Lichtungswechsel

Waldsterben. Die Geschichte einer Hysterie

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Von Verena Ahne

Waldsterben – war da was? Die Frage ist den Forstexperten ein wenig peinlich. Zumeist drucksen sie herum: Man sei damals zu jung oder jedenfalls nicht dabei gewesen, im Übrigen habe die Fachwelt daraus gelernt, und es sei „ja auch viel passiert gegen die Emissionen“. In einem Punkt immerhin lassen sich alle mit dem Thema Befassten doch noch eine klare Aussage abringen: Das kolportierte Schreckensszenario, in weiten Teilen Europas und Nordamerikas könnte es bald überhaupt keinen Wald mehr geben, sei zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt gewesen.

Im Herbst 1981 hatte alles noch ganz anders geklungen, und die Medien machten eifrig mit. Nach dem „Stern“-Titel „Über allen Wipfeln ist Gift“ legte der „Spiegel“ im November 1981 mit dem Start seiner später preisgekrönten Serie „Saurer Regen über Deutschland – Der Wald stirbt“ noch eins drauf. Völlig neu war das Thema zwar nicht, aber erst jetzt brach ein Sturm im Blätterwald los, der heftig genug war, um selbst Kinder in Panik zu versetzen.

Doch der Albtraum blieb nicht nur aus – Europas Wälder wachsen. Die Franzosen machten sich schon damals über „le waldsterben“ lustig. Zwar gab es in etlichen Gegenden sichtbare Schäden, aber die Fotografen und Kameraleute pilgerten immer zu denselben kahlen Baumgerippen im tschechischen Erzgebirge, um die Medienkonsumenten zu schocken. Auch in Österreich gab es, vor allem bedingt durch großräumige Schwefeldioxid-Verfrachtungen aus den Ostblockländern, lokale Waldschäden, aber das seit Jahrzehnten zu beobachtende Anwachsen der Waldfläche ging dennoch
ohne Unterbrechung weiter.

Woher kamen dann die düsteren Prognosen?
Und: Wie ging es dem Wald seinerzeit wirklich, und wie geht es ihm heute? Die Katastrophenszenarien fußten im Wesentlichen auf den Aussagen zweier Experten. Der Göttinger Ökosystemforscher Bernhard Ulrich, der seit den frühen siebziger Jahren im deutschen Mittelgebirge Solling umfangreiche Luft-Regen-Baum-Boden-Messungen durchgeführt hatte, stieß in der industriefernen Region auf hundertfach überhöhte Schwermetall- und Schwefelsäurekonzentrationen. Sollte das Gift auch die Wurzeln der Bäume nachhaltig schädigen, würden die ersten großen Wälder „schon in den nächsten fünf Jahren sterben. Sie sind nicht mehr zu retten“, so der Forscher im Jahr 1981.

Der zweite Mahner war Peter Schütt.
Auf einer Pressefahrt in den Bayrischen Wald im Frühjahr 1981 brachte der Münchener Forstbotaniker das – im Fach großzügig für alle Arten von Baum-Malaisen verwendete – Wort Baum- bzw. Waldsterben den Medien nahe und zeigte ihnen dazu passende Schäden im Nadelwald. Wie Ulrich glaubte Schütt, Baumkiller Nummer eins sei „zweifellos“ die Luftverschmutzung – was er, unter weitgehender Negierung anderer Möglichkeiten, die in der Wissenschaft bald diskutiert wurden, mit dem Bestseller „So stirbt der Wald“ auch im öffentlichen Bewusstsein verankerte.

