Verbrechensopfer, an einem sicheren Ort

Verbrechensopfer, an einem sicheren Ort: Wenn Gewaltopfer zu Gejagten werden

Wenn Gewaltopfer zu Gejagten werden

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Von Edith Meinhart

Die Schmerzen begannen in den Beinen. Bald konnte sich Susanne kaum noch die Stiegen bis zu ihrer Wohnung hinaufschleppen. Dann fing es in den Armen an. Eine Mineralwasserflasche war zu schwer, um sie aufzuheben. Alles tat weh. Die Sonne stach in den Augen, Stimmen schmerzten in den Ohren. Oft wurde Susanne am helllichten Tag unsäglich müde, ihre Haare fielen aus, und sie begann, Sachen zu vergessen, die gerade erst passiert waren. Die Ärzte überwiesen sie von einer Ambulanz zur nächsten. Sie lebte wie in einem dichten Nebel. Dann kamen die Flashbacks, das kurze Aufflackern von Bildern. Eines Tages sah Susanne R.* ihrem Freund ins Gesicht und erstarrte: Er hatte sich in ihren Onkel verwandelt.

Als sie herausfand, dass der Onkel sie als Mädchen missbraucht hatte, da war es, als hätte jemand einen Stecker herausgezogen: „Auf einmal war die Spannung weg.“ Susanne R. ist eine selbstbewusste Akademikerin, Mitte 30, erfolgreiche Selbstständige in Wien. Sie entscheidet, was sie erzählt und was sie weglässt: „Meine Geschichte gehört mir, niemand hat ein Anrecht darauf.“ Sie will, dass ihr Leid erkannt wird. Verraten, verkauft und ausgestellt werden will sie nicht.

Elisabeth F. aus Amstetten kann sich nicht aussuchen, ob sie schweigen oder reden, sich verkriechen oder an die Öffentlichkeit treten will. Josef F., ihr Vater, der sie 24 Jahre lang gefangen gehalten, gequält und missbraucht hat, soll versucht haben, die Aussagen seiner Opfer an die Medien zu verkaufen. Dort waren vergangene Woche Passagen der Anklage nachzulesen, üppig gespickt mit grausamen Details, ergänzt um Auszüge aus Elisabeth F.s „Tagebuch“. Das britische Revolverblatt „The Sun“ druckte das erste Foto der 43-jährigen Frau, die mit den Kindern, die sie im Verlies des Vaters allein und unter Qualen zur Welt bringen musste, heute an einem unbekannten Ort lebt. Ein Paparazzo hatte ihr dort aufgelauert und sie „abgeschossen“. „Fresh air, fresh start“, schrieb das Blatt neben das Bild.

Gier nach Leid. Die Medien gieren nach Leidensgeschichten, und immer öfter werden die Opfer dabei zu Gejagten. Noch im 19. Jahrhundert interessierten sich Polizei- und Gerichtsreporter primär für das Verbrechen und den Täter. „Der war angreifbar, man konnte ihn zeichnen und darüber spekulieren, ob er hingerichtet werden würde oder nicht“, sagt Rechtshistoriker Harald Seyrl, Leiter des Wiener Polizei- und Kriminalmuseums. Über das Opfer war meist nicht mehr zu berichten, als dass es tot war. Auch im Strafprozess waren Opfer blasse Nebenerscheinungen. Sie sollten helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, spielten darüber hinaus aber keine Rolle.

Udo Jesionek war in seinem früheren Leben Strafrichter. Es sei ihm nicht bewusst gewesen, welche Ängste Opfer durchleiden, sagt er heute. Als Präsident der Opferschutzeinrichtung Weißer Ring verstehe er, dass die Stunden im Gerichtssaal viele als „neuerliche Erniedrigung“ erleben. Ein Verbrechen reißt das Opfer mit brutalem Griff aus seinem Alltag, es bleibt verletzt zurück, manchmal für immer beschädigt, nun will es, „dass der Staat das Unrecht, das ihm geschehen ist, ernst nimmt“.

