Sie hätten es besser wissen müssen.

"Das mit der Santa Teresa Kirche, das war meine erste Aktion“, erzählt Chino: "Irgendwas ging mit der Zündschnur schief, ich war ja noch ein Kind. Die Bombe detonierte viel zu früh und ich ging zusammen mit den Heiligstatuen in die Luft. Ich wurde bewusstlos und bin erst wieder in irgendeinem Keller des Geheimdienstes zu mir gekommen. Da habe ich meine erste Portion Folter bekommen: Elektroschocks an den Hoden und am Kopf, Finger- und Zehennägel herausgerissen, die Finger mit einem Hammer gebrochen.“

Freund und Feind
Damals, im September 1972, war Chino zwölf Jahre alt. Er war in einer Gegend von Caracas geboren worden, die wegen ihrer Lage an einem Friedhof "El Cementerio“ heißt. Venezuelas Hauptstadt ist so konsequent in Freund und Feind aufgeteilt, dass sich ihre Bürger selbst über ihren Tod hinaus voneinander abgrenzen: Die Reichen liegen in den besseren Vierteln im Osten begraben, die Armen im Westen.

In "El Cementerio“ lebte vor langer Zeit einmal der Mittelstand. Heute liegt das Viertel an der Grenze zu einem der vielen Slums der Sechs-Millionen-Einwohner-Stadt, die in einem Hochtal wuchert, das sich parallel zur Küste der Karibik über 20 Kilometer von Ost nach West zieht. Der Großteil der Armenviertel klebt an den Hügeln, die das Tal abgrenzen. Nachts funkeln die Slums wie Diamanten, tagsüber reflektiert das Wellblech der Baracken die Sonne wie ein zerbrochener Spiegel.

"Umgeben vom Elend"
Chinos Mutter hat kein Geld, als der Sohn auf die Welt kommt, seinen nach Miami ausgewanderten Vater nennt er den "Mann, der ihn gezeugt hat“. Der Bub wächst bei der Großmutter auf, in einem Haus mit Wänden aus Karton. "Umgeben vom Elend“, sagt Chino: "Ich habe früh eine Ahnung davon bekommen, was Misere und soziale Ungleichheit bedeuten.“

Mit sechs Jahren steht er stets mit den ersten Händlern in aller Herrgottsfrüh am Markt, danach putzt er Autos und Gräber, um Geld für die nötigsten Lebensmittel zu verdienen. Chino liebt die Beatles und träumt davon, Schlagzeuger einer Rockband zu sein. Mit zwölf Jahren tritt er der "Bandera Roja“ bei, der "Roten Fahne“, einer Guerilla-Bewegung, die gegen die neoliberale Regierungspolitik im Venezuela der 1980er- und 1990er-Jahre kämpft. Heute fungiert die "Rote Fahne“ als Hooligan-Truppe einer linken Partei, die bei den vergangenen Wahlen auf weniger als ein Prozent kam.

Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru
1982 tritt Chino aus der "Roten Fahne“ aus und gründet mit 20 weiteren Männern die "Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru“. Tupac Amaru II. war der letzte Inka-König Perus, der sich im 16. Jahrhundert mit aller Kraft gegen die Kolonialmacht Spanien stemmte - erfolglos. Er wurde dennoch zum revolutionären Kämpfer glorifiziert, in Peru beriefen sich Unabhängigkeitsbewegungen ebenso auf ihn wie die in Uruguay in den 1960er-Jahren entstandene "Nationale Befreiungsbewegung Tupac Amaru“, eine marxistisch-maoistisch geprägte Untergrundbewegung, die heute kurz "Tupamaros“ genannt wird. Ihre Mitglieder legten später die Waffen nieder und gründeten eine Partei, die heute Uruguays Präsidenten stellt. Ein Teil der Kämpfer aber flüchtete nach Caracas und half dort mit, den venezolanischen Ableger, die "Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru“, zu formieren.

Kampf gegen die "Bourgeoisie"
Mit schwarzen Skimasken und vorgehaltener Waffe propagierten die venezolanischen Tupamaros fortan den Kampf gegen die "Bourgeoisie“, die Polizei und die "imperialistischen USA“. Und sie übernahmen die Kontrolle in den armen Gegenden des Landes, aus denen sich der Staat vollkommen zurückgezogen hatte. Chinos Lieblingsband sind heute Guns N’ Roses und Metallica, an Oberarm und Hals hat er "666“ tätowiert, die biblische Zahl des Teufels, mit der die Metal-Szene gern provoziert. "Ich bin wohl der Einzige in der Bewegung, der nicht auf Salsa steht und lieber Anisschnaps statt Rum trinkt“, sagt er und lacht.