Ulrich und Schütt trafen einen Nerv.
Abgase aus Industrie, Heizungen und Verkehr hatten sich – filterlos – seit den fünfziger Jahren mehr als verdoppelt, führten zu Atemwegserkrankungen und vermehrt zu oft tödlichen Herzleiden. Berichte über Baumsterben im Nahbereich von Indus­trieschloten hatte es schon seit mehr als hundert Jahren gegeben. Auch Bleischäden durch Autoabgase wurden diskutiert. Im Sommer 1981 führte etwa die kommunistische „Volksstimme“ das Kränkeln der Kastanienbäume im Wiener Prater auf Bleivergiftung zurück. Vor allem aber bewegte der saure Regen die Gemüter, jenes durch Verfeuerung von Kohle und Öl gebildete aggressive Gemisch aus Schwefel, Sauerstoff und Luftfeuchtigkeit, das in Form von Stick- und Schwefeldioxid an Baudenkmälern nagte und selbst Stahlbetonoberflächen bröckeln ließ. Laut OECD gingen damals auf Europa pro Person und Jahr im Schnitt 46 Kilogramm Schwefel nieder, in Braunkohlegebieten der DDR oder Tschechiens weit über 100.

Riesige Schornsteine, damals oft das einzige Instrument zur Luftreinhaltung, bliesen die schmutzigen Schwaden in den Himmel. Dummerweise kamen die Schadstoffe in weiter Entfernung wieder herunter, übersäuerten Böden und Gewässer. Die Bemühungen um internationale Luftreinhalteabkommen wurden nur allzu oft mit dem Argument „Schadet dem Industrie­standort“ zu Fall gebracht. Vor diesem Hintergrund erschienen die weit überzogenen Behauptungen von Schütt und Ulrich, die massenhaft verteilten Giftstoffe könnten Wälder großflächig vernichten, noch einigermaßen verständlich.

Zumal die Schäden vielerorts mit freiem Auge erkennbar waren: lichte Kronen, langsamer Wuchs, gelbe Nadeln oder Blätter. Besonders Fichten schienen zu leiden. Die Baumstresssymptome, für die es eine Palette von Gründen gab, wurden über Nacht zu „neuartigen Waldschäden“. So ­katastrophal wie im Erzgebirge, tönte es markig aus Wissenschaftermund, werde es spätestens zur Jahrtausendwende in weiten Teilen Europas aussehen. Doch dann kam, teils durch neue Schadstoffgrenzwerte, vor allem aber durch den ­Kollaps der Schwerindustrie in Osteuropa, die Wende: Binnen weniger Jahre sank der SO2-Ausstoß um fast 90 Prozent.
Während Ulrich und Anhängerschaft das offenkundige Nichtsterben des Waldes als Erfolgsgeschichte verbuchten, hielten zunehmend kritische Stimmen das Konzept als ­Ganzes für ein Fehlkonstrukt. ­Bereits im Jahr 1988 kritisierte das Wissenschaftsjournal „Nature“, es sei nicht zielführend, den Wald nur nach der Dichte der Baumwipfel zu beurteilen. Die im deutschen Waldschadensbericht vermerkten Schädigungen seien auf eine Reihe von Ursachen wie Kälte, Trockenheit, Nährstoffmangel zurückzuführen, keinesfalls auf Luftschadstoffe allein. Zudem hätten sich viele geschädigte Bäume rasch wieder erholt, von einem Waldsterben könne keine Rede sein. Mehr Realitätssinn sei angebracht.

Im Jahr 1994 listeten auch die Forstwissenschafter John Skelly und John Innes in einem Fachartikel über „Fantasie oder Realität“ des Waldsterbens Fälle auf, in denen nur die Schadstoffthese diskutiert, andere Ursachen für Baumschäden wie Sturm, Krankheiten und Schädlingsbefall aber ignoriert worden waren. „Obwohl wir akzeptieren, dass Luftverschmutzung die Gesundheit von Bäumen beeinflussen kann und es auch tut, können wir nicht akzeptieren, dass ‚Waldsterben‘ als Phänomen existiert oder der Luftverschmutzung zugeschrieben werden kann“, so das Fazit der Forscher. Denn plötzliches Baumsterben ist seit Jahrhunderten bekannt. In der Schweiz gab es allein im Zeitraum 1893 bis 1921 acht Fichtensterbenwellen. Nordamerika litt wiederholt unter schweren Rückgängen bei Zuckerahornwäldern – erst in den achtziger Jahren machte man dafür allein Schadstoffe verantwortlich.

