Vereinzelte Inseln der Bildungslandschaft

Vereinzelte Inseln der Bildungslandschaft: Ein neuer Schultyp für einige wenige

Ein neuer Schultyp für einige wenige

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Ruth strahlt. Zahlen auf Englisch vorlesen und den Ziffern zuordnen, das kann sie richtig gut. In anderen Fächern ist sie ruhiger, ihr Deutsch ist nach drei Monaten in Österreich nicht so weit. Aber jetzt hilft sie stolz ihren Nachbarn, für die die englische Aussprache weit fremder ist als für die gebürtige Kongolesin.

Im lebhaften Geräuschpegel der 1A-Klasse der Neuen Mittelschule Dr. Renner in Graz ist Ruth nur eine Bank weit zu hören. Die Kinder wuseln durcheinander, stellen ihre fertigen Übungsblätter am Fensterbrett aus und holen sich neue Aufgaben vom Lehrertisch, etwa englische Wörter mit Buntfäden mit den richtigen Ziffern verknüpfen. „Offenes Lernen“ heißt die Stunde, in der sich Schüler zu Teams zusammenfinden, um unterschiedlich schwierige Herausforderungen zu bewältigen. Die vier Lehrer in der Klasse setzen sich im kreativen Chaos einmal zu der, einmal zu der Gruppe, um zu helfen, anzuspornen, zu erklären oder zu loben. Ruth braucht diesmal keine besondere Aufmerksamkeit, bei ihr werden die Lehrer in anderen Gegenständen wieder öfter sitzen. Bei vier Lehrern und 18 Schülern in der Klasse ist genug Zeit, sich um jedes Kind zu kümmern.

Die Chance des individuellen Lernens hat Direktorin Ingeborg Dickbauer überzeugt, mit ihrer Hauptschule, die am Rande von Graz in einem großen Park liegt, beim Versuch Neue Mittelschule mitzumachen. Dickbauer ist 60, ein Alter, in dem viele Kollegen sich längst in die (Früh-)Pension verabschiedet haben, will aber mithelfen, die „moderne Schule zu bauen“. Nach den ersten Wochen ist sie begeistert: „Lehrer und Schüler lernen, in Gruppen zu ar­beiten.“

Nicht viele waren so mutig wie Dickbauer. Nur 67 Schulen wagten mit dem heurigen Schulbeginn den Sprung zur Neuen Mittelschule und stellten ihre Schulen auf die moderne Pädagogik um, die dort vorgesehen ist. Aus diesen Schulen wird von viel Elan berichtet. Sie bleiben aber einzelne Inseln, von der flächendeckenden Erprobung ist die Neue Mittelschule weit entfernt. Was Bildungsministerin Claudia Schmied eigentlich als „Einstieg in die Gesamtschule“ geplant hatte, wurde zuerst von der ÖVP in ideologischen Kampfdiskussionen zum Reförmchen niederverhandelt – und mündet nun überhaupt in ein Paradoxon: Kein einziges Gymnasium beteiligt sich am Schulversuch, nur Hauptschulen in fünf Bundesländern machen mit. Statt eine gemeinsame Schule für alle Zehn- bis 14-Jährigen zu schaffen, wurde ein dritter Sonder-Schultyp für wenige kreiert: Neben Gymnasien existieren viele traditionelle Hauptschulen und vereinzelte Neue Mittelschulen.

Das ist Wasser auf die Mühlen jener, die mit Verve gegen die „Einheitsschule“ wettern. „Ich schaue mir die Regierung an, die es wagt, aus drei Schultypen einen zu machen“, prognostiziert Fritz Enzenhofer, Landesschulratspräsident von Oberösterreich, dass die Neue Mittelschule nie über das Stadium eines Schulversuchs hinauskommen wird. Er plant für das nächste Schuljahr überhaupt einen vierten Typ, das „Schulmodell Oberösterreich“.

Solche Blockadehaltungen führen zu Trotzreaktionen, etwa an der Europaschule in Linz, nahe dem Stadthafen. In der Schule schaut es aus wie in einer Kinder-Wohngemeinschaft: heimelige Knotz-
ecken auf großen Gangflächen, knallig bunte Bilder. Offenes Lernen und Projektunterricht gibt es hier schon lange. „Wir hatten die Ziele der Neuen Mittelschule schon vorher zu 90 Prozent umgesetzt“, sagt Direktor Stefan Giegler. Weil er aber auch SPÖ-Gemeinderat in Linz ist, meldete er seine Hauptschule als einzige Oberösterreichs für den Schulversuch an – und wurde überrannt: Die Hälfte der Interessenten musste Giegler abweisen. In seiner Neuen Mittelschule sitzen heuer mehr Kinder mit AHS-Reife und weniger Migranten als im Vorjahr.

