Warum der Mensch gut oder böse ist

Moral. Was ist Moral, und wozu brauchen wir sie?

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In den Abendstunden des 1. Mai 2011 wurden, am Rand einer pakistanischen Provinzstadt, eine ganze Menge moralischer Fragen aufgeworfen. Die Antworten stehen zum Großteil noch aus, obwohl sie seither in aller Welt debattiert werden. US-Elitesoldaten töten einen Mann, dessen Versteck sie möglicherweise dadurch gefunden haben, dass andere Männer gefoltert wurden. Das klingt, neutral betrachtet, ziemlich böse. Nun war der Mann allerdings, anders betrachtet, definitiv kein Guter, jedenfalls nicht aus der Sicht von US-Elitesoldaten und ihren Arbeitgebern. Wieder anders betrachtet handelte aber auch dieser Mann (sein Name war Osama Bin Laden) im Rahmen dessen, was er und seine Anhänger für gut hielten, nämlich der westlichen Gottlosigkeit ein Ende zu bereiten. Wie man es auch betrachtet: Moral ist ziemlich kompliziert, immer auch eine politische und manchmal eine taktische Frage. Und außerdem eine ganz grundsätzliche: Kann es gut sein, wenn ein Mensch erschossen wird? Ist es – moralisch – besser oder schlechter, je nachdem ob dieser Mensch – moralisch – besser oder schlechter war? Darf man sich freuen, wenn so etwas passiert? Darf man den Tod eines Menschen bejubeln? Und, noch grundsätzlicher: Was ist eigentlich gut, was böse, und wer bestimmt das? Woher kommt das: Moral? Und wozu ist es gut?

„So wie ich niemandem erklären kann, was ‚gelb‘ ist, der ‚gelb‘ nicht kennt, kann ich ihm auch nicht schlüssig erklären, was ‚gut‘ ist oder eben ‚böse‘“, beschrieb der englische Philosoph George Edward Moore das grundlegende Dilemma jeder Moraltheorie. Zum Glück ahnen die meisten Menschen das trotzdem, haben ein intuitives Gespür dafür, was gut ist und was böse. Wir sind keine moralisch Farbenblinden. Warum? Die Antwort liegt in der Natur des Menschen, konkreter: in seiner Stammesgeschichte.

Nach einer populären Auslegung der Darwin’schen Evolutionslehre gestaltet sich das Dasein als permanenter Kampf, in dem sich stets der Stärkere durchsetzt. Der Mensch, eine bekanntlich sehr durchsetzungsstarke Spezies, kämpft diesen Kampf offenbar sehr erfolgreich. Wir sind stark. Weil wir böse sind? Lebt in uns ein egoistisches, aggressives, triebhaftes Erbe, das wir, um miteinander halbwegs auszukommen, erst mühsam domestizieren müssen – durch moralische Regeln, an die wir uns vernünftigerweise halten oder weil es uns Gott oder das Strafgesetzbuch vorschreiben? Brodelt unter der Kruste der Kultur ein kriegerisches Magma? Ist der Mensch des Menschen Wolf, wie es der britische Philosoph Thomas Hobbes in Anlehnung an den römischen Komödiendichter Plautus formulierte?

Ja, das ist er. Zumindest insofern, als Wölfe einander ja auch nicht sinnlos massakrieren, sondern in sozial komplex organisierten Rudeln leben und dabei durchaus hilfsbereit sein können. „Wir brauchen eine Generalüberholung unserer Annahmen über die menschliche Natur. Zu viele Wirtschaftswissenschafter und Politiker machen sich ihr Bild von der menschlichen Gesellschaft nach dem ewigen Kampf, der ihrer Meinung nach in der Natur tobt, jedoch in Wahrheit reine Projektion ist“, schreibt der niederländische Verhaltensforscher Frans de Waal in seinem neuen Buch „Empathie“, in dem er die einfühlsame Seite der menschlichen Evolution erläutert. Im profil-Gespräch führt de Waal seine These noch näher aus: „Ich habe den Eindruck, dass diese Betonung des Existenzkampfs und des Konkurrenzprinzips übertrieben wird und dass dabei ideologische Hintergründe eine Rolle spielen. Unsere sozialen Anlagen werden von den Befürwortern einer Konkurrenzgesellschaft bewusst unterschätzt.“

