Vincent van Gogh in der Wiener Albertina

Der Prototyp des leidenden Künstlers

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Klaus Albrecht Schröder ist für bescheidene Ansprüche nicht unbedingt bekannt. Unlängst konfrontierte er die Öffentlichkeit erneut mit astronomischem Zahlenmaterial: Für die große Herbstausstellung „Van Gogh – Gezeichnete Bilder“, die kommende Woche eröffnet wird, erwarte er rund 400.000 Besucher, verkündete der Direktor der Albertina. Dann wurde die Versicherungssumme der Schau bekannt: Sie beläuft sich auf knapp drei Milliarden Euro. Dafür wurde – per eilig beschlossenen Gesetz – die ­Bundeshaftung drastisch erhöht.

Derartige Zahlen mögen unvorstellbar hoch wirken – realitätsfern sind sie keineswegs. Wer von Vincent van Gogh spricht, kommt um Superlative nicht herum. Das Amsterdamer Van Gogh Museum, ein mittelgroßer Bau mit einer Ausstellungsfläche von rund 2300 Quadratmetern, verzeichnete im Vorjahr stolze 1,5 Millionen Besucher – mehr als Österreichs bestbesuchtes Haus, das Kunsthistorische Museum, mitsamt seinen vielen Dependancen zwischen Wien und Innsbruck. Axel Rüger, Direktor des Van Gogh Museums, gesteht mit einem leisen Lächeln: „Wir sind schon in einer sehr privilegierten Situation.“ Erst vor wenigen Jahren musste das Gebäude erweitert werden; als es 1973 nach den Plänen des Architekten und Designers Gerrit Rietvelt erbaut wurde, war es für nur 60.000 Besucher pro Jahr geplant gewesen. Auch am Kunstmarkt hat sich van ­Goghs Reputation als stabil erwiesen: Sein „Porträt des Dr. Gachet“, das 1990 um 82,5 Millionen Dollar von einem japanischen Industriellen erworben worden war, war bis vor Kurzem das teuerste je in einer Auktion versteigerte Kunstwerk.

Weitaus auffälliger als die Popularität des Künstlers ist jedoch die Tatsache, dass er wie kein anderer – mit Ausnahme von Pablo Picasso – die Fantasie von Filmregisseuren und Schriftstellern beflügelte. So zeichnete etwa Vincente Minnelli in seinem opulenten Van-Gogh-Biopic „Lust for Life“ (1956) – als Vorlage diente der berühmte Roman von Irving Stone – einen düsteren Bilderbogen um den jungen Kirk Douglas, der sich im Film vorwiegend in finsteren Gässchen, dunklen Räumen und wolkenverhangenen Landschaften aufhält. Auch andere renommierte Filmemacher, etwa Maurice Pialat, Robert Altman oder Alain Resnais, arbeiteten sich an dem Mann mit dem wohl berühmtesten Ohr der Welt ab, sogar in deutschen Fernsehproduktionen und japanischen Kinderfilmen taucht van Gogh auf. In Akira Kurosawas Episodenfilm „Träume“ (1990) tritt Regisseur Martin Scorsese als van Gogh auf; sogar die von dem Aktionisten Otto Mühl gegründete Friedrichshof-Kommune beschäftigte sich mit dem Künstler – in dem Klamaukstreifen „Vincent“ (1984).

Romanstoff. Nicht weniger attraktiv erscheint die Figur des Malers für mehr oder weniger faktensatte biografische Literatur aller Art: So erschien bereits 1921 der Roman „Vincent van Gogh – Roman eines Gottsuchers“ des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe; der Dramatiker Antonin Artaud setzte dem Künstler mit „Van ­Gogh – der Selbstmörder durch die Gesellschaft“ ein Denkmal; Romanschöpfungen weniger bedeutender Autoren drehten sich um van Goghs unglückliche Liebe zu der Prostituierten und späteren Ehefrau Clasina Hoornik, genannt „Sien“, und die komplizierte Beziehung zu seinem Bruder Theo. Van Gogh rief auch kunstfremde Disziplinen auf den Plan: Zahlreiche Psychologen und Mediziner haben mithilfe der noch existierenden Dokumente sein Leben und seinen Tod untersucht.