Angst vorm Scheitern. Seit in jeder Klasse zwei Lehrer stehen, hat sich das „Unterrichtsniveau eklatant gesteigert“, beschreibt Lehrer Johannes Leeb. In Geografie in der 1a etwa absolvieren die Kinder eine Art Kartenlese-Zirkeltraining: Die einen suchen am Laptop auf Google-Maps ihre Schule. Die anderen bauen Wanderkarten zu einer Österreich-Karte zusammen. Die dritte Gruppe entschlüsselt Flugpilotenkarten. Die vierte versucht den Schüler zu finden, der sein Versteck auf der Schulkarte eingezeichnet hat. Ein paar gelaufene Umwege sind beim Suchen durchaus einkalkuliert: „Kinder brauchen viel Bewegung“, erklärt Leeb.

Manchmal unterrichtet auch Susanna Klawora hier. Ansonsten arbeitet sie gegenüber, an der Schule für Kindergartenpädagogik. Giegler hätte sich die Unterstufe eines Gymnasiums als Partnerschule gewünscht, fand aber keine: „Wenn nur Hauptschulen mitmachen, ist das Projekt gescheitert. Die Neue Mittelschule hat nur flächendeckend Sinn.“

Das sieht Susanne Brandsteidl genauso. Die Wiener Stadtschulratspräsidentin wollte in ganz Wien die Neue Mittelschule einführen, das erlaubt das von Schmied mit dem Koalitionspartner ÖVP verhandelte Gesetz aber nicht. Das ärgert Brandsteidl noch heute: „Schulversuche bringen nichts, die haben wir seit 1972.“ Nach einem Jahr des Schmollens kommt Wien 2009 doch an Bord und meldet 20 Neue Mittelschulen an, darunter werden, verspricht Brandsteidl, auch etliche AHS sein.

Das will der schwarze Block der ÖVP-Bundesländer bei sich zu verhindern wissen. Hermann Helm, unter Elisabeth Gehrer Generalsekretär im Bildungsministerium und heute Landesschulratspräsident in Niederösterreich, glaubt, „dass die Eltern die gemeinsame Schule nicht wollen“. Er führt kommendes Jahr an 46 Schulen die Neue Mittelschule ein, aber nur für bis Zwölfjährige und an Hauptschulen. Denn: „Die AHS muss erhalten bleiben.“

Dabei steht Österreich mit einem Schulsystem, das Kinder mit zehn Jahren auf Hauptschulen und Gymnasien aufteilt, international fast allein da. Der Sonderweg hat Folgen: Laut OECD schlägt sich in kaum einem anderen EU-Staat die soziale Herkunft der Eltern so stark auf die Bildungskarriere der Kinder durch.

Den Effekt spürt etwa Georg Hasenhüttl. „Wir liefen Gefahr, wie alle städtischen Hauptschulen zur Restschule zu verkommen. Wir hatten immer weniger leistungswillige Kinder aus normalen El­ternhäusern“, begründet der Direktor der Grazer Schule St. Leonhard, warum für ihn die Umwandlung in eine Neue Mittelschule ein Rettungsanker war. Nicht alle Lehrer waren begeistert, sie fühlten sich auch ohne Schulversuch schon überarbeitet. Seit Anfang September ist im tristen Sechziger-Jahre-Gebäude im Zentrum von Graz aber so etwas wie Aufbruchsstimmung zu spüren. Die jungen Lehrer, die dank des Schulversuchs zusätzlich gekommen sind, reißen auch die unwilligen unter den älteren mit.

Derzeit liegt der Schwerpunkt auf „Lernen lernen“: Die Schüler bekommen Wochenpläne und entscheiden selbst, wann sie welche Aufgabe in welchem Fach absolvieren. „Vor dem ersten Mal hatte ich ziemlich Angst“, erzählt Lehrerin Brigitte Schwab. Nach ein paar Wochen hat sie schon Erfahrung, wie sie Übungen so aufbereitet, dass die Kinder sie selbst bewältigen können, und stellt einen „richtigen Motivationsschub“ an sich selber fest: „Es ist spannend, die Kinder zum selbstständigen Arbeiten zu bringen.“ Für nächste Woche bereitet sie mit den Kollegen das Thema Europa vor, das sich durch alle Gegenstände ziehen soll.

Die üppigeren Ressourcen für die Neue Mittelschule lassen Zweifler schwanken. Wer sich am Schulversuch beteiligt, bekommt, wie es im Schuljargon heißt, zwölf zusätzliche Stundeneinheiten. Im Klartext: mehr Lehrer. Wolfgang Erlitz, Landesschulratspräsident der Steiermark, weiß zu berichten, dass sich für kommendes Schuljahr so viele Schulen angemeldet haben, dass er die ersten ablehnen wird müssen: „Die Nachfrage ist so groß, dass wir sehr restriktiv sein müssen.“ Bei Hauptschulen, wohlgemerkt. Auch in der Steiermark ist bisher keine AHS zum Mitmachen bereit.