Tatsächlich sei der Mensch ein soziales Tier, dessen evolutionärer Erfolg eben vor allem auf seinem Einfühlungsvermögen und seiner Fähigkeit zur Kooperation beruht: „Wer in einer Gruppe lebt, macht das, weil er davon Vorteile hat. Wir stammen von einer langen Linie von Primaten ab, die in Gruppen leben. Darum sind Empathie und Solidarität in unserer Spezies sehr hoch entwickelt. Wir haben nie als Einzelgänger existiert.“ In seinen Studien zum Sozialgefühl von Schimpansen konnte de Waal belegen, dass schon bei Primaten so etwas wie ein „aufgeklärter“ Egoismus am Werk ist: Wer sich für die Gruppe einsetzt, handelt im eigenen Interesse. Wer Streit schlichtet, stiftet Sicherheit. Der Kampf ums Dasein ist kein Kampf aller gegen alle, sondern der von Gemeinschaften gegen ihre Umgebung. Gut zu sein ist evolutionär gesehen gar nicht so schlecht. Die Natur des Menschen tendiert zur Kuschelei.

Nicht in allen Lebensbereichen hat sich diese Ansicht durchgesetzt. In einem der berühmteren Monologe der Filmgeschichte erklärte der „Wall Street“-Händler Gordon Gekko schon anno 1987: „Entscheidend ist, meine Damen und Herren, dass Gier – um dieses Wort mangels eines besseren zu benutzen – gut ist. Gier ist richtig. Gier funktioniert.“ Dass diese These nach wie vor ihre Anhänger hat, lässt sich im Österreich des Jahres 2011 ja mit schöner Regelmäßigkeit beobachten, insbesondere in den Politik- und Wirtschaftsnachrichten. Ja, Gier funktioniert tatsächlich. Aber nur, wenn innerhalb einer Gruppe nicht jeder gierig ist oder zumindest nicht jeder seiner Gier nachgibt. Andernfalls kollabiert das Gemeinwesen. Egoismus funktioniert nur als Einzelfall. Die Theorie des Sozialdarwinismus, die das „survival of the fittest“ auf Wirtschaft und Gesellschaft umlegte, verfehlt den Kern des menschlichen Zusammenlebens, bietet aber immerhin eine hübsche Ausrede für Emporkömmlinge und Geldadelige, ihren Aufstieg und Reichtum als eine Art Naturgesetz zu rechtfertigen, und sei er moralisch noch so bedenklich.

Diesen Umstand betont auch der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins, der mit seinem Buch „Das egoistische Gen“ selbst eine Vorlage für allerlei zeitgenössische Sozialdarwinismen bot. In seinem jüngsten Werk „Der Gotteswahn“ korrigiert er dieses populäre Missverständnis: „Die darwinistische Vorstellung, natürliche Selektion sei die Triebkraft der Evolution, scheint auf den ersten Blick nicht dazu geeignet zu sein, unsere guten Eigenschaften oder unser Gefühl für Moral, Anstand, Mitgefühl und Mitleid zu erklären.“ Trotzdem sei die Idee des Al­truismus vereinbar mit der Theorie des egoistischen Gens – weil es eben um dieses Gen geht und nicht um das egoistische Individuum: „Unter manchen – gar nicht einmal so seltenen – Voraussetzungen sorgen die Gene für ihr eigenes egoistisches Überleben am besten dadurch, dass sie den Organismus zum Altruismus veranlassen.“

Dieses Prinzip lässt sich übrigens auch schon im ganz Kleinen beobachten: Im vergangenen Herbst konnten Wissenschafter vom Howard Hughes Medical Institute in Boston nachweisen, dass sich einzelne Bakterien einer Escherichia-Coli-Kultur für den Fortbestand ihres Stammes opferten. Sie hatten eine Resistenz gegen Antibiotika entwickelt und gaben diese Information mittels Botenstoff an alle anderen Bakterien ihrer Kultur weiter, obwohl sie dabei selbst massiv geschwächt wurden und in der Folge leichter zugrunde gingen.

