Vom Affenmenschen zum Homo sapiens

Vom Affenmenschen zum Homo sapiens: Anthropologie lüftet letzte Geheimnisse

Virtuelle Anthropologie lüftet letzte Geheimnisse

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Von Robert Buchacher

Es ist ein Puzzle mit vielen Unbekannten. Oft liegen nur wenige Fossilien vor, Millionen Jahre alte Schädelfragmente eines Vormenschen, aus denen es gilt, ein komplettes Bild zu zaubern. Zu diesem Zweck haben die Anthropologen ihre Computer mit all ihrem bisherigen Wissen von diversen Schädelformen gefüttert. Wie ein Netz spannen sie hunderte Berechnungspunkte über einen ­digitalen Schädel, fügen dort ihre virtuellen Fossilien ein und kombinieren sie mit bereits vorhandenen Daten – so lange, bis auf dem Bildschirm eine komplette Schädel­rekonstruktion entsteht – sei es der Schädel eines Ururahnen des Menschen oder der eines frühen Homo sapiens.

Was unterscheidet sie? Was charakterisiert ihre Kauapparate, ihren Gesichts- und Hirnschädel? Und welche dieser Charakteristika haben sich im Lauf von Jahrmillionen so verändert, dass sich vor etwa 200.000 bis 160.000 Jahren eine neue Art herausgebildet hat: der Mensch, wie wir ihn heute kennen? Wie haben er und seine Vorgänger gelebt, sich ernährt, was lässt sich aus den feinen Unterschieden innerhalb der Art über die Wanderungsbewegungen des frühen Homo sapiens ableiten? Gab es einen singulären großen ­Exodus von Afrika nach Eurasien, oder gab es deren mehrere, kleinere?

In den vergangenen Wochen und Monaten hat eine internationale Forschergruppe rund um die beiden Wiener Anthropologen Gerhard Weber und Horst Seidler insgesamt drei Publikationen im angesehenen US-Wissenschaftsjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ („PNAS“) veröffentlicht, um auf diese Fragen neue Antworten zu geben. Zentrales Werkzeug ist dabei die ebenfalls von den beiden Wiener Forschern entwickelte so genannte Virtuelle Anthropologie, eine Technologie, die es vermag, aus wenigen Bruchstücken einen ganzen Schädel zu rekonstruieren.

Startpunkt für die Entwicklung dieser Technologie waren die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen der Gletschermumie Ötzi vor mehr als 15 Jahren: Die bei der radiologischen Durchleuchtung des Eismanns im Computertomografen gewonnenen Daten nutzte Seidler, um vom Schädel der Mumie eine komplette Rekonstruktion aus Kunststoff anfertigen zu lassen. Sein jüngerer Kollege Weber entwickelte die Methode weiter und übertrug sie auf das eigentliche Kerngebiet seines Fachs: die Erforschung des Stammbaums des Menschen. Zu diesem Zweck wurde beispielsweise im Computertomografen der so genannte „Mladec-Schädel“, einer der größten Schätze des Wiener Naturhistorischen Museums, durchleuchtet. Der bereits in den Jahren 1881/82 nahe dem Dorf Mladec in Südmähren entdeckte Knochen gehört zu den ältesten Fund­ensembles von Homo sapiens in Europa.

Wissenschafter des Instituts für Isotopenforschung und Kernphysik der Universität Wien datierten die Mladec-Knochen in Zusammenarbeit mit Kollegen der Washington University auf ein Alter von 31.000 Jahren, wie sie im Mai 2005 im Forschungsjournal „Nature“ berichteten. Auf Basis der von Weber erhobenen Computerdaten fertigte das in Dornbirn ansässige Vorarlberger Unternehmen Zumtobel eine exakte Nachbildung des Mladec-Schädels aus Kunststoff. Weber bezeichnet diesen Schädel als „etwas robuster als die Schädel heutiger Menschen“.

Vernetzung im Gehirn. Im Jungpaläolithikum, Mladecs Lebenszeit vor 30.000 bis 40.000 Jahren, herrschte zwar in Mittel­europa die Eiszeit, aber weder war Südmähren permanent von Eis bedeckt, noch herrschten dort konstant kalte Temperaturen. Zur selben Zeit lebte in Europa der an das kalte Klima gut angepasste Neandertaler, dessen Spuren sich vor 27.000 Jahren in Spanien verlieren. Aber Neandertaler und Mladec gehören nicht zur gleichen Art. Wie die Vormenschen Homo erectus oder Homo heidelbergensis zählt auch der Neander­taler noch zum „archaischen“ Typus, der eine ­andere Schädelform aufweist als Mladec, ­flacher und mit stark nach vorn gewölbten Augenbrauen-Knochen.

Mit Mladec taucht ein völlig neues Muster auf, „die Globularisierung des Gehirnschädels“, wie Weber sagt. Der Schädel wird höher und runder, ohne dass sich das Hirnvolumen vergrößert. Der Neandertaler verfügte über ein zumindest gleich großes, wenn nicht größeres Gehirn. Doch die Größe allein sagt wenig über Fähigkeiten aus: Für die Entwicklung der Intelligenz ist die Art der neuronalen Vernetzung des Denkapparats, seine Plastizität, noch wichtiger als das Volumen.

Der Weg vom Affen- zum Menschenhirn erstreckt sich freilich über Jahrmillionen. Das allmähliche Verlassen des Lebensraums Baum, die Entwicklung des aufrechten Gangs, die Herstellung und Verwendung von immer besseren Werkzeugen und nicht zuletzt die Entwicklung der sozialen Intelligenz im Zusammenleben der Gruppe waren dabei die bedeutsamsten Schritte. Den aufrechten Gang entwickelten unsere Ahnen nach neueren Erkenntnissen vor mehr als vier Millionen Jahren.

