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New York. Wahlkampf im Big Apple

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Von Anna Goldenberg und Valerie Prassl (New York)

Ein halbes Jahr bedeutet in New York normalerweise eine Ewigkeit. Erst in sechs Monaten wählt die Stadt einen Bürgermeister – und dennoch läuft der Wahlkampf bereits auf vollen Touren. Christine Quinn, irisch-katholisch, demokratisch und lesbisch, gilt als Favoritin. Gegen sie wird vermutlich Anthony Weiner antreten: jener Kongressabgeordnete, der vor zwei Jahren zurücktreten musste, weil er anzügliche Fotos von sich selbst irrtümlich an alle seine 56.000 Twitter-Follower geschickt hatte.

Wer auch immer das Rennen macht: Sie oder er wird eine Stadt regieren, die in den vergangenen Jahren höchst spannende Veränderungen erlebt hat. Zwei profil-Mitarbeiterinnen, die derzeit zwischen East River und Hudson leben, berichten aus einer Metropole, die vielen gängigen Klischees widerspricht.

Die Nanny
Das Recht auf Fettleibigkeit steht zwar nicht explizit in der amerikanischen Verfassung, trotzdem wird es landesweit in Anspruch genommen – mit einer Ausnahme: New York. Während Hamburger und verharmlosend „soft drinks“ genannte Flüssigzuckerlösungen in den USA in immer voluminöseren Portionen konsumiert werden, entwickelt sich New York zur Enklave der gesunden Ernährung – und der Fressverbote.

Der amtierende Bürgermeister Michael Bloomberg bekam von den New Yorkern den spöttischen Spitznamen „Nanny Bloomberg“ (Kindermädchen), da er Gesundheitspolitik mittels autoritärer Bevormundung betreibt. Verordnet hat er unter anderem: ein striktes Rauchverbot in allen Restaurants und Bars der Stadt sowie in den öffentlichen Parks; verpflichtende Kalorienangaben auf Speisekarten und -tafeln; ein Verbot von übergroßen Softdrinks, das allerdings Anfang März vom Supreme Court aufgehoben wurde; weiters lancierte Bloomberg eine Kampagne zur Limitierung des Salzgehalts in Speisen und brachte einen Gesetzesvorschlag ein, demzufolge Zigaretten für Kunden nicht mehr sichtbar dargeboten werden dürfen.

New York erlebt eine Ära der wohlmeinenden Prohibition, eingebettet in ein wachsendes Ernährungsbewusstsein. Die Bio-Supermarktkette „Whole Foods“ befindet sich auf Expansionskurs, die belgische Kaffeehauskette „Le Pain Quotidien“, die auf Naturprodukte setzt, betreibt in Manhattan und Brooklyn nicht weniger als 30 Lokale. Vegetarische und vegane Supermärkte und Restaurants wie „Sun in Bloom“ in Brooklyn oder „The Green Table“ in Chelsea eröffnen quasi im Wochentakt an jeder Ecke.
Die Bäckerei „Landbrot“ mit zwei Filialen in Manhattan will dunkles Mischbrot, wie man es in Deutschland, Österreich und der Schweiz kennt, an der US-Ostküste etablieren.

Eine gewisse Mrs. Quinn
„Zieht euch ordentliche Schuhe an und kommt raus mit uns!“, forderte Christine Quinn (Foto) die New Yorkerinnen und New Yorker kürzlich auf. Da war es noch spätwinterlich nasskalt, doch die resolute Frau mit dem roten Bob-Haarschnitt startete unerschrocken ihre Kampagne für die Bürgermeisterwahlen im November dieses Jahres. Es könnte der Auftakt zu einer historischen Karriere sein: Quinn wäre die erste Frau und die erste Homosexuelle im Bürgermeisteramt der liberalen Metropole. Politisch auch nicht ganz irrelevant: Sie wäre das erste Stadtoberhaupt der Demokraten seit 1989.

Die 46-Jährige entstammt einer irisch-katholischen Familie, engagierte sich anfangs für Rechte von Mietern und LGBT (das englische Kürzel für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle). Sie muss sich in den Vorwahlen gegen John Liu, einen asiatischen Kandidaten, sowie den Afro-Amerikaner Bill Thompson und vermutlich auch Anthony Weiner durchsetzen, der vergangene Woche durchblicken ließ, dass er wahrscheinlich antreten wird. Angriffe gegen Quinn kamen von mehreren Seiten: Ex-Mitarbeiter beklagten ihr „irisches Temperament“. Die schärfste Kritik an der mit der Anwältin Kim Catullo verheirateten Kandidatin kommt allerdings nicht etwa aus der homophoben Ecke: Eine Pressure Group wirft Quinn in einem TV-Spot vor, sie habe sich in zentralen Fragen als viel zu wenig links erwiesen.