Dabei gibt es andere Ursachen sonder Zahl, zum Beispiel Mangelerscheinungen: Der „sterbende“ Schwarzwald etwa litt an Magnesiummangel. Auch wenn das ein Effekt der Übersäuerung kalkarmer Böden ist – mit Kalk gedüngt, war der Wald bald wieder grün. Auch Hitze, Dürre, Kälte und Sturm setzen Wäldern zu. Laut dem Freiburger Forstexperten Heinrich Spiecker brauchen Bäume fünf Jahre, um sich von großer Trockenheit zu erholen – die es Mitte der siebziger Jahre in Deutschland gegeben hatte. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre kamen klirrend kalte Winter hinzu. Die Stressjahre haben für die Bäume oft weitere Folgen: Der Fraß des bei uns besonders gefürchteten Borkenkäfers kann so zerstörerisch sein, dass hektarweit totes Holz zurückbleibt, wie das Beispiel Westkanada zeigt, wo binnen weniger Jahre 160.000 Quadratkilometer Wald vernichtet wurden.

Unter Stress entwickeln Pflanzen bestimmte Symptome wie gelbe Nadeln und lichte Kronen. „Je mehr Faktoren wirken, umso mehr Symptome gibt es – das ist nicht anders als bei Menschen“, erklärt Rupert Seidl vom Institut für Waldbau der Wiener Universität für Bodenkultur die komplexen Baumkrankheiten der achtziger Jahre. Emissionen haben zum Absterben der Wälder Tschechiens oder Polens sicher beigetragen, aber die damalige Sichtweise – eine Ursache, eine Wirkung – war zu simpel.

Das gaben, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, schließlich auch Ulrich und Schütt zu: Mitte der neunziger Jahre entschuldigten sie sich dafür, zu weit gegangen zu sein und ihre Spekulationen als Erkenntnisse verkauft zu haben. Das hinderte die „Frankfurter Rundschau“ nicht daran, noch im Jahr 1995 zu verkünden: „Der Wald stirbt europaweit.“

Doch der Wald hielt sich nicht an diese Prognose.
Weil es keine sauren Regen mehr gab und aufgrund des erhöhten Stickstoffanteils in der Atmosphäre wuchs er seit Jahren praktisch überall und in manchen Gegenden sogar schneller als zuvor. Besonders Fichte und Kiefer schossen ins Kraut. Als Spiecker diesen Sachverhalt im Jahr 1996 in einer Studie dokumentierte, kannte die Empörung keine Grenzen: Der Wald wächst? Diese Studie musste gekauft sein! Doch die Trends wurden in den Folgejahren bestätigt – was eine Umdeutung erforderte: Das „Zuwachsparadoxon“, hieße es nun, sei durch Überdüngung hervorgerufenes „krankhaftes Wachstum“.

Laut Waldinventur stieg Österreichs Waldfläche seit Mitte der sechziger Jahre von rund 3,7 auf rund 4,0 Millionen Hektar – eine Zunahme um 300.000 Hektar. Das entspricht 42.000 Fußballfeldern oder der Fläche des gesamten Mühlviertels. Heute sind rund 48 Prozent unseres Landes bewaldet. In den vergangenen Jahren betrug das jährliche Plus zwischen 2,5 und drei Prozent.

Den stärksten Waldzuwachs, so Ingwald Gschwandtl, Leiter der Abteilung Waldpolitik und Waldinformation im Landwirtschaftsministerium, gibt es ab 1800 Meter Seehöhe, vor allem in schwer erreichbaren Lagen, wo die Landwirtschaft aufgegeben wird.