Die Ersten, die aus dem Schattendasein heraustraten, waren Überlebende des Holocaust. Im Laufe der Zeit sei ihnen „die Deutungsautorität über ihre Erlebnisse und zuweilen generell über die Welt zugewachsen“, sagte Jan Philipp Reemtsma in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“. Das Interesse an Opfermemoiren habe eine „völlig neue literarische Gattung“ geschaffen, an der er, Reemtsma, selbst mitgewirkt hat. Der Erbe eines Hamburger Tabakindustriellen war 1996 entführt und einen Monat lang gefangen gehalten worden. Seine Erlebnisse verarbeitete er in seinem Buch „Im Keller“. Als es 1997 auf den Markt kam, hätten ihn die Leute wie einen „Guru“ behandelt. Reemtsma wertete es als Zeichen einer „kulturellen Transformation“: „Heute heroisiert man das Opfer. Die Wandlung führt so weit, dass selbst das schambesetzteste Verbrechen, die Vergewaltigung, zu etwas wird, worüber eine Frau heute schreiben kann.“

Aus der traurigen Figur im Strafverfahren wurde eine überragende Gestalt, die Anteilnahme und Aufmerksamkeit auf sich zieht, und manchmal, wie im Fall Natascha Kampusch, eine Ikone der Mediengesellschaft. Opfer haben die Rolle von Märtyrern in einer säkularisierten Kultur übernommen. Pastoraltheologe Paul Zulehner: „Christus ist ein Sündenbock, der sich für alle aufopfert.“ Analogien zu den Opfern aufsehen­erregender Verbrechen lägen nahe: „Was sich in der Religion abspielt, ist einer säkularen Kultur ja nicht fremd. Es geht darin nur in einem anderen Gewand ein.“

Hilfe in der Talkshow. Die Opfer, die hoffen, durch die Veröffentlichung ihres Leids ihr Trauma zu bewältigen, geraten mitunter in den Sog der Quoten- und Nachrichtenjäger. Entführte, Misshandelte und Vergewaltigte geben Interviews und treten in Talkshows auf. Selten erfährt man, wie es danach weitergeht. Er könne sich vorstellen, dass man im Fernsehstudio das Gefühl bekomme, hier werde etwas für einen getan, sagte Reemtsma im „Zeit“-Interview: „Wird es aber nicht! Sondern das Opfer wird bloß ausgestellt. Todesangst und totale Hilflosigkeit sind keine Erlebnisse, über die man mit einem Moderator plaudern kann.“ Täte man es doch, würde man das Studio verlassen und sich „im tiefsten Inneren missbraucht fühlen“.

Natascha Kampusch versuchte, ihre mediale Vermarktung selbst zu steuern. Den Zudringlichkeiten des Boulevards war auch die von Anwälten und Psychiatern abgeschirmte junge Frau nicht immer gewachsen. Nachdem ihr im August 2006 die Flucht aus einem schalldichten Keller in Strasshof gelungen war, avancierte sie zur Person des internationalen Interesses. Wo sie auftauchte, lauerten Kameras. Selbst der Opfervater, die Opfermutter und die Opferberater avancierten zum Medienereignis. Als das britische Boulevardblatt „The Sun“ sie als „Sexsklavin“ ihres Entführers bezeichnete und behauptete, sie sei von ihm schwanger geworden, reichte es ihr. Sie klagte.

Im Wiener Krisenzentrum Boje arbeitet die Kinderpsychologin Gertrude Bogyi seit Jahrzehnten mit Kindern, die ihre Eltern auf tragische Weise verloren haben. Manchmal sind ihre kleinen Patienten ganz still, manchmal laut und aggressiv, manchmal psychotisch. „Kinder, in deren Familie ein Gewaltverbrechen begangen wurde, können niemandem mehr vertrauen“, sagt Bogyi. Das gehe so weit, dass sich ein Kind sogar vor der freundlichen, älteren Psychologin mit der großen Brille zu Tode fürchtet: „Vielleicht will mich die ja auch umbringen?“