Vor zwei Jahren entdeckte ein von Seidler geleitetes Grabungsteam in Äthiopien den etwa 4,2 Millionen Jahre alten Oberschenkelknochen eines Homininen, der eindeutig auf einen aufrechten Gang hinweist. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass sich der aufrechte Gang noch viel früher und in verschiedenen Weltgegenden unabhängig voneinander entwickelt hat. „Mit dem Erwerb der aufrechten Haltung, das heißt, des sicheren Fortbewegens auf zwei Beinen, wurden die vorderen Extremitäten frei, und damit konnte die Welt im schönsten Sinne des Wortes handwerklich begriffen werden“, sagt Seidler.

Das Leben auf zwei Beinen war aber in einer von Fressfeinden und Raubtieren wimmelnden Umgebung nicht ganz ungefährlich. Daher bedurfte es einer guten Gruppenstruktur, einer besseren sozialen Vernetzung und Kommunikation, um das eigene Überleben in der Wildnis zu sichern. Das war laut Seidler einer der wesentlichen Motoren für die Entwicklung der sozialen Intelligenz, für das Wachstum und die stärkere neuronale Vernetzung des Gehirns.

Eckzähne. Mit dem Wachstum des Hirnschädels schwinden Größe und Robustheit des Kauapparats. Auch die übergroßen Eckzähne und das damit verbundene Imponiergehabe verloren an Bedeutung. Veränderungen des Gebisses deuten mitunter aber auch auf eine ökologische Anpassung an geänderte Umweltbedingungen hin. So analysierten Weber und Kollegen in einer transatlantischen Wissenschaftskooperation den Gesichtsschädel von zweieinhalb Millionen Jahre alten fossilen Schädelfragmenten des Australopithecus africanus. Mithilfe der Virtuellen Anthropologie gelang ihnen der Nachweis, dass sich der Kauapparat dieser südafrikanischen Verwandten des Menschen an das spärliche Nahrungsangebot wie große Nüsse und Samen anpasste, um das Überleben der Art in Mangelzeiten zu sichern. Feststellbar war das mithilfe der ersten biomechanischen Modellierung (der so genannten Finite-Elemente-Analyse) eines vormenschlichen Fossils. Die damit sichtbar gemachten Druckableitungen zeigen, dass die neben der Nase verlaufenden „Stützpfeiler“ (Weber) und die stark vergrößerten Vormahlzähne ideale Anpassungen zum Knacken harter Kost wie Nüsse darstellen.

Unterdessen hat Webers Team weltweit mehr als 200 in diversen Museen aufbewahrte Schädelfunde – vom Homo erectus bis zum frühen modernen Menschen – mithilfe der Virtuellen Anthropologie analysiert. Unter Anwendung statistischer, biomathematischer und computerwissenschaftlicher ­Methoden fixierten die Forscher schließlich an die 500 Vermessungspunkte, in die man neu entdeckte Schädelbruchstücke wie in ­einen Raster einsetzen und mit anderen, virtuellen „Bauteilen“ verbinden kann. Aus dem gesammelten Datenmaterial schuf ­Weber ein auch für andere Forscher zugängliches Archiv, das sich für die Analyse und Interpretation neuer Fundstücke weltweit nutzen lässt.

EU-Projekt. Bei den Schädelanalysen fiel auf, dass das Konstruktionsprinzip über einen Zeitraum von 1,5 Millionen Jahren – vom Homo erectus bis zum Neandertaler – beibehalten wird. Dann plötzlich, mit dem Auftauchen des frühen modernen Menschen vor etwa 200.000 Jahren, verbreitert sich die Variabilität der Schädel. „Das führt zu dem Schluss, dass wir mit der These, wonach die Afrikaner in einer einzigen großen Auswanderungswelle nach Eurasien aufgebrochen sind, aufräumen müssen“, sagt Weber.

Inzwischen ist Weber auch Koordinator eines von der EU mit 3,3 Millionen Euro geförderten europaweiten Netzwerks von Spezialisten, welche die neue Technologie auch in anderen Bereichen anwenden, wie etwa in der Planung chirurgischer Eingriffe oder der exakten Herstellung von Zahnimplantaten. Ziel des Netzwerks mit der ­Bezeichnung EVAN (www.evan.at) ist es, „eine neue Generation von Forschern verschiedener Bereiche mit industriellen Partnern, Klinik und Lehre zu verlinken“. Im Vorjahr erhielt das Wiener Department für Anthropologie außerdem aus Mitteln der Forschungsförderung 500.000 Euro zur Anschaffung eines Mikro-Computertomografen mit einer Auflösung bis zu einer Genauigkeit von einem Tausendstel Millimeter. Ein eigenes, von Weber und Fred Bookstein verfasstes Lehrbuch der Virtuellen Anthropologie sowie ein eigener Computerlehrgang sollen nun die neue Technologie auch unter interessierten jungen Forschern verbreiten – als „die Technologie des 21. Jahrhunderts“, wie Weber sagt.

Diese Technologie hat bereits eine ­anschauliche Erkenntnis geliefert: dass der frühe Homo sapiens kaum anders war als wir Heutigen. „Würde man einen frühen Homo sapiens bei uns adaptieren und aufziehen, der könnte genauso mit einer ­Krawatte herumlaufen“, ist Horst Seidler überzeugt.

Fotos: Michael Rausch-Schott