Verfolgungswahn der Web-2.0 Generation

"Verfolgungswahn": Soziale Netzwerke der Zukunft können ihre Benutzer orten

Soziale Netzwerke der Zukunft können ihre Benutzer orten

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So sehen Familientragödien im digitalen Zeitalter aus: Im April dieses Jahres erschoss James H. aus Graham im US-Bundesstaat Washington zunächst seine fünf Kinder und richtete sich anschließend selbst. Zuvor hatte er seine Frau Angela in flagranti erwischt – mithilfe der GPS-Funktion ihres Handys.

Gleicher Monat, gleiche Technik, ganz andere Geschichte: An einer Bushaltestelle in San Francisco war Janina Valiente ihre Handtasche gestohlen worden. Die Polizei hatte leichtes Spiel: In der Handtasche befand sich ein BlackBerry, auf dem die Ortungsfunktion Google Latitude installiert war. Die Behörden konnten den Täter bequem auf einer digitalen Landkarte verfolgen und festnehmen.

Extrembeispiele, selbstverständlich – doch die dahinterliegende Technik wird schon in naher Zukunft immer deutlicher in den Vordergrund rücken. Markteinführungen wie das iPhone haben die Internetnutzung von unterwegs für die breite Masse attraktiv gemacht und damit einen Entwicklungsboom für mobile Anwendungen ausgelöst. Laut einer aktuellen Umfrage der Mobilkom Austria benutzen schon heute 17 Prozent der Internet-User das Web mobil, 30 Prozent der Österreicher äußerten ein Interesse daran, soziale Netzwerke wie Facebook von unterwegs zu bedienen.

Auch die Netzbetreiber sehen ein boomendes Geschäftsfeld. „In ein paar Jahren wird es kaum mehr die heute verbreiteten Handys geben, es geht alles in Richtung Smartphone“, meint Mobilkom-Vorstand Hannes Ametsreiter.

Doch nicht nur die mobilen Anwendungsmöglichkeiten werden attraktiver. Das Gerät kann auch geortet werden – und die Pläne, diese Möglichkeiten in die bestehenden sozialen Netzwerke zu integrieren, werden stetig vorangetrieben. Viele Anwender setzen schon jetzt ihr Handy für Navigationszwecke ein. Der nächste Schritt – bald nicht nur die nächste Baustelle, sondern auch den Aufenthaltsort seiner Facebook-Freunde sehen zu können – ist nur logisch. Die Google-Anwendung Latitude funktioniert bereits nach diesem Prinzip: Auf einer interaktiven Karte wird angezeigt, wo sich die Personen aus der Kontaktliste gerade befinden. „Die Ortung ist auf zehn bis zwanzig Meter genau“, so Google-Sprecher Kay Oberbeck. Applikationen für mobile Geräte gibt es bereits. Datenschützer laufen gegen die Anwendung bereits Sturm und wollen ein Leck entdeckt haben, durch das heimliche Überwachungen möglich seien.

Andererseits eröffnet die digitale Observierung von Unbekannten auch neue Möglichkeiten: Singles auf Partnersuche können sich auf diesem Weg leichter orten und potenzielle Partner in nächster Umgebung samt markanten Infos wie Alter, Interessen und Einkommenslage eruieren, was die Rate an peinlichen Smalltalks und verkrampften Anbandelungsversuchen spürbar verringern dürfte.

Als erster großer Anbieter kündigte die Mikroblogging-Plattform Twitter im August an, eine so genannte Geolocation-Schnittstelle einzuführen. Damit können Nachrichten geortet werden, die in der unmittelbaren Umgebung abgeschickt wurden. Potenziell könnten damit etwa die Entstehungsorte der beliebten Kurzkommentare von „Zeit im Bild“-Anchorman Armin Wolf verfolgt werden. Der Service wird bei Twitter gerade von Entwicklern getestet.

Für den 24-jährigen Web-2.0-Kenner Jens Wiese, der den privaten Blog facebookmarketing.de betreibt, steht der Einzug der mobilen Ortungstechnologie unmittelbar bevor: „Bei der aktuellen Innovationsgeschwindigkeit rechne ich mit einem großflächigen Roll-out in den nächsten zwei Monaten.“

Natürlich müssen die Nutzer den Service erst freischalten, um von anderen geortet werden zu können. Trotzdem warnen Kritiker der Technologie vor Missbrauch. „Vor allem Jugendliche gehören geschützt, niemand kann von 16-Jährigen erwarten, dass sie Geschäftsbedingungen verstehen und lesen, denen sie zustimmen“, kritisiert StudiVZ-Geschäftsführer Clemens Riedl den größten Konkurrenten Facebook. Deshalb sind die Geschäftsbedingungen bei SchülerVZ so formuliert, dass sie auch von Jugendlichen verstanden werden. Auf die vielen Applikationen, die das bekannteste Netzwerk anbietet, verzichte sein Unternehmen bewusst, weshalb man auch einige Marktanteile verloren habe. Doch die Einhaltung strikter Datenschutzbestimmungen vor allem für junge Leute habe Vorrang.

Der Druck, einem sozialen Network beizutreten, wächst stetig. „Ich überlege praktisch jeden zweiten Tag, ob ich nicht doch beitreten sollte, weil ich dort viele verlorene Kontakte wieder aufnehmen könnte und über Veranstaltungen besser informiert wäre“, berichtet etwa die 26-jährige Uni-Assistentin Judith Hofmann. Bislang überwog jedoch die Skepsis gegenüber der unkontrollierbaren Weitergabe ihrer privaten Daten und den Möglichkeiten des Ausspionierens.

Dass vor allem Jugendliche im Netz oft fahrlässig Informationen preisgeben, ist nichts Neues. Durch die digitale Ortungsmöglichkeit könnte Missbrauch nicht nur aus Unachtsamkeit, sondern durchaus bewusst geschehen. Etwa durch besorgte Eltern, die so die Wege ihrer rebellierenden Teenagerkinder überwachen.

„Es handelt sich um Probleme, die es schon immer gegeben hat. Es gibt heute nur viel mehr Möglichkeiten, und damit werden sie uns anders bewusst“, erklärt die Wirtschaftsinformatikerin Meral Akin-Hecke. Für sie unterstützen soziale Netzwerke vor allem reale Handlungen. Bis dato konnte keine Studie eine Isolation durch soziale Netzwerke feststellen, im Gegenteil: Großteils bewirken die neuen Netzwerke eine Stärkung bestehender Sozialkontakte. Die eigentlichen Probleme stellen für Akin-Hecke vielmehr mangelndes Grundwissen und Bedienungsprobleme dar, weshalb sie den Digiday ins Leben gerufen hat, die erste digitale Medienkonferenz für ein breites Publikum (digitalks.at/digiday09).

Auch der bekannte Internetsoziologe Stephan Humer findet Veranstaltungen wie diese äußerst wichtig: „Wir befinden uns mitten in einer epochalen und unaufhaltbaren Veränderung. Viele Menschen verstehen es, Netzwerke für ihre Selbstdarstellung bestens auszunutzen, andere wiederum schaden sich sogar. Diese Kluft wird immer größer. Deshalb ist es wichtig, Laien besser zu informieren.“