Freilich sind die künstlerischen Verdienste des 1853 in Brabant geborenen van Gogh unbestritten. Innerhalb weniger Jahre – erst im Alter von 27 entschied er sich, Maler zu werden – schuf er rund 900 Gemälde und 1100 Zeichnungen. In seinem noch eher ungeschickten Frühwerk bildete der Pfarrerssohn die drückende Armut von Bauern und Arbeitern ab – etwa in seinem berühmten Bild „Die Kartoffel­esser“. Ab 1886 wohnte er bei seinem Bruder in Paris. Dort knüpfte er Kontakte zur Avantgarde, vertreten von Künstlern wie Paul Gauguin und Paul Signac – und ­änderte schon nach kurzer Zeit seinen Stil: Van Goghs Palette hellte sich auf, er setzte wirkungsvoll Komplementärfarben nebeneinander, sein Pinselstrich wurde flotter und spontaner. Wie viele seiner Kollegen zeigte sich auch van Gogh von japanischen Holzschnitten beeindruckt und geprägt. Van Gogh war zeitlebens ein Reisender, zog von einem Ort zum anderen: Im provenzalischen Arles wollte er ein „Atelier des Südens“ gründen. Sein einziger Gast, Paul Gauguin, verabschiedete sich jedoch nach kurzer Zeit wegen eines Streits, bei dem sich jener Vorfall ereignete, der dem Image des „wahnsinnigen Genies“ erst den letzten Schliff gab: Unterschiedlichen Interpretationen zufolge schnitt er sich damals entweder das ganze Ohr oder wenigstens Teile davon ab. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte van Gogh zumeist in Nervenheilanstalten – in Auvers-sur-Oise tötete er sich im Hochsommer 1890 schließlich durch einen Kopfschuss.

Visionär. Ohne van Gogh, dessen Hauptwerk in seinen letzten vier Lebensjahren entstand, wäre die Kunstgeschichte anders verlaufen: Er gilt als Vorläufer der Expressionisten und der Fauvisten um Henri Matisse. Ihm verdankten sie die Erkenntnis, dass ein Bild einen Gegenstand nicht unbedingt naturalistisch wiedergeben muss, um ihn zu definieren. Auch den wilden Umgang mit der Farbe, die er oft pastos auf die Leinwand strich, gab van Gogh an seine Erben weiter. Doch reichen die Qualität seines Werks und der Einfluss auf spätere Generationen als Erklärungsmodell für van Goghs Superstar-Status? Der Wiener Kunsthistoriker Fritz Novotny führte die Beliebtheit des Malers 1953 ausschließlich auf die Ausstrahlung seiner Malerei zurück. Von den meisten seiner Kollegen wurde diese Deutung kritisiert. Auch der Amsterdamer Museumschef Axel Rüger stimmt nur ­teilweise zu: „Sicher haben van Goghs Werke eine Ausstrahlung aufgrund der Oberflächen – das möchte man geradezu anfassen.“ Auch habe sich der Maler stets „sehr zugänglichen Themen“ wie Landschaften, Porträts und Stillleben gewidmet. Zur Steigerung des Mythos um van Gogh habe jedoch auch sein früher Tod – zumal durch die eigene Hand – beigetragen: Erst dadurch sei er als „Typ des romantischen Künstlers und verkrachten Genies“ gesehen worden. Rügers Kollege Klaus Albrecht Schröder sieht dies ähnlich: Der Maler bediene die Vorstellung vom „Künstler, der als Autodidakt einsam und allein arbeitet und von seinen Zeitgenossen nicht verstanden wird“, auch wenn derartige Klischees nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen. Dennoch: „Van Gogh gilt der breiten Öffentlichkeit – wie Picasso – als der Künstler schlechthin“, so Schröder.

Verkanntes Genie. Den Grundstein für diesen Mythos, darin sind sich die Experten einig, legte die Publikation des umfassenden Briefwechsels zwischen den Brüdern Vincent und Theo durch die geschäftstüchtige Schwägerin des Künstlers zwei Jahre nach van Goghs Tod. Die Briefe suggerierten eine Schlüssellochperspektive auf das Leben des Malers – und lieferten Stoff für Wissenschafter und Künstler. „Er ist einer der ganz wenigen Künstler, über deren Leben wir viel wissen“, sagt Rüger. „Es gibt einen großen Bestand an eigenen Dokumenten – auch wenn Briefe ausdrücklich keine Biografien sind.“ Allzu oft freilich wurde die Korrespondenz der Brüder für bare Münze genommen – oder aber so gedreht und gewendet, dass sie perfekt in die Legende vom verkannten Genie am Rande des Irrsinns pass­te. Im Van Gogh Museum setzt man alles daran, dieses Klischeebild zu revidieren. Auch die Albertina-Ausstellung ist um wissenschaftliche Seriosität bemüht. Wie weit sie von den Stereotypen, die van Goghs Kunst unweigerlich begleiten, frei gehalten werden kann, wird abzuwarten sein.

Von Nina Schedlmayer