Die neue Weltmacht China bekommt schon Risse

Von Drachen und Katzen: Die neue Weltmacht China bekommt schon Risse

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Während die westliche Welt noch darüber grübelt, ob sie wirklich aus der großen Krise herausgefunden hat oder doch noch mittendrin steckt, wächst Chinas Wirtschaft wieder zweistellig: im vierten Quartal des Krisenjahrs 2009 um 10,4 Prozent. Das wurde vergangenen Donnerstag stolz in ­Peking verkündet. Während die entwickelte Welt am Abgrund einer Großen Depression taumelte, erlitt China also kaum mehr als einen kleinen Wachstumsrückgang. Die gewaltige industrielle Revolution in Asien musste während der Finanzkrise nicht innehalten, um Atem zu schöpfen. Der Drache befindet sich also wieder im Höhenflug.

Ein Superlativ jagt den anderen: China löst Deutschland als Exportweltmeister ab. Die Volksrepublik hat sich im letzten Jahr zum größten Automobilmarkt noch vor den USA entwickelt. China verdrängt in diesem Jahr Japan als zweitgrößte Wirtschaft der Welt. All das sind Meldungen der vergangenen zwei Wochen.

Und alles schaut gebannt gen Fernost und fragt: Wie machen das die Chinesen? Was ist ihr Geheimnis? Gibt es ein eigenes „Modell China“? Und wenn ja, wird dieses nun eine Alternative zum westlichen Weg der Entwicklung und Modernisierung?

„Es ist egal, ob es eine schwarze Katze oder eine weiße Katze ist. Solange sie Mäuse fangen kann, ist sie eine gute Katze.“ Dieser Ausspruch des Kommunistenführers Deng Xiaoping des Jahres 1978 war die Grundlage dessen, was der amerikanische Ökonom Jeffrey Sachs eine „welthistorisch einzigartige Erfolgsgeschichte“ nennt. „China hat die zweihundert Jahre dauernde Industrialisierung des Westens in dreißig Jahren nachgeholt“, schwärmt der US-Politikwissenschafter und Journalist Fareed Zakaria in seinem Bestseller „Der Aufstieg der Anderen“.

Pragmatismus stand also am Anfang des gewaltigen Entwicklungsschubs: unideologisch bei der Wahl der Mittel, experimentierfreudig mit Neuerungen und effizient bei Entscheidung und Umsetzung. So beschreibt die kommunistische Führung ihr „Modell China“.

Auch der Sinologe David Gosset, Direktor des Euro-China Center for International and Business Relations in Shanghai, sieht Chinas strategische Fähigkeiten als herausragendes Merkmal der chinesischen Entwicklung. In der Bereitschaft zur Anpassung an Veränderung und Unsicherheit erkennt er die zentrale Stärke des Reichs der Mitte, eine Fähigkeit, die auch schon dem asiatischen Brettspiel Go (chinesisch: Weiqi) zugrunde liegt: „Zu Beginn des Spiels werden die Spielsteine in regulärer und orthodoxer Weise bewegt, doch es braucht Kreativität und Wagemut, um das Spiel zu beenden.“

So konnte Peking mit einem schnell geschnürten gigantischen 460-Milliarden-Euro-Konjunkturpaket erfolgreich der Krise trotzen. Zu Recht wird China nun als Retter der Weltwirtschaft gefeiert. Ohne das chinesische Wachstum wäre die globale Ökonomie um einiges tiefer abgesackt. Ohne die gewaltigen rund 800 Milliarden Dollar umfassenden Staatsanleihen aus dem Reich der Mitte würde der US-Wirtschaft endgültig die Puste ausgehen.

Der Westen fühlt sich aber gleichzeitig bedroht: nicht nur weil China mit seiner Verzehnfachung von ausländischen Direktinvestitionen innerhalb von nur fünf Jahren zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten am Weltmarkt wurde. Schon wird in westlichen Intellektuellenkreisen eine Zukunft gemalt, in der die Chinesen die neuen Herren der Welt sind. Sollte es dem Land gelingen, sein hohes Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, werde die Globalisierung künftig chinesische Züge tragen, warnt Martin Jacques in seinem Buch „When China Rules the World“: Peking werde New York überschatten, der Renminbi den Dollar ersetzen, Mandarin Englisch ablösen, und die Schulkinder der Welt würden von den Entdeckungsreisen des Zheng He entlang der ostafrikanischen Küste lesen anstatt von Vasco da Gama und Christoph Kolumbus.

Diese Ängste dürften übertrieben sein. Denn trotz des neuen Selbstbewusstseins Chinas sind selbst die Führer in Peking von ihrem „Modell China“ nicht restlos überzeugt. Überaus nervös reagieren sie jedenfalls auf jedes auch nur kleinste Anzeichen von Dissens.