Das ist auch ein Erfolg von Eva Scholik, der Chefin der AHS-Lehrergewerkschaft. Sie wettert nach wie vor gegen die „Gleichmacherei“, hat aber neuerdings die Sorge, dass die AHS ungleich behandelt werden: „Die Gefahr ist, dass ein Schultyp gefördert wird – und die anderen ausgehungert.“ Um Bedenken von konservativer Seite auszuräumen, will Schmied die Wirtschaftspartei ÖVP mit Wirtschaftsargumenten überzeugen. Infineon-Chefin Monika Kirchler-Kohl sitzt in der Expertenkommission für die Neue Mittelschule und begründet die Notwendigkeit der gemeinsamen Schule ökonomisch: „Im derzeitigen Schulsystem gehen zu viele Talente verloren. Die Vergeudung von Ressourcen können wir uns nicht leisten.“

Neue Fehlerkultur. Noch hören Eltern und Lehrer solche Sätze skeptisch. Im Südburgenland votierten sie in den Abstimmungen gegen die Umstellung auf die Neue Mittelschule. Das war die Chance von Mattersburg, einer 6700-Einwohner-Kleinstadt an der Grenze zu Niederösterreich, doch auch im Nordburgenland den Schulversuch genehmigt zu bekommen. Die Abstimmung war hier kein Problem. In der hellen, modernen Hauptschule haben sich mit der Umwandlung in die Neue Mittelschule um 30 Prozent mehr Kinder angemeldet, jedes dritte Kind hat die AHS-Reife. Dafür gibt es im benachbarten Gymnasium heuer eine erste Klasse weniger.

Das wundert Direktorin Johanna Schwarz nicht: „Vielen Kindern nimmt der Druck in den AHS die Freude am Lernen.“ Sie versucht, eine andere Fehlerkultur einzuführen: „Wir können nicht Eltern sagen, Ihr Kind kann nicht rechtschreiben, sondern müssen uns bemühen, es dem Kind beizubringen.“ Ein Versuch dazu sind die Phasenschularbeiten, wie sie gerade die 1e hat. Am Vortag haben die Kinder die Englisch-Schularbeit in Blau ausgefüllt, einen Tag später können sie mit einem grünen Stift nachtragen, was sie nicht wussten. „So wollen wir den Kindern die Angst vor Prüfungen nehmen“, erzählt Lehrer Thomas Leitgeb. Nach der Schularbeit dürfen die Schüler das neue Smart-Board ausprobieren, eine Art Computer-Tafel. Die Kinder drängen sich um Leitgeb, rufen „Ich, ich war noch nicht dran“ und spielen sich am Smart-Board, um die richtigen Comicfiguren zu den richtigen englischen Vokabeln zu schieben. Danach haben die Kinder eine kombinierte Chemie- und Kochstunde, in der sie erfahren, wie Zucker konserviert. Am Ende haben sie halb gesättigte Zuckerlösung und Gelee hergestellt.

Schmied hofft, dass die Ausstrahlung der einzelnen Leuchttürme übergreift. Mehr bleibt ihr auch nicht übrig. Denn der Beweis für den Erfolg der gemeinsamen Schule wird ohne flächendeckende Versuche auch in vier Jahren nicht zu erbringen sein. Das weiß Ferdinand Eder, der am Ins­titut für Bildungsforschung den Schulversuch evaluiert. „Das ist zur Beruhigung der Eltern gedacht“, gibt er offen zu. Vergleiche der Neuen Mittelschule mit anderen Schulen sind gar nicht vorgesehen. Das ist allerdings international oft genug passiert, sagt Eder: „Es geht doch nicht darum, dass wir den 27. Beleg erbringen, dass Kinder an der gemeinsamen Schule etwas und sogar mehr lernen.“

Eine derartige Evaluierung wird die ideologischen Klassenkämpfe nicht ausräumen können. Vielleicht aber setzt sich ohnehin die Pragmatik durch. Darauf hofft zumindest Hans Spieß, Bezirksschulin­spektor in Mattersburg. Denn überzeugender als jede noch so hehre Argumentation von Chancengleichheit sei die nüchterne Tatsache, dass eine Neue Mittelschule mehr Lehrerstellen pro Schüler hat: „Die AHS können schwer begründen, dass sie nicht mitmachen und so Dienstposten verlieren. Das werden sie auf Dauer nicht aushalten.“

Von Eva Linsinger