Nun handeln Bakterien wohl nur in den seltensten Fällen aus moralischen Motiven. Der Mensch hingegen sehr wohl. Dauernd und unausweichlich. „Der Mensch ist ohne Moral nicht denkbar. Es gibt keinen Menschen ohne moralische Vorstellung“, sagt Sigrid Müller, Vorstand des Instituts für Moraltheologie der Uni Wien. Das birgt auch Problempotenzial. Denn Moral hat immer zwei Seiten. Und der Mensch ist zwar im Grunde ein soziales Tier, kann aber auch ausgesprochen bösartig sein. Und dabei auch ziemlich blöd.

Wie blöd, hat Andrew Oswald von der University of Warwick in England herausgefunden. In einem Laborversuch ließ er vier Probanden unabhängig voneinander ein einfaches Glücksspiel durchführen. Die Versuchspersonen erfuhren nichts von den jeweils anderen, außer deren Gewinn­summen. Daraufhin machten ihnen die ­Forscher ein unmoralisches Angebot: Sie dürften den Gewinn ihrer Mitspieler verringern, müssten allerdings für jedes verlorene Pfund auf dem Mitspielerkonto selbst 25 Pence abgeben. Fast zwei Drittel der Versuchspersonen ließen sich auf den selbstbeschädigenden Deal ein und verzichteten auf eigenen Profit, solange nur die anderen noch mehr verloren. Ungleichheit wird vom Menschen tief empfunden. Die Reaktion darauf ist nicht immer ra­tional.

Weil sie – wie Aggression, aber auch Lust- und Glücksgefühle – ans limbische System im Gehirn gekoppelt ist, das in etwa dem Freud’schen Unterbewussten entspricht. Tatsächlich konnten Gehirnscans nachweisen, dass die Lust an der Rache jener an Sex oder gutem Essen entspricht, was darauf hindeutet, dass sie eine sehr ursprüngliche evolutionäre Rolle spielt. Das widerspricht der These vom sozialen Wesen Mensch wiederum nur auf den ersten Blick, denn Rache hat auch einen sozialen Effekt: als eine Art vormoderne Justiz, ein automati­siertes Disziplinierungsmodell innerhalb von Gruppen. Gerechtigkeit ist ein Trieb und muss nicht gelernt werden. Moral ist angeboren, ganz im Sinne Jean-Jacques Rous­seaus, der in „Emile oder Über die Erziehung“ schon 1762 feststellte, dass der Mensch über „ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit oder der Tugend (verfügt), nach dem wir unsere Handlungen und die Anderer beurteilen, ob sie gut oder böse sind. Und diesem Prinzip gebe ich den Namen Gewissen.“

Tatsächlich zeigten Untersuchungen von Entwicklungspsychologen der Universität Yale, dass bereits einjährige Kinder über eine grundlegende Form von Gerechtigkeitsempfinden verfügen. Die Forscher zeigten zwölf Monate alten Babys ein Puppenspiel: Eine Puppe rollt einen Ball zu einer zweiten, diese rollt ihn zurück. Dann spielt die erste den Ball zu einer dritten – die ihn sich einfach schnappt und wegläuft. Nach der Aufführung wurden vor jede Puppe Süßigkeiten platziert. Die Versuchsbabys bedienten sich durchwegs beim Reservoir der dritten – bösen – Puppe. Manche unterstrichen ihre Antipathie auch mit einem Schlag auf die Puppe. Die Entwicklungspsychologin Monika Keller vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung erklärt: „Kinder lernen, dass gewisse Taten nicht erlaubt sind und sie bei einem Vergehen mit Sanktionen rechnen müssen. Lange Zeit wurde in der Forschung angenommen, dass Kinder nur über solche äußeren Regeln und im gegebenen Falle durch Bestrafungen ein moralisches Bewusstsein erlangen. In unseren Untersuchungen zeigt sich aber, dass sie bereits früh auch über eine innere, empathische Moralvorstellung verfügen und Schuldgefühle empfinden.“