Viel weiter als bis an die Grenzen der Armenviertel wäre der Einfluss der Tupamaros vermutlich nie gegangen, hätte mit der Präsidentschaftswahl 1998 nicht ein Mann die politische Bühne betreten, der in der Folge das gesamte Land auf den Kopf stellen sollte: Hugo Chávez.

14 Jahre war der Offizier, der eigentlich Baseballprofi werden wollte, insgesamt an der Macht, bis er vergangenen März im Alter von 58 Jahren an Krebs starb - unmittelbar nach seiner Wiederwahl, die ihn zum längstdienenden Staatschef Lateinamerikas gemacht hätte.

Chávez schrieb die Verfassung um, führte eine neue Uhrzeit ein, ließ das Pferd auf der venezolanischen Fahne nach links statt nach rechts schauen, entmachtete das Parlament und schuf ein neues. Er besetzte zentrale Machtpositionen mit Getreuen, verstaatlichte die Erdölindustrie und machte die Einnahmen daraus zum wichtigsten Ins-trument seiner Herrschaft sowie zum Treibstoff seiner "bolivarischen Revolution“.

Er verteufelte die Opposition und die USA und prophezeite einen Bürgerkrieg, dessen Voraussetzungen er selbst geschaffen hatte: Tausende Kalaschnikows ließ er an seine Anhänger verteilen, um im Falle eines Angriffes gewappnet zu sein. Chávez wurde im Laufe seiner Präsidentschaft immer radikaler, er sprach von "Revolution“, vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und davon, dass reich zu sein "unmenschlich“ sei. Was genau er damit meinte, bleibt bis heute unklar. Aber: Er verschaffte der Linken auf dem gesamten Kontinent ein neues Selbstbewusstsein.

Nun versucht sein Nachfolger Nicolás Maduro, sich als legitimen Erben zu präsentieren: Er setzt die Sozialprogramme von Chávez fort, mit denen die Armen erstmals in den Mittelpunkt gerückt wurden - und die gleichwohl als Herzstück des machtpolitischen Erfolgs wie des wirtschaftspolitischen Versagens der venezolanischen Sozialisten gelten dürfen.

Doch zum Vermächtnis von Chávez gehören auch die bis auf die Zähne bewaffneten Milizen in den Armenvierteln, deren Kontrolle der Regierung längst entglitten ist. Masken tragen sie heute nicht mehr. Die Tupamaros haben sich unter Chávez so weit etabliert, dass die Grenzen zwischen dem legalen zivilen und dem offiziell weiterhin verbotenen militärischen Arm verschwimmen.

Wie viele Mitglieder sie haben, verrät Chino nicht: "Militärgeheimnis.“ Chávez soll bereits die mangelnde Disziplin der Guerilleros beklagt haben - nun ist ein Präsident an der Macht, der seinem charismatischen und rhetorisch versierten Vorgänger nicht im Entferntesten das Wasser reichen kann. Wer Chino nach den Unterschieden zwischen Chávez und Maduro fragt, bekommt folgende Antwort zu hören: "Ich sage nur: Ich bin Chávista.“

Gefährlichste Stadt der Welt
Caracas ist zur gefährlichsten Metropole der Welt geworden, an manchen Wochenenden werden hier mehr Menschen getötet als in Österreich das ganze Jahr über. Seit einigen Jahren schon versucht die Regierung, die Bevölkerung zu entwaffnen - es ist das einzige Thema, bei dem sich Opposition und Regierung einig sind. Doch für den Großteil der Tupamaros kommt das nicht in Frage. "Wir sind dafür da, um das, was Chávez angefangen hat, fortzusetzen und im Falle des Falles mit den Waffen zu verteidigen“, sagt Chino.

Das Grab von Chávez liegt symbolträchtig in einer ehemaligen Militärakademie im Armenviertel "23 de Enero“ (23. Jänner). An die 300.000 Einwohner leben hier. Früher hieß das Gebiet "2. Dezember“, benannt nach dem Tag, an dem Präsident Marcos Pérez Jiménez an die Macht kam. 1958 beschlossen die Bewohner, ihr Viertel umzubenennen: Der 23. Jänner war jener Tag, an dem der Diktator aus dem Land fliehen musste. Die Gegend gilt als Hochburg der Chávisten, der Ex-Präsident genießt hier Heiligenstatus und ist an jeder Hauswand präsent. Doch das "23 Enero“ ist noch etwas anderes: die Heimat der Tupamaros.