Eine lesbische Bürgermeisterkandidatin, die zu wenig progressiv ist: So etwas findet man wohl nur in New York. Essen wie in der Alten Welt. New York 2013.

Stop! Police!
New Yorks Bürger wurden im Jahr 2012 laut offizieller Statistik 533.042 Mal von Polizisten angehalten und perlustriert. 286.684 der Kontrollierten, 55 Prozent, hatten dunkle Hautfarbe, 166.212 (32 Prozent) waren Latinos, nur 50.615 (zehn Prozent) Weiße. Die New Yorker Bürgerrechtsunion (NYCLU) schließt daraus, die Praxis des sogenannten „Stop-and-Frisk“ (anhalten und durchsuchen) sei rassistisch.

Das Vorgehen des New York Police Department (NYPD) ist derzeit Gegenstand eines Verfahrens, das diesen Vorwurf klären soll. Ist es gerechtfertigt, dass Afro-Amerikaner so viel öfter unter Verdacht geraten, Waffen bei sich zu tragen? Und auf welche Weise werden die Bürger durchsucht?

Nicholas Peart ist einer der Zeugen in dem Verfahren. In einem Kommentar für die „New York Times“ erzählt der 24 Jahre alte Afro-Amerikaner: „Als ich 14 war, sagte meine Mutter zu mir, ich solle nicht in Panik geraten, wenn mich ein Polizist aufhält.“ Inzwischen hatte Peart mehrmals Gelegenheit, den Ratschlag zu beherzigen. Dreimal wurde er bereits durchsucht, nie sah er selbst dafür einen Anlass. Einmal richtete ein Cop seine Waffe auf den jungen Mann, während dieser gefilzt wurde.
„Wurden Sie in der Leistengegend berührt? Am Rücken? Am Po?“, fragte die Richterin. Peart bejahte.

Dieselbe Richterin entschied in einem ähnlichen Fall, die Cops hätten dabei die Grenzen der Verfassung überschritten. Dabei machte es einen Unterschied, ob der Beamte die Taschen des Bürgers von außen abklopfte oder mit den Händen hineinfuhr. Das NYPD erwartet das Urteil mit Spannung – die New Yorker nicht minder.

Von Ratten und Menschen
Gewitzt sein. Sich mit wenig zufrieden geben. Den Härten des Lebens trotzen. Diese drei Eigenschaften gelten als unumgänglich für jeden, der es in New York zu etwas bringen möchte. Eine Gruppe ist darin seit Jahrhunderten so gut wie allen anderen Einwanderern überlegen und dennoch höchst unbeliebt: die braune oder graue Hausratte, rattus norvegicus. Die bis zu 25 Zentimeter großen Nager kamen während des Unabhängigkeitskrieges im 18. Jahrhundert von England über den Atlantik und bevölkern seither alle dunklen Ecken der Stadt. Man vermutet, dass heute auf jeden menschlichen Einwohner eine Ratte kommt.
Die veraltete Infrastruktur der Stadt bietet ihnen ein bekömmliches Umgeld. So wird etwa Abfall in verschnürten Säcken auf der Straße gelagert und dient den Nagern als gratis All-you-can-eat-Buffet, bis in der Nacht die Müllabfuhr kommt.

Tödliches Gift und Fallen sind keine langfristige Lösung, weil das mehr Futter für die überlebenden Nager bedeuten würde. Deshalb präsentierten die New Yorker Verkehrsbetriebe kürzlich ein neues Pilotprojekt: Mittels eines neuartigen Giftes werden weibliche Ratten frühzeitig in die Menopause geschickt. Das könnte die Vermehrung der äußerst gebärfreudigen Spezies reduzieren – wenn es dem Biotechnologieunternehmen SenesTech, welches das Produkt entwickelt, gelingt, die Ratten tatsächlich mit einem wohlschmeckenden Köder zu fangen.

Alteingesessene New Yorker zucken nur mit den Schultern, wenn sie in der U-Bahn einen Schatten weghuschen sehen. Immerhin, hört man bisweilen, sind Ratten besser als Bettwanzen – letztere beißen nämlich.

Jew York
„I love Jew York“ ist ein oft gesehenes Graffiti-Motiv und eine durchaus zutreffende Charakterisierung der Stadt. Schließlich bezeichnen sich 1,1 Millionen der New Yorker, rund ein Achtel, als jüdisch. Das macht die Atlantikmetropole zur Heimat der größten jüdischen Gemeinde außerhalb Israels.

Nach einem Zuwandererschub während des Zweiten Weltkriegs war die Gemeinde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrumpft, da viele Neuankömmlinge nach Kalifornien oder Florida weiterzogen. Erst in den vergangenen zehn Jahren wuchs sie wieder. Das veränderte auch das politische Profil der New Yorker Juden, die in den USA gemeinhin als liberale, dem Mittelstand angehörige Wähler der Demokraten gelten. In New York jedoch wachsen die orthodoxen und ultra-orthodoxen Gemeinden aufgrund hoher Geburtenraten am stärksten. Teurer Wohnraum und niedrige Einkommen trugen dazu bei, dass heute ein Drittel aller New Yorker Juden unter der Armutsgrenze lebt.