So weit zur Moral von Kleinkindern und Affenherden. Eine Spur komplizierter wird es, wenn sich soziale – und moralische – Zusammenhänge nicht mehr nur auf die kleinste gemeinsame Gruppe beziehen, sondern auf die ganze Welt. Seit es auch eine Frage der Moral darstellt, ob man auf dem Weg zur Arbeit das Auto benützt oder sich abends eine Billigpizza ins Rohr schiebt, lassen sich moralische Entscheidungen oft nicht mehr per Bauchgefühl fällen. Soll ich spenden, obwohl mit meinen Steuern ohnehin Entwicklungshilfe gezahlt wird? Mache ich den Bettler mit meinen zwei Euro zum Almosenempfänger, anstatt für seinen Rechtsanspruch auf Grundversorgung einzustehen? Der Jurist und Mediziner Rainer Erlinger, der mit seiner Kolumne „Gewissensfrage“ im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ zu einer Art moralischer Instanz avanciert ist, erklärt die Hilflosigkeit des modernen Menschen: „Das liegt vor allem daran, dass die klassischen moralischen Instanzen, Kirchen, aber auch die direkte Umgebung wie Nachbarn oder Familie, einen geringeren Einfluss haben als früher. Der moderne Mensch lässt sich – übrigens ganz zu Recht – nicht mehr ohne Begründung sagen, was richtig ist und was falsch. Aber darum braucht er eben auch diese Begründung.“ Zum Beispiel für komplexe Probleme wie die Frage – in Erlingers Beratungspraxis übrigens die mit großem Abstand meistgestellte –, ob man die vor Weihnachten verschickten Gratispostkarten wohltätiger Organisationen auch verwenden darf, ohne zu spenden (ja, darf man). Erlinger: „Wir haben von der Biologie her ein Grundverständnis für Richtig und Falsch, eine positive Grundeinstellung zu den Mitmenschen und zur Gesellschaft. Aber sie wird kulturell überformt und beeinflusst. Diese kulturellen Normen muss man auf die konkreten Situationen erst anwenden. Dazu kommt ein zweites Problem: Unsere angeborene Ethik ist eine Nah-Ethik, die sich stammesgeschichtlich in kleinen Gruppen entwickelt hat. Innerhalb dieser Gruppen funktioniert sie auch heute noch sehr gut, weniger aber, wenn es darum geht, welche globalen Auswirkungen unser Tun hat. Dafür haben wir kein moralisches Gefühl entwickelt.“

Wie veränderlich Moralbegriffe sein können, zeigt etwa das Beispiel der Sparsamkeit: Jahrhundertelang galt der sparsame Mensch als tugendhaft. Heute kann diese edle Eigenschaft aber auch im engeren Sinn böse sein: Der vom geilen Geiz ausgelöste Preiskampf wirkt sich auf Umwelt, Tierrechte, ganze Volkswirtschaften aus. Nicht immer zum Guten. Erlingers Fazit: „An der alten Tugend Sparsamkeit festzuhalten kann heute unmoralisch sein.“

Weil in einer Welt, in der fast alles mit allem zusammenhängt, auch kleine, individuelle Handlungen schwer abschätzbare Folgen haben können, verlagert sich der Fokus alltäglicher Moral in die Zukunft: Was bedeutet es für meine Kinder, wenn ich montags kein Fleisch esse und mein Geld in grüne Aktienfonds stecke? Bei der Beantwortung solcher Fragen können die Zehn Gebote nur noch wenig Hilfe bieten, und auch der kategorische Imperativ Immanuel Kants macht schnell schlapp. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Schön, aber was hilft mir das am Supermarkt­regal?

Verfällt die allgemeine Moral etwa auch deshalb:
weil die Welt so unübersichtlich geworden ist? Pfeifen Politiker, Wirtschaftstreibende oder Fußballtrainer deshalb so offensichtlich auf die „ethical correctness“, weil man’s ja sowieso nicht richtig und niemanden mehr recht machen kann? Weil ohnehin immer irgendwer das Böse im Guten findet und umgekehrt? Konrad Paul Liessmann, Philosoph in Wien, sieht die Situation zunächst einmal nicht so dramatisch, wie es die Fälle Strasser, Meinl, Grasser, Meischberger, Madoff, Berlusconi, Pacult oder Martin nahelegen würden: „Gerade im Bereich der Politik und der Wirtschaft hat es Formen der Korruption immer schon gegeben. Ich darf daran erinnern, dass Immanuel Kant einmal mit Entsetzen bemerkte, ihm sei zu Ohren gekommen, dass jeder Abgeordnete des englischen Parlaments käuflich sei – es komme nur auf den Preis an. Neu ist das wahrlich nicht.“ Rainer Erlinger assistiert: „Wir haben keinen Verlust der Werte, sondern einen Verlust der Sitten. Wir haben im Grunde sogar mehr Moral, weil wir mehr darüber nachdenken. Es ist nichts Neues, dass ein Politiker sich bestechen lässt. Aber es ist neu, dass die Öffentlichkeit dar­über entrüstet ist.“