Welterschütterung. Die „schwere Selbst- und Welterschütterung“ durch ein Trauma brauche „viel Zeit zur Bewältigung“, sagt Bogyi. Doch das verträgt sich nicht mit dem rasenden Puls der Medienwelt. Opferanwälte und Therapeuten spielen zunehmend auch Medienberater und wandeln dabei auf schmalem Grat. Jesionek erinnert sich an eine Zwölfjährige, die von einem Hotelier brutal vergewaltigt worden war. Nach einigen Jahren wollte das Opfer seine Geschichte im Fernsehen schildern. Er, Jesionek, sei dagegen gewesen, die Therapeutin des Mädchens habe ihn umgestimmt: „Manchmal fühlen sich Opfer einfach nicht wahrgenommen, da kann das Öffentlichmachen helfen.“

Die Aufmerksamkeit der Medien gilt jedoch selten dem Leid der Opfer. Am Ende bleibt es noch einmal beschädigt zurück, klagt die Psychotherapeutin Yasmin Randall: „Das Massenpublikum interessiert sich für die Verletzten nur aus der Ferne. Wie bei der Pornografie kann man sich das Objekt aneignen, ohne mit ihm in Beziehung zu treten. Wird aber jemand in der U-Bahn angegriffen, schaut man weg.“ Die Hälfte ihrer Klienten und Klientinnen wurde sexuell missbraucht, Randall kämpft dafür, dass sie mehr Rechte haben: „Es heißt oft, für sie wird schon alles getan. Leider stimmt das nicht.“

Susanne R. fühlte sich „sehr allein gelassen“. 4000 Euro gab sie im Vorjahr für Psychotherapie und Medikamente aus, 800 Euro bekam sie von der Krankenkasse zurück. Vor Kurzem setzte sie die Schmerzmittel ab, der Entzug dauerte Monate. Noch immer werfen sie die Kindheitserinnerungen für Tage aus der Bahn. Ihre Eltern sind bis heute geschockt: „Eigentlich gehörten sie auch betreut.“

Richard Oetker sprach erst fast 30 Jahre nach seiner Entführung erstmals über sein Martyrium. „Ich leide ein Leben lang an den Folgen“, sagte er bei einer Ausstellung des Opferschutzvereins Weißer Ring in Deutschland. Im Dezember 1976 hatte der Erpresser Dieter Zlof den damals 25-Jährigen für zwei Tage in eine nur 1,45 Meter lange Holzkiste gesperrt, die Hände mit Handschellen gefesselt, die unter Strom standen. Oetker überlebte mit Verletzungen an der Wirbelsäule und komplizierten Knochenbrüchen. Bis heute kann er nicht lange stehen, und das zufällige Bellen eines Hundes kann ihn im Nu aus der sicheren Gegenwart katapultieren. In seinem qualvollen Versteck hatte er oft einen Schäferhund bellen gehört.

Nur im Kino ist der gemarterte Held rasch wieder auf den Beinen, im wirklichen Leben brechen Menschen manchmal nach Wochen, manchmal nach Jahren aus heiterem Himmel zusammen, sagt der Weiße-Ring-Präsident Jesionek. Seine Organisation bietet nicht nur rechtliche Beratung, ­sondern auch psychologische Hilfe und Erholungsurlaube. Viele genieren sich, das in Anspruch zu nehmen, „obwohl es sehr nötig wäre“. Besonders spät zeigen sich die verheerenden Spuren bei sexuellem Missbrauch. Wenn die Opfer mit 18 von zu Hause ausziehen, versuchen sie, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, sagt Randall: „Die ersten Erinnerungsfetzen kommen in einer Krisensituation auf oder dann, wenn das Opfer sich endlich sicher und geborgen fühlt.“ Oft sei es dann für eine Anzeige schon zu spät.

Susanne R. war drei, als ihr Onkel sie zum ersten Mal missbrauchte. Seine Taten waren verjährt, als sie herausfand, warum ihr Körper rebellierte. Der Täter lebt inzwischen nicht mehr.

* Name von der Redaktion geändert.