Volkskrankheit Tinnitus

Volkskrankheit Tinnitus: Warum immer mehr Menschen Hörprobleme haben

Lauschangriff. Schwerhörigkeit und Ohrensausen plagen immer mehr Österreicher

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Beim Verlassen einer Wiener Partylocation hat Wilhelm Binder plötzlich Ohrensausen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, der 26-jährige Ethnologiestudent hat diese Erfahrung schon öfter gemacht. Aber diesmal verschwindet das Geräusch nicht wie sonst nach wenigen Stunden, es ist noch am nächsten Tag da. Denn was Binder gefiel – mit Freunden abhängen und zur lauten Musik mit wummernden Bässen tanzen –, behagte den feinen Härchen an den Sinneszellen in seinem Innenohr weniger. Eine Woche später bekommt Binder von seinem behandelnden Arzt durchblutungsfördernde Medikamente. Aber das Leiden, bekannt als Tinnitus, ist auch ein halbes Jahr danach noch immer da.
Experten schätzen, dass in Österreich etwa 800.000 bis eine Million Menschen von quälenden Ohrgeräuschen betroffen sind, etwa 200.000 davon sind chronische Tinnitus-Patienten. Die Ursachen der Erkrankung sind vielfältig, nicht immer ist Lärm der Auslöser. Aber wie im Fall Binder berichten viele Patienten von Schalltraumen nach extremen Lärmerfahrungen. Wegen der Fußball-WM rechnen HNO-Ärzte und Lärmforscher mit dem vermehrten Auftreten von Hörschäden durch Vuvuzelas. Mit gemessenen Spitzenwerten von 127 Dezibel (dB) bewegen sich die Plastiktröten im Bereich der Schmerzschwelle. Schon bei kurzer Einwirkzeit können sie dauerhafte Hörschäden verursachen.
Leben wir in einer zunehmend lauter werdenden Lärmumgebung, wie Kulturpessimisten behaupten, oder reagiert die Wohlstandsgesellschaft einfach empfindlicher auf Phänomene, die früher weniger beachtet wurden? Sind Tinnitus und Schwerhörigkeit Auswirkungen schlechter Hörgewohnheiten oder Resultat der Stressgesellschaft?
Unter Tinnitus verstehen Mediziner jede Art von Ohrgeräuschen, die auf keine äußere Schallquelle zurückzuführen sind. Die Betroffenen nehmen das Phänomen als Sausen, Zischen, Pfeifen, Dröhnen oder Klingeln wahr. Für Außenstehende ist oft schwer nachvollziehbar, wie Tinnitus wirkt und welche Auswirkungen er auf das Leben Betroffener haben kann. Während viele Patienten mit ihren Ohrgeräuschen gut umgehen können und nur von leichten Beeinträchtigungen berichten, sind sie für andere extrem belastend und mit großem psychischem Stress verbunden, der schwerwiegende Konsequenzen für das Berufs- und Privatleben haben kann. In gravierenden Fällen werden die Patienten depressiv, das Leiden kann in den Wahnsinn treiben.

Viele Ursachen. Beim so genannten objektiven Tinnitus hören die Patienten ein Geräusch, das von einer Gefäßerkrankung ausgeht und das auch der Arzt im Stethoskop hören kann. „Diese Form ist aber äußerst selten“, erklärt die Wiener HNO-Spezialistin Berit Schneider-Stickler, „in meiner gesamten bisherigen beruflichen Laufbahn habe ich einen einzigen Fall gesehen“.

