Verantwortung vor Gott

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Wer die Geschichte Europas diskutieren will, kommt an der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Politik nicht vorbei. Wer die Zukunft Europas diskutieren will, kommt am Verhältnis von Religion und Politik nicht vorbei. Die jüngsten Auseinandersetzungen um religiöse Symbole und Praktiken, die Konflikte um die Präambel einer EU-Verfassung und um eine EU-Mitgliedschaft der Türkei sind Beispiele dafür. Christian Rainer fragt nun, worin „jenes gemeinsame christliche Weltbild, das die Gemeinschaft der guten Europäer beschwört“, bestehe. Einmal voraus: Ein solches gemeinsames christliches Weltbild wird von niemandem, der bona fide argumentiert, behauptet, weil es ein solches nicht gibt und auch nie gegeben hat. Angesichts der – von Rainer konstatierten – diffusen religiösen Einstellungen der Europäer und ihres Verhältnisses zu den Lehren ihrer jeweiligen Religion könne das Reden vom christlichen Abendland nicht mehr sein als ein Rekurs auf bestimmte Gesellschaftsformen. Das aber erscheint ihm nahezu lächerlich, kann doch das Christentum nicht Basis demokratischer europäischer Entwicklungen gewesen sein. Schließlich waren es ja auch erzkatholische Staaten wie Spanien und Portugal, in denen sich Diktaturen am längsten halten konnten. Das einheitliche Weltbild des christlichen Europas kann demnach nichts anderes sein als eine politische Floskel. Rainer nimmt in seinem Leitartikel auch auf österreichische Diskussionen Bezug, die über den EU-Wahlkampf hinausreichen. Er erinnert zwar daran, dass ich in meinen Vorschlägen für eine Präambel der Bundesverfassung niemals einen Bezug zum Christentum verlangt habe, fragt sich aber, ob ich stattdessen „die Religion der Scheichs und Kameltreiber als das Gemeinsame der Österreicher verankert wissen möchte“.

Abgesehen davon, dass es eine sich selbst richtende Formulierung ist, den Islam als Religion der Scheichs und Kameltreiber zu diffamieren, hat Rainer durchaus Recht, wenn er vor einer Verquickung der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei mit einer Beschwörung des christlichen Europas warnt. Es gibt gute Gründe, den Beitritt der Türkei zur EU kritisch zu sehen. Würde die Türkei aber allein auf Basis der Religion zurückgewiesen, so wäre das grundfalsch – gerade in einer Zeit, in der der Dialog mit dem Islam und anderen Religionen zu den großen Anliegen der Kirchen und vor allem des Papstes zählt. Der in den USA lehrende Europarechtler Joseph Weiler hat Recht, wenn er sagt, dass „der türkische Fall keine Herausforderung an den Glauben, sondern an den guten Glauben Europas“ ist. Denn die Türkei ist seit Atatürk säkularisiert wie Europa!

Aber Rainer begibt sich gar nicht auf diese Reflexionsebene. Stattdessen polemisiert er und bemüht einmal mehr Negativbeispiele der europäischen Geschichte (apropos: seit wann sind Spanien und Portugal jene Diktaturen, die sich am längsten halten konnten?). Ich erachte eine solche Argumentation für bedenklich und meine, dass es politisch folgenschwer sein kann, das komplexe Verhältnis von Religion und Politik weiterhin mit so einfachen Formeln abzuhandeln. Die geistige und politische Entwicklung Europas ist nicht bloß eine Antithese zur Religion und zum Chris-tentum im Besonderen. Entscheidende Elemente des modernen Staats, der Religions- und Gewissensfreiheit und der unveräußerlichen Menschenrechte wurden von religiösen Menschen formuliert und sind in deren Glaubensüberzeugungen grundgelegt. Wer kann die Großtat des Christentums im Mittelalter übersehen: Die Bekämpfung des Sklavenhandels unter Berufung auf die vom Christentum als zentrale Botschaft verkündete Gottesebenbildlichkeit des Menschen! In unserer Gegenwart, in der die Aufklärung ihre Unschuld längst verloren hat, ist die „Verantwortung vor Gott“, wie es das deutsche Grundgesetz formuliert, nachhaltige Erinnerung an die Grenzen menschlicher Vernunft und Macht: „Möglicherweise ist Religion der Stachel im Projekt der Moderne, der ihre humanen Verheißungen rettet, zumindest neu aufruft“ (Josef Homeyer) und damit ein Hinweis darauf, dass dem Menschen ebenso wie dem Verfassungsgesetzgeber Grenzen für seine Willkür gesetzt sind. Das, und nur das, ist der Sinn des Gottesbezuges.

Die Lage der Religion in Europa ist vielfältig und komplex. Sie findet ihren Ausdruck in der „Zivilisationsarbeit der Religion“, der „religiösen Aushöhlung der Kultur Europas“, im neuen religiösen Pluralismus Europas und in der Mobilisierung des religiösen Erbes Europas (Danièle Hervieu-Léger). Sie findet ihren Ausdruck in den Diskursen über die Würde des Menschen, die Ethik der Verantwortung und die Ethik der Erinnerung – füreinander und für unsere Zukunft. Polemiken wie jene von Rainer bleiben demgegenüber merkwürdig hohl, sie weichen vor den wesentlichen Fragen zurück. Mit dem Hinweis auf seine christlichen Wurzeln wird ja nicht ein christliches Europa der Zukunft beschworen – es wird lediglich Geschichte dargestellt und dem Christentum in seiner zivilisatorischen Leistung Gerechtigkeit getan.

Die Präambel, die ich für unsere Bundesverfassung vorgeschlagen habe, scheut nicht die Auseinandersetzung mit diesen Fragen und fordert zu deren Diskussion heraus. Sie schließt Religion nicht aus und verwechselt Säkularismus nicht mit Neutralität oder Unparteilichkeit. Jan Ross hat in „Die Zeit“ gemeint, dass die Präambel der EU-Verfassung einen hochgemuten humanistischen Ton habe. Einen solchen kann Religion in Europa mit ihrer Geschichte der Brüche nicht anschlagen. Was sie aber kann, ist Verständnis für dem Menschen gesetzte Grenzen und Tiefe und so das Bewusstsein von Wurzeln und Abgründen – damit von Seele? – wecken und Verantwortung grundlegen! Darüber sollten wir diskutieren ...