Verfassungslos

Der gescheiterter Regierungsgipfel

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Jean-Claude Juncker, Christdemokrat und Luxemburger Premier, der als potenzieller nächster Kommissionspräsident hoch gehandelt wird, setzte eine ernste Miene auf und machte den Vorschlag einer so genannten „Rendezvous-Klausel“ – wonach ein Beschluss verschoben wird, bis die Sache entscheidungsreif ist: Abgestimmt soll – so Juncker – 2014 mit qualifizierter Mehrheit über die Frage werden, ob Gott existiert oder nicht. Wenn ja, dann würde man ihn in den Verfassungstext hineinschreiben. Junckers Joke mit Gott war aber kein fröhlicher. Der Luxemburger hatte schon das kommende Gipfel-Scheitern erkannt und auf diese Weise sarkastisch seiner Enttäuschung Ausdruck verliehen. Dass die Herren der Staatskanzleien schließlich zerstritten und mit leeren Händen nach Hause gingen, lag freilich nicht an Transzendentem. Sondern an durchaus Handfestem: Wieder einmal kamen die widerstrebenden Machtinteressen der Nationalstaaten und ihrer hohen Repräsentanten dem europäischen Projekt in die Quere. Und so endete das Jahr 2003 für die Europäische Union desaströs. Nach dem Debakel der Brüsseler Regierungskonferenz stehen die 15 Mitgliedsländer und die zehn Beitrittsstaaten vor einem Scherbenhaufen. Miserable Aussichten jedenfalls für das Jahr 2004. Die meisten Staats- und Regierungschefs werden am 1. Mai dieses Jahres den Feierlichkeiten anlässlich der größten Erweiterung, die die EU jemals erlebt hat und erleben wird, mit gemischten Gefühlen und tiefer Sorge beiwohnen.

Europa ist für die Erweiterung ohne Verfassung, ohne den Modernisierungs- und Integrationsschub, den diese gebracht hätte, nicht gerüstet. Und die Aufnahme der neuen Mitglieder findet in einer Zeit statt, in der in Europa plötzlich überall Fliehkräfte wirken, Euroskepsis fröhliche Urständ feiert und veritable Gegnerschaft zur europäischen Einheit ihre Renaissance erlebt: Wie zur Illustration dieser Tendenz explodierte zu Jahresende zunächst ein mit der Post zugestellter Sprengkörper in der Wohnung des EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi, und kurz darauf trafen in der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, bei Europol und der Justizbehörde der EU in Den Haag ebenfalls Briefbomben ein. Wer die neu auf die politische Bühne getretenen terroristischen EU-Hasser sind, ist noch nicht geklärt. Einiges deutet darauf hin, dass sie im linksextremen Milieu Italiens zu finden sind.

Dabei hatte das vergangene Jahr hoffnungsvoll begonnen: Der EU-Konvent war wider alle Erwartungen auf bestem Weg, eine ausgewogene Verfassung vorzulegen – was dem Präsidenten der Verfassungsversammlung, Valéry Giscard d’Estaing, zur Jahresmitte auch gelang. Aber schon tat sich in der Irakkriegs-Frage eine tiefe Kluft auf: Die Bush-Regierung wiegelte das „neue Europa“, das Europa der Willigen – England, Spanien und die Beitrittsländer –, gegen das „alte Europa“, das sich um die kriegsgegnerische deutsch-französische Achse gruppierte, auf. Dann mobilisierten sich in der Verfassungsfrage die Kleinen und die Ostler gegen Paris und Berlin, die den Konventsentwurf durchbringen wollten. Schließlich ließen Polen und Spanien die Regierungskonferenz platzen, weil sie nicht bereit waren, ihr weit überzogenes Stimmengewicht im EU-Rat aufzugeben. Aber neue Konflikte sind schon vorgezeichnet. Unmittelbar nach dem Scheitern des Verfassungsgipfels schrieben sechs so genannte Nettozahler – darunter Frankreich, Deutschland, auch Österreich – an die Kommission, sie wären keineswegs bereit, in Zukunft so viel Geld wie bisher, geschweige denn mehr an Brüssel abzuliefern. Vor allem in Polen wurde der Brief als „Revancheakt“ für den Verfassungsstreit gewertet. Und Erweiterungskommissar Günter Verheugen befürchtet in diesem Konflikt ein „Potenzial zur Eskalation“, in dem die Fronten „Reich“ gegen „Arm“ aufeinander prallen würden. 2004 wird für Europa jedenfalls ein Jahr der schweren Turbulenzen, ein Jahr der schicksalshaften Entscheidung darüber, ob die Union doch noch eine Verfassung bekommt und wieder auf den Weg der Integration zurückfindet – oder auf Zerfall zusteuert. Über diese Fragen führte profil ein ausführliches Gespräch mit Jean Claude Juncker.