Viel häufiger ist der subjektive Tinnitus, den nur Betroffene hören. Das bedeutet aber nicht, dass es sich dabei um Einbildung oder eine akustische Halluzination handelt. „Wenn ein Patient erklärt, er habe Tinnitus, dann muss ich ihm glauben. Für uns als Ärzte ist er nicht wirklich beweisbar, aber auch nicht ausschließbar“, sagt Schneider-Stickler. Mithilfe verschiedener Hörtests werde versucht, das Ohrgeräusch in seiner Höhe und Lautstärke nachvollziehbar zu machen. Dieses so genannte Tinnitus-Matching ist eine Untersuchung, die dazu dient, Klangcharakter, Tonfrequenz und Lautstärke des Tinnitus zu ermitteln. Zu verschiedenen Zeitpunkten durchgeführt, lässt sich hiermit die subjektiv empfundene Lautheit an verschiedenen Tagen nachvollziehen und so ein allfälliger Therapieerfolg kontrollieren.
Die Ursachen für die quälenden Töne im Ohr sind äußerst vielfältig und kaum überschaubar. Erkrankungen des Ohres wie Mittelohrentzündungen, Hörstürze oder Altersschwerhörigkeit können zu Tinnitus führen. Das Leiden kann aber auch ein Symptom für Funktionsstörungen der Halswirbelsäule oder von Kiefergelenkserkrankungen sein. Tinnitus-begünstigende Faktoren sind auch Durchblutungsstörungen der Hals-, Kopf- oder Wirbelsäulengefäße sowie Stoffwechselerkrankungen. Mehr als 200 Erkrankungen, vor allem auch psychosomatische und psychologische Ursachen, kommen infrage, die mit dem Symptom Tinnitus einhergehen können. Die häufigsten Auslöser sind jedoch übermäßiger Lärm oder Stress.
Bei nachhaltiger Lärmeinwirkung werden die feinen Härchen an den Sinneszellen im Innenohr, welche die Schallwellen in elektrische Impulse umwandeln und an das Hörzentrum des Gehirns weiterleiten, geschädigt. „Ein Tinnitus ist als Warnschuss zu verstehen“, sagt Wolfgang Gstöttner, Vorstand der Wiener Universitätsklinik für HNO-Erkrankungen. In vielen Fällen erhole sich das Gehör wieder, in anderen komme es aber zu irreversiblen Schäden. „Sobald man merkt, dass es im Ohr dröhnt, sollte man nicht zuwarten, ob es vielleicht wieder vergeht, sondern sofort einen Arzt aufsuchen“, empfiehlt der Experte.

Ein einmal erlittener akuter Hörschaden macht anfällig für Wiederholungen. Die Härchen regenerieren sich nicht mehr, sodass es zum Ausfall gewisser Hörfrequenzen kommt. Die Verschlechterung der Hörleistung ist ein schleichender Prozess. „Zuerst sind die hohen Töne weg, das wird aber von den Betroffenen noch kaum bemerkt“, erklärt Gstöttner. „Wenn man sich weiterhin ungeschützt dem Lärm aussetzt, sind auch die mittleren Frequenzen betroffen, also der für Sprache relevante Bereich.“ Experten schätzen, dass 20 Prozent der Österreicher schwerhörig sind, etwa gleich hoch ist der Anteil in anderen europäischen Ländern.
Die Vielzahl der Tinnitus auslösenden Faktoren erschwert naturgemäß Diagnose und Therapie und macht die Zusammenarbeit von Ärzten verschiedener Fachrichtungen notwendig. Liegt eine organische Erkrankung als Auslöser des Tinnitus vor, lassen sich die Ursachen der Beschwerden, je nach Diagnosestellung, in der Regel behandeln und auch beheben.
Viel häufiger werden jedoch gar keine organischen Ursachen für diese Erkrankung gefunden. In solchen Fällen unterscheiden Mediziner nach akuten oder chronischen Formen. Ein akuter Tinnitus besteht kürzer als sechs Monate. Je früher die Behandlung begonnen wird, desto besser stehen die Chancen auf Erfolg. Die Therapie verfolgt zwei Ziele: Zum einen sollen bleibende Schäden oder eine Chronifizierung des Prob­lems ausgeschlossen werden. Zum anderen geht diese frühe Tinnitus-Behandlung davon aus, dass akute Ohrgeräusche auf eine Mangelversorgung des Innenohrs zurückführbar sein könnten, die in der Regel auf einer Durchblutungsstörung beruhen. Deren Ursachen können vielfältig sein: Entzündungen, Viren, Lärm oder eine Veränderung der Fließeigenschaften des Bluts.

Menschen, die unter Stress leiden, schütten vermehrt das Stresshormon Cortisol aus. Dieses verengt die Blutgefäße und verschlechtert damit die Fließeigenschaften des Bluts. Das Blut wird dicker und kann sogar gerinnen. In den kleinen Kapillargefäßen des Innenohrs kann es zu einem Gefäßverschluss kommen, mögliche Folge: Tinnitus. Deshalb zielt die Behandlung darauf ab, die Versorgung des Innenohrs mit Blut beziehungsweise Sauerstoff zu verstärken. Die Patienten werden mit Infusionen oder Tabletten behandelt. Die Wirksamkeit ist jedoch umstritten. „Die Therapie, mit der wir den Beweis antreten könnten, dass sie der alleinige Grund war, warum jemand eine Hörverbesserung hat, die gibt es noch nicht. Aber wir wissen, dass mit medikamentöser Therapie der Prozentsatz der Heilung höher ist, als wenn wir nur auf den Placebo-Effekt vertrauen oder gar nichts machen“, meint Schneider-Stickler.

