Vorsorge

Vorsorge: Gesundes Volksbefinden

Gesundes Volksbefinden

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In der Österreichischen Volksbanken AG (ÖVAG) sitzt der Schock noch immer tief. „Wir geben über den Tod von Generaldirektor Klaus Thalhammer keine Detailauskünfte, Sie müssen das verstehen. Wir sind alle tief betroffen“, heißt es in der Pressestelle der Wiener ÖVAG-Zentrale. Nur so viel ist bisher bekannt: Der 60-jährige Thalhammer hatte sich am Montag der Vorwoche einem Herzcheck unterzogen. Weil das Ruhe-EKG wenig aussagekräftig ist, setzte sich der Spitzenmanager auf den Hometrainer, um auch den obligatorischen Belastungstest zu absolvieren.

Beim Duschen nach dem Test brach Thalhammer plötzlich zusammen. Sofort eingeleitete Notarztmaßnahmen waren vergebens. Thalhammer starb an einem plötzlichen Herzversagen. Weder gab die ÖVAG bekannt, wo das passiert ist, noch unter welchen genauen Umständen. Experten rätseln. Ein derartiger Vorfall ist äußerst selten.

Gerald Maurer, Vorstand der Wiener Universitätsklinik für Innere Medizin II und Chefkardiologe des Wiener AKH, beziffert das Risiko mit eins zu 40.000. „Wir haben so etwas am AKH in den vergangenen Jahren nie erlebt, und wir machen täglich 15 bis 20 solcher Tests.“ Auch Werner Klein, Leiter der Klinischen Abteilung für Kardiologie der medizinischen Universitätsklinik Graz, hält einen Herztod bei so einem Test für „eine extrem ungewöhnliche Komplikation. Ich bin 35 Jahre an der Klinik und habe so etwas noch nie erlebt.“

Nach dem spektakulären Herztod bei einer Vorsorgeuntersuchung befürchten Sozialmediziner nun negative Auswirkungen auf solche Tests, wenn nicht auf die Vorsorgemedizin überhaupt. „Dabei gibt es kaum eine so sichere Untersuchung wie diese“, erklärt Kardiologe Klein, „es wäre absolut das Falsche, jetzt nicht mehr hinzugehen.“ Und, so Klein: „Wenn Thalhammer nicht bei dieser Untersuchung gestorben wäre, dann wäre er wahrscheinlich bei einer anderen Gelegenheit gestorben.“

Belohnungssystem. Die böse Nachricht trifft auch die Gesundheitspolitik. Denn das neue Credo von ÖVP-Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat und FPÖ-Gesundheitsstaatssekretär Reinhard Waneck lautet just jetzt mehr Vorsorge. Die beiden Politiker denken sogar an ein Belohnungssystem, um mehr Menschen zur Teilnahme an Gesundenuntersuchungen zu motivieren. So hoffen sie, die derzeit etwa 850.000 jährlichen Gesundenuntersuchungen auf etwa 1,5 Millionen zu steigern.

Doch einen so klaren und allgegenwärtigen Gesundheitsgewinn, wie ihn die Regierungsvertreter propagieren, bedeuten Vorsorgeuntersuchungen auch wieder nicht. Gerade der Herzcheck ist im Ausland ins Gerede gekommen. Schon 1996 empfahl die U.S. Preventive Services Task Force, ein von der amerikanischen Regierung bestelltes Expertengremium für Vorsorgemedizin, regelmäßige Herzchecks sollten nur bei Risikogruppen vorgenommen werden.

Erst im vergangenen August bezeichnete die „New York Times“ die routinemäßigen jährlichen Gesundenuntersuchungen in den USA als „leeres Ritual“. Im Jahr 2000 entfielen 64 Millionen von insgesamt 823,5 Millionen Arztbesuchen auf solche Routinechecks. Bei einem Kostenpunkt zwischen 120 und 150 Dollar pro Check gaben die Amerikaner im Jahr 2000 sieben Milliarden Dollar für derartige Gesundenuntersuchungen aus.

Fehlalarme. Oft erscheine der Nutzen solcher Untersuchungen zweifelhaft, sagen Fachleute in einer Reihe von Berichten, die seit 1989 regelmäßig im Auftrag der US-Agency for Healthcare Research and Quality erstellt werden. So fanden die Experten beispielsweise keine Evidenz dafür, dass regelmäßige Unterleibs-, Mastdarm- oder Hodenuntersuchungen irgendetwas an den Überlebensraten von symptomlosen Patienten geändert hätten.

Im Gegenteil: Die Experten warnen sogar davor, dass solche Tests oft zu Fehlalarmen und zu einer Fülle von kostspieligen oder gar riskanten Folgetests führen würden. Und selbst viele der nützlichen Untersuchungen wie die Messung des Blutdrucks oder des Cholesterinspiegels im Blut müssten nicht jedes Jahr von neuem gemacht werden. Aber diese Kritik ist schwer zu vermitteln. Das mussten viele niedergelassene Ärzte in den USA erfahren, die versucht hatten, den Umfang der jährlichen Tests einzuschränken. Denn daraufhin blieben die Patienten aus.