Trotz internationaler Proteste verurteilte die kommunistische Führung zu Weihnachten ihren bekanntesten Dissidenten, den Publizisten Liu Xiaobo, wegen „Aufwiegelung zum Umsturz der Staatsmacht“ zu elf Jahren Gefängnis. Und die Zensurschraube im Internet wird immer fester angezogen, in einem Ausmaß, dass Google, das bisher bei der Ausfilterung von politisch unliebsamen Inhalten brav mitgemacht hat, ankündigt, sich aus China zurückzuziehen. Hunderte Bürger legten vorvergangene Woche beim Hauptquartier der amerikanischen Internet-Firma in Pekings Hightech-Viertel Zhongguancun Blumen, Kerzen und Schilder mit „Auf Wiedersehen, Google“ nieder.

Aber ist eine autoritäre Modernisierung langfristig überhaupt durchzuhalten? Kann eine entwickelte Marktwirtschaft, die ja letztlich auf Information der vielen beruht, auf lange Sicht mit Zensur und Repression funktionieren?

Bisher galt allgemein die Hypothese: Wirtschaftsreform zieht automatisch politische Reform und Kapitalismus Demokratie nach sich. Und tatsächlich gibt es heute, abgesehen von den reichen Ölländern, keinen Staat, der zwar ein westliches Niveau an wirtschaftlicher Entwicklung erreicht hat, aber noch immer nicht demokratisch ist. Einsame Ausnahme stellt Singapur dar, das aber als Sonderfall gelten muss: Ein kleiner überschaubarer Stadtstaat, der von einer klugen autoritären Regierung leicht unter Kontrolle zu halten ist. Aber kann so etwas im chinesischen Riesenreich auch gelingen? Bisher hat die autoritäre Modernisierung Chinas geklappt. Ist das nun die Widerlegung der Hypothese vom Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie?

Auch chinesische Funktionäre gestehen in Hintergrundgesprächen, dass ohne politische Reformen, ohne Demokratisierung die Fortsetzung des chinesischen Erfolgswegs keine Chance hat. Die Macht ist jetzt schon mit einer Vielzahl von Protestbewegungen konfrontiert. Vor allem fürchtet sie aber, dass die urbanen Mittelschichten, die bisher mit zunehmendem Wohlstand ruhiggestellt wurden, außer Kontrolle geraten könnten. Sie sind bereits in Bewegung, die Unzufriedenheit in den Städten wächst.
Im Internet etwa ist gerade eine hitzige Debatte über die explodierenden Wohnungspreise entbrannt. Jüngst campierten in mehreren Städten junge Männer in Zelten auf der Straße, sie trugen T-Shirts mit dem Aufdruck „Willst du mich auch ohne Wohnung heiraten?“. Ohne die eigenen vier Wände findet ein junger Mann nur schwer eine Frau – was der kürzlich offiziell bekannt gegebene große Männerüberschuss sowieso schon erschwert.

Die Angst der Pekinger Macht, dass das Volk doch noch aus dem bisher so erfolgreichen Modell ausscheren wird, ist groß. Kürzlich wurde der amerikanische Blockbuster der Saison, „Avatar“, nach nur wenigen Tagen in Pekings staatlichen Kinos abgesetzt. Der Streifen zeigt, wie ein ehemaliger US-Soldat das außerirdische Volk der Navi von seinem Land vertreiben soll, um an wertvolle Bodenschätze zu gelangen. Offenbar hat der Hollywood-Streifen in China, wo alte Wohnviertel modernen Bürohochhäusern weichen müssen, ganze Landstriche entvölkert werden, weil man Flüsse staut, und Millionen Hektar Bauernland der forcierten Industrialisierung zum Opfer fallen, einen Nerv getroffen. „All die Umsiedlungen in China machen uns heute zu den einzigen Erdenbürgern, die das Leid der Navi nachempfinden können“, schreibt die beliebte Kolumnistin Huang Hung in der „Volkszeitung“. Was, wenn sich das Volk allzu sehr mit den kämpfenden Aliens identifiziert?, dachten offenbar die Behörden.

Fareed Zakaria hat keinen Zweifel daran, dass auch für das Reich der Mitte die Stunde der Demokratisierung kommen wird. Das kann freilich noch dauern. Er stellt eine Regel auf, die er empirisch belegt. Von Spanien bis Südkorea und von Griechenland bis Taiwan und Mexiko zeige sich überall: „Sobald diese Länder die Schwelle zu einem mittleren Einkommen überschritten haben, das zwischen 5000 und 10.000 Dollar jährlich liegt, beginnen sie sich politisch zu verändern.“ Die Schwelle habe China aber noch nicht erreicht. Spätestens auf diesem Stand der Entwicklung aber wird sich die Frage stellen: Gelingt es dem chinesischen Regime mit all seinem klugen Pragmatismus, Schritt für Schritt das Land zu demokratisieren? Oder gerät der chinesische Drache in schwere Turbulenzen und beginnt seinen Sturzflug?