Noch schwieriger gestaltet sich die Behandlung des chronischen Tinnitus. „Ein chronischer Schaden ist nicht reparierbar“, sagt HNO-Vorstand Gstöttner. Die Behandlung zielt vielmehr darauf ab, dass der Patient lernt, mit seinen Ohrgeräuschen besser umzugehen. Dadurch kann es zu einer Besserung und Linderung der Beschwerden kommen. Spezielle Tinnitus-Masker können die Ohrgeräusche mit weniger störenden Tönen überdecken. Die Tinnitus-Retraining-Therapie dient dem Erlernen der Fähigkeit, die Ohrgeräusche zu überhören und in den Hintergrund zu drängen. Ist Stress die Ursache, können Entspannungstechniken wie autogenes Training den Heilungsprozess fördern. In manchen Fällen hilft auch Psychotherapie. Einigen Betroffenen verschaffen alternative Methoden wie Akupunktur oder Hypnose Erleichterung.
In jedem Fall raten Fachmediziner dazu, Lärmbelastungen zu meiden. Immer wieder berichten vorwiegend jüngere Tinnitus-Patienten, ihr Leiden sei erstmals nach Besuch einer Disko, einer Partylocation oder eines Popkonzerts aufgetreten. „Schallpegel von 110 dB oder mehr sind da jederzeit möglich“, weiß Hans-Peter Hutter, Umwelt­mediziner am Institut für Umwelthygiene der Medizinischen Universität Wien, der selbst Lärmmessungen durchführt. „Hörschäden hängen immer auch von der Dauer und Intensität ab“, ergänzt HNO-Vorstand Gstöttner. „Solche Lautstärken sollte man nur wenige Minuten pro Tag erdulden“, empfiehlt der Experte. Nur fünf Minuten bei 105 dB wirken auf das Ohr wie eine Tagesdosis von 85 dB.

Gehörkiller. Das Problem wird noch dadurch verschärft, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene ihrem Hörorgan kaum Ruhepausen gönnen. Experten sagen, dass so genannte In-Ear-Plugs, wie sie vor allem bei MP3-Playern verwendet werden, den Schall mit hohem Pegeldruck direkt in den Gehörgang leiten, sodass die Zellen des Innenohrs noch zusätzlich gestresst werden. Lautstärken von 100 und mehr Dezibel sind dabei durchaus üblich. Das entspricht dem Lärm, der entsteht, wenn in einem Meter Entfernung ein Presslufthammer betrieben wird.
Weltweite Studien zeigen: Die Zahl der Hörschäden steigt vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Laut der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist die Beeinträchtigung des Hörvermögens bei jedem dritten Jugendlichen bereits derart fortgeschritten, dass die Betroffenen spätestens im Alter von 50 Jahren auf ein Hörgerät angewiesen sein werden. Die DAK, eine der größten Krankenkassen Deutschlands, weist darauf hin, dass die Zahl der unter 18-Jährigen, die ein Hörgerät verordnet bekommen, innerhalb von drei Jahren um 38 Prozent gestiegen ist. Untersuchungen von Wissenschaftern der Johns Hopkins University in Baltimore zeigten, dass 8,5 Prozent der 20- bis 30-jährigen Amerikaner von Schwerhörigkeit betroffen sind. Ähnliche Daten liegen aus Frankreich, Italien und Schweden vor.

Lärm kann aber nicht nur das Gehör, sondern den gesamten Organismus schädigen. Ausschlaggebend ist dabei nicht der messbare, sondern der subjektiv empfundene Lärm. In den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Lärm kaum ein Thema, weil die Verbesserung der Lebensverhältnisse Vorrang hatte. Mit steigendem Wohlstand wächst die Sensibilität für Fragen der Lebensqualität. So ist auch die Lärmempfindlichkeit der Bevölkerung­ deutlich angestiegen, wie Mikrozensus-Erhebungen der Statistik Austria belegen: Im Jahr 1998 fühlten sich 13,7 Prozent der Österreicher in ihrer Wohnung durch Lärm belästigt, fünf Jahre später waren es 29,1 Prozent, und im Jahr 2007 38,9 Prozent. Als größtes Ärgernis gilt den Betroffenen der Verkehrslärm.

Noch vor wenigen Jahren kannte die Lärmforschung nur den hohen Lärmpegel als Gradmesser für Gesundheitsprobleme. „Aber auch leise Geräusche können quälend sein“, sagt Karoline Greimel, klinische Psychologin am Universitätsklinikum Salzburg. Entscheidend ist die persönliche Einstellung zur Lärmquelle: Während einem das Brummen einer Supermarktlüftung mit 35 dB den Schlaf rauben kann, empfindet man im ­Urlaub das Meeresrauschen mit 55 dB als herrlich entspannend. Ist ein Geräusch mit negativen Emotionen besetzt, rebelliert das Nervensystem. „Man ist permanent in Lauerstellung“, erklärt Greimel. Ein sympathischer Nachbar darf laut sein, einem Widerling schickt man sofort die Polizei an den Hals.

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

ist Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast (@profil_Klima).