Der Weg in ihr Zentrum führt über eine Straße, die immer enger wird, je höher sie sich den Berg hinaufschlängelt, vorbei an bunt gestrichenen, übereinandergestapelten Ziegelhütten und an riesigen "bloques“, Betongiganten mit über 100 Appartements, deren Bewohner sich selbst in den obersten Stockwerken hinter Gittern verschanzen. Es riecht nach gebratenem Fleisch, frischer Wäsche, Benzin und Urin. Selbst im Slum gibt es bessere und schlechtere Viertel.

Von hier aus kann man den "David-Turm“ sehen, den höchsten Slum der Welt: 45 Stockwerke ragt er in die Höhe. In den 1970er-Jahren, während des Öl-Booms in Venezuela, sollte er zum Stolz des Landes werden: als Wall Street von Caracas gewissermaßen. Doch zuerst starb der Banker, der den Bau in Auftrag gegeben hatte - dann kollabierte die venezolanische Wirtschaft. Das Prestigeprojekt war mehr als zur Hälfte fertig, als die Bankenkrise ausbrach. 2007 besetzten Gangs den Rohbau, heute leben dort 2500 Menschen. Der Turm wurde zum Symbol für die gescheiterte Stadt.

Die Armenviertel von Venezuela funktionieren nach eigenen Regeln, wie abgeschirmte Burgen, vor denen der Staat kapituliert und aus denen sich der öffentliche Dienst völlig zurückgezogen hat. Nicht einmal mehr die Polizei betritt die Gegenden - und wenn doch, dann nur mit kugelsicheren Westen, Panzerfahrzeugen und Hubschraubern.

Dabei gilt der "23. Jänner“ als vergleichsweise ruhig. Die Tupamaros wachen über jeden Winkel im Gewirr der Häuser, ausgerechnet die Guerilleros haben gewissermaßen den Rechtsstaat auf den Hügel zurückgebracht. Sie bestrafen jene, die sie als Verbrecher bezeichnen: Drogendealer, Vergewaltiger, Mörder werden exekutiert, Diebe bekommen drei Tage Zeit, um das Viertel zu verlassen. Wer sich weigert, über dessen Schicksal entscheiden die eigens installierten "Volksgerichte“. Die wohl kleinsten Zellen der "bolivarischen Revolution“ bilden die "Kollektive“, der zivile Arm der Tupamaros: Sie organisieren Theaterstücke und Freiluftkonzerte, politische und sportliche Veranstaltungen, Nachmittagsbetreuung für Kinder, Drogenentzugsprogramme und sie ziehen von Haus zu Haus, wenn Wahlen anstehen.

Lisandro Pérez ist Mitglied eines "Kollektivs“. Er lädt in seine Wohnung, wo er den Kaffee so serviert, wie ihn die Venezolaner am liebsten trinken: picksüß. Sein Wohnzimmer ist voll von Figuren der Weltrevolution: Mao als Bleistiftzeichnung, Fidel Castro in bunten Malfarben, Ché Guevara als Schwarz-Weiß-Foto - und auf seinem T-Shirt, Hugo Chávez in Gold gerahmt und als Actionfigur. In der Küche steht St. Barbara, die Heilige des Viertels, in einem gold-weißen Kleid und rotem Mantel. Pérez, Spitzname "Mao“, studierter Philosoph, ist Mitbegründer der Tupamaros. Er ist ausgestiegen, als die Bewegung seiner Meinung nach damit begann, "zu einer Art Partei zu werden“, gilt aber weiterhin als Ehrenmitglied.

"Ich glaube nicht, dass wir in nächster Zeit angegriffen werden“, sagt er: "Die Opposition verfügt über keine Miliz, die Armee ist auf der Seite der Regierung, und die Amerikaner brauchen unser Öl. Aber wir sind trotzdem jederzeit bereit zu kämpfen. Gleichzeitig habe ich Nachbarn, die politisch nicht mit mir übereinstimmen, und finde das in Ordnung. Wir fressen doch keine Kinder.“

Auch Maos "Kamerad“ Chino hat acht Kinder, von denen ein Teil eine weniger radikale Meinung als er selbst vertritt. "Wenn sie mich fragen, was aus mir werden wird, wenn die Stimmung im Land sich mal drehen sollte, dann sage ich ihnen stets, dass ich sterben werde, wie ich gelebt habe: wie ein Guerillero.“ Als Chino wieder vor dem Aufzug wartet, eilt ein Mann herbei und teilt ihm mit, dass er die drei 15-Jährigen, die den Chef der Tupamaros überfallen haben, gefunden hat. Was mit ihnen passieren wird? Chino formt mit der Hand eine Pistole - und drückt den imaginären Abzug.

Fotos: Alejandro Cegarra