Vom jüdischen Bevölkerungswachstum profitieren die Republikaner. „Familienwerte sind wichtig“, erklärt der 31-jährige Jacob Kornbluh, ein orthodoxer Jude, der mehrere politische Blogs betreibt. 69 Prozent der jüdischen Stimmen gingen 2012 an Präsident Barack Obama, während 80 Prozent der orthodoxen Juden Mitt Romney wählten. Die liberale Einstellung zu Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe kostete die Demokraten die Unterstützung dieser Bevölkerungsgruppe.
Bürgermeister-Kandidatin Christine Quinn wird es bei der jüdischen Gemeinde deshalb doppelt schwer haben. „Es ist nicht deshalb, weil sie eine Dame ist“, sagt Kornbluh: „Ihre Unterstützung für die LGBT-Gemeinschaft wird nicht gern gesehen.“

Eng, fensterlos, teuer
„Möbliertes Studentenzimmer zu vermieten, Upper West Side. 1450 USD/Monat (ca. 1115 Euro)“: Das Inserat ist für New Yorker Wohnverhältnisse nicht außergewöhnlich. Teuer und eng darf es sein, das nehmen viele New Yorker erstaunlich gelassen hin. Noch mit Mitte 30 leben viele von ihnen in winzig kleinen WG-Zimmern, auch wenn sie in schlechter Lage oder gar fensterlos sind.

In den vergangenen Jahren hat die Ostküstenmetropole einen stetigen Bevölkerungszuwachs erlebt. Zwischen April 2010 und Juli 2012 ist New York um 161.564 Einwohner (rund zwei Prozent) gewachsen. Mietpreise in Manhattan sind durch Zuwanderung, teure Bauprojekte und die rigorose Sicherheitspolitik der beiden Langzeitbürgermeister Rudy Giuliani und Bloomberg regelrecht nach oben geschnellt.

Der rasante Anstieg der Immobilienpreise führt dazu, dass Neuankömmlinge, aber auch die alteingesessenen New Yorker von Manhattan in die umliegenden Stadtteile ausweichen. Mit 2,4 Prozent oder 60.900 Personen verzeichnete Brooklyn, der größte der fünf New Yorker Bezirke („Boroughs“), in den vergangenen Jahren den größten Zuwachs.
Neben Gegenden wie Carroll Gardens oder Boerum Hill ist vor allem das vom Industrie- zum Künstlerviertel gewordene Williamsburg zur beliebtesten Wohngegend für Studenten, Jungfamilien und die Hipsterszene geworden – wegen seiner zentralen Lage (lediglich der East River trennt es von Manhattan), der vergleichsweise niedrigen Mietpreise, des europäischen Flairs und der vielen Grünflächen. Doch auch Williamsburg wird stetig teurer – und so ziehen die New Yorker wieder weiter, nach Bushwick oder Crown Heights, wo man sich das Leben in Brooklyn noch leisten kann.

Paarungsverhalten
Jung, gut ausgebildet, beruflich erfolgreich – Single. Das Klischee aus TV-Serien wie „Sex and the City“ trifft tatsächlich auf viele New Yorker zu. Demographische Daten zeigen, dass die Städter zusehends bindungsunwillig werden. Das prozentuelle Verhältnis von Frauen zu Männern liegt in New York bei 53 zu 47. Im Alter zwischen 20 bis 34 Jahren sind allerdings mehr Männer als Frauen unverheiratet. Der Anteil der Singles ist hoch, in 32 Prozent aller Haushalte lebt nur eine Person.
Was Partnerschaften betrifft, ist New York ein Ort der Unverbindlichkeit. Eine ernsthafte Beziehung zu finden, ist hier schwieriger als anderswo. Online-Dating-Seiten wie Match.com oder OkCupid.com sind beliebt, Speed-Dating-Veranstaltungen findet man überall.

Arthur Malow arbeitet als Coach für die Agentur newyorkdatingcoach.com, die über 1000 Klienten im Alter von 25 Jahren und älter betreut: „In New York ist das Angebot von Singles so unglaublich groß, dass viele sich nicht festlegen wollen“, erklärt Malow im Gespräch mit profil und beteuert: „Unsere Kunden sind hauptsächlich auf der Suche nach ernsthaften Beziehungen. Wir beraten unsere Klienten individuell, um Schüchternheit zu überwinden, oder um das richtige Verhalten bei Dates zu lernen.“
Wahrscheinlich gibt es keinen besseren Ort als New York, um
das zu üben.