„Wir wenden viel Zeit auf, um Dinge zu machen, die den Menschen kaum was bringen, und vermeiden dabei Dinge, die viel nützlicher sein könnten“, sagt Russell Harris, Präventionsmediziner an der Universität von North Carolina. Nach Meinung der Agency for Healthcare Research and Quality sollten niedergelassene Ärzte weniger Tests machen und dafür danach trachten, dass ihre Patienten mit dem Rauchen aufhören, sich gesünder ernähren, weniger Alkohol trinken, im Auto Sicherheitsgurte anlegen und in ihren Häusern funktionierende Rauchmelder installieren. Das würde ihr Leben eher verlängern als viele unnötige Tests.

Österreichische Experten sehen das ähnlich. „Man muss jede Gesundenuntersuchung darauf abklopfen, ob sie auch sinnvoll ist“, erklärt Michael Kunze, Vorstand des Instituts für Sozialmedizin an der Universität Wien. Sinnvoll seien jedenfalls Impfungen, Messungen des Blutdrucks, des Blutzucker- und Cholesterinspiegels im Blut: „Aber beispielsweise beim Prostatakrebstest bin ich sehr kritisch, wenn man sagt, alle Männer sollen das machen.“ Trotz großflächig vorgenommener Tests hat sich die Sterblichkeitsrate bei Prostatakrebs in Österreich kaum verändert. Wolfgang Horninger, Leiter des Prostatazentrums an der Innsbrucker Universitätsklinik für Urologie, plädiert dennoch für die Tests, „weil sie Leiden vermindern können“.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt klare Richtlinien heraus, wann Screenings bei welcher Bevölkerungsgruppe gemacht werden sollen und wann nicht. Die Früherkennung des Lungenkrebses beispielsweise bringt nichts, weil es dann ohnehin zu spät ist. Günter Krejs, Vorstand der Grazer medizinischen Universitätsklinik, plädiert dafür, Gesundenuntersuchungen nur dann durchzuführen, wenn es um eine häufige Krankheit geht. Er nennt zwei Beispiele: An Dickdarmkrebs erkranken 60 von 100.000 Einwohnern, am Neuroblastom nur einer von einer Million.

Schwangerenvorsorge. Kaum in einem anderen Bereich wird der Nutzen von Vorsorgeuntersuchungen freilich so deutlich wie in der Schwangerenvorsorge. Durch rechtzeitige Checks lassen sich Infektionen und dadurch bedingte Frühgeburten verhüten oder Wachstumsstörungen und Missbildungen des Fetus aufdecken. „Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Qualität der Schwangerenvorsorge und dem Outcome beim Kind“, erklärt der Neonatologe Arnold Pollak, Vorstand der Wiener Universitäts-Kinderklinik. Auch Vorsorgeuntersuchungen beim Neugeborenen können entscheidend sein, etwa zur Diagnose einer angeborenen Schilddrüsenunterfunktion, die ohne Behandlung zum Kretinismus führen würde, oder der Diagnose einer Hormonstörung, welche die Geschlechtsentwicklung des Babys beeinträchtigen könnte.

Laut Lothar-Bernd Zimmerhackl, Professor für Kinderheilkunde an der Innsbrucker Universitätsklinik, sollte man bei neu zu etablierenden Untersuchungen drei Kriterien beachten: „Die Krankheit muss behandelbar sein, die Untersuchung in einem realistischen Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen, und die Erkrankung muss zumindest so häufig sein, dass man ein bis zwei Positivbefunde hat, sonst ist die Untersuchung fehlerhaft.“ Ein Expertenkomitee sollte einen Katalog erarbeiten, welche Untersuchungen sinnvoll und welche entbehrlich wären.

Der Wiener Gesundheitsökonom Christian Köck spricht sich vehement dagegen aus, Gesundenuntersuchungen nach dem Gießkannenprinzip auszuweiten: „Viele Tests sind aufwändig, teuer und generieren hohe Folgekosten, sodass man sie nicht machen sollte.“ Der Experte rechnet vor: Der jährliche Krebsabstrich bei Frauen ab dem 20. Lebensjahr kostet pro gerettetes Lebensjahr 90.000 Euro. Das Belastungs-EKG für alle 60-jährigen Männer kostet pro gerettetes Lebensjahr 1000 Euro.

Falsche Ergebnisse. Dass ÖVAG-General Thalhammer ausgerechnet nach so einem Test starb, ist auch deshalb besonders tragisch, weil Studien belegen, dass dieser Test nicht nur sicher ist, sondern auch Sinn macht, zumindest bei Männern. Vor allem bei jüngeren Frauen führen solche Tests immer wieder zu falsch-positiven oder falsch-negativen Ergebnissen. Für den Fall, dass alle Herzchecks nichts genützt haben, hat Gesundheitsökonom Köck einen weiteren Vorschlag parat: „Man sollte jedem Herzinfarktpatienten psychologische Beratung geben, damit er zum Rauchen aufhört. Das wäre eine Maßnahme, die Geld spart und Menschenleben rettet.“