Dabei ist die mit Abstand dominierende Baumart die Fichte. „Ab etwa 800 Metern ist sie gut, ein heimischer Baum“, bricht Seidl dem oft geschmähten Nadelgehölz eine Lanze. Viele der für Österreich so wichtigen Schutzwälder – immerhin 21 Prozent des heimischen Waldes – bestehen aus Fichten- oder Nadelwäldern. ­Dennoch nehmen die Nadelholzbestände insgesamt ab: einerseits, weil heute Mischwälder forciert werden – nachdem eine Baumgeneration hierzulande 120 Jahre umfasst, braucht es einige Zeit, bis das auch optisch wahrgenommen wird; andererseits, weil die drei großen Stürme des vergangenen Jahrzehnts vor allem in Fichtenwäldern wüteten.
An tiefer gelegenen Standorten kämpft der Baum zunehmend mit Wärme, Trockenheit und den Nachteilen der Monokultur. „Unter 500 Meter Seehöhe wird der Borkenkäfer jede Fichte fressen“, prophezeit ein Forstfachmann. Mögliche Gegenmaßnahme: „Waldameisen – die Sie im Monokulturwald nicht finden werden – sind wichtige Fressfeinde des Borken­käfers“, sagt Bernhard Schragl, Sprecher der Österreichischen Bundesforste. Neuerdings werden auch tote Bäume als Futterplätze für Spechte und andere larvenfressende Nützlinge im Wald ­belassen.

Mischwälder, eventuell kombiniert mit Tannen, halten die Borkenkäfer ebenfalls ab. Wobei die Tanne ein Sorgenkind ist: Die langsam wachsende Pflanze wird schnell überwuchert und schmeckt dem Wild – von dem es, wie alle Förster stöhnen, viel zu viel gibt. Laut Tiroler Waldbericht 2011 ist der duftende Weihnachtsbaum aus der jüngsten Alters­gruppe der Waldbestände praktisch verschwunden.

Heute ist Holzertrag allein nicht mehr das Ziel der Forstwirtschaft: „Wir wollen einen Wald, der weniger anfällig für Schad­ereignisse ist“, so Gschwandtl. Deshalb sollen Naturnähe und Biodiversität stärker gefördert werden. Denn je mehr Bäume sich durch Selbstaussaat vermehren, desto widerstandsfähiger ist der Wald, weil damit die standortangepasstesten und stärksten Pflanzen hochkommen. Aus diesem Nachwuchs wird ein Gutteil wieder eliminiert, um eine Mischung von Baum­arten zu gewinnen, die einen stabilen Wald gewährleistet, auch wenn das Klima wärmer und trockener werden sollte.

Gewinner sind schon jetzt Rotbuche und Lärche.
Das im Bauwesen seit Jahren besonders beliebte Lärchenholz bringt nicht nur gutes Geld. Da der Baum im Winter die Nadeln abwirft und tief wurzelt, kann er Stürmen besser widerstehen. „Drei gigantische Windwürfe in nur zehn Jahren – so was gab es vorher alle Jahrzehnte einmal“, kommentiert Schragl den befürchteten Trend zu mehr Extremwetterereignissen. „Was steht dann noch auf den kahlrasierten Bergen? Buchen und Lärchen.“

Das Bild des Waldes hat sich im vergangenen Jahrhundert erheblich gewandelt. Heute wird er als komplexes System gesehen, auf das vielfältige Faktoren auf unterschiedliche Weise einwirken. „Wir wissen jetzt, dass Veränderungen nicht linear ablaufen“, erklärt der auf solche Systeme spezialisierte Forstökologe Seidl eine ihrer typischen Eigenschaften: ihre Robustheit. Selbst unter widrigen Umständen bleiben sie lange in Balance. Das hat der Wald in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen.

Sorgen müssen wir uns erst machen, wenn kritische Schwellen überschritten werden, so genannte „Tipping Points“: etwa zu viele Trockenjahre hintereinander oder ein starker Temperaturanstieg in kurzer Zeit. Jenseits der Schwellen kippt das System. Für uns Menschen, die wir auf den Wald angewiesen sind, auf sein Holz, seinen Schutz, seine Schönheit, eine äußerst beunruhigende Vorstellung. Dem Wald ist es egal: Unter den toten Stämmen keimt er wieder neu.