An dieser Stelle kommt ein weiteres moralisches Grundproblem ins Spiel: Inwieweit ist der bestechliche Politiker eigentlich absichtlich böse? Oder allgemeiner: Kann sich der Mensch überhaupt aus eigenen Stücken fürs Gute oder Böse entscheiden? Sind moralische Entscheidungen tatsächlich Willensbekundungen – oder sind wir nicht ohnehin unseren Trieben und Instinkten ausgeliefert? Der Verhaltensforscher Frans de Waal geht von einem Doppelspiel aus: „Moral ist ein Produkt der Gesellschaft und der Kultur, aber die darunterliegende Psychologie ist viel älter.“ Ähnlich sieht das die moderne Gehirnphysiologie: Moralische Entscheidungen entstehen demnach in einem Wechselspiel zwischen limbischem System und präfrontalem Kortex, banaler: zwischen Emotion und Vernunft.

Dabei wird gerade in der jüngeren Neurowissenschaft die menschliche Willensfreiheit massiv angezweifelt – mit gravierenden ethischen Konsequenzen, wie der Gehirnforscher Gerhard Roth erläutert: „Das Gefühl der persönlichen Schuld, das wir häufig empfinden, wenn wir etwas Unrechtes getan haben, resultiert aus der irrtümlichen Annahme, wir als bewusstes Ich hätten das Unrecht verursacht.“ Der Berliner Strafverteidiger und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach („Verbrechen“, „Schuld“) verwahrt sich zwar dagegen, dass die Neurologie den Menschen von seiner juristischen Verantwortung befreien könne, geht aber auch davon aus, dass die Übergänge zwischen gesellschaftlich akzeptablem Verhalten und Verbrechen tatsächlich fließend sind: „Das Vermögen, ein Verbrechen zu begehen, steckt in jedem von uns, wir alle sind mögliche Straftäter. Es ist die Situation, die das Verbrechen gebiert.“

Die Grenzen sind fließend:
Auch jenen US-Soldaten, die im irakischen Gefängnis Abu Ghraib ihre Gefangenen gequält und erniedrigt haben, könnten in diesem Sinn auf Strafmilderung plädieren. Tatsächlich sprach sich der US-Psychologe Philip Zimbardo von der Universität Stanford genau dafür aus und erklärte, dass die Gegebenheiten in jenem Gefängnis ein solches Verhalten geradezu provoziert hätten. Zimbardo weiß durchaus, wovon er spricht, im Jahr 1971 schrieb er mit einem dramatischen Experiment Wissenschaftsgeschichte: Geboren in der Bronx, wunderte sich Zimbardo über Altersgenossen, die in kriminelle Milieus abdrifteten, während andere mit vergleichbarem sozialem Hintergrund studierten und Karriere machten. Um die Mechanismen zu studieren, die Menschen auf die gute und die böse Seite des Lebens drängen, simulierte er eine Gefängnissituation, in der Studenten nach dem Zufallsprinzip zu „Wächtern“ oder „Gefangenen“ erklärt wurden. Vierzehn Tage sollte das Experiment dauern, musste aber bereits nach sechs Tagen abgebrochen werden: Während einige „Gefangene“ bereits psychische Zusammenbrüche erlitten, begannen die „Wächter“, ihre Untergebenen auf sadistische Weise zu quälen. Zimbardo beschrieb das Verhalten der „Wächter“ als „Luzifer-Effekt“ und bestätigte damit, was sein Schulfreund Stanley Milgram zehn Jahre davor mit seinem nicht minder berühmten Elektroschock-Experiment erkundete: Das Verhalten des Menschen unterliegt äußeren Faktoren, die in Extremfällen blitzschnell alle moralischen Werte untergraben können.

Zimbardos Kollegin Brook Deterline zeigt sich auch heute noch bestürzt über die eigenen Untersuchungsergebnisse: „Es ist unglaublich, wie sich das Verhalten von Menschen unter bestimmten Bedingungen innerhalb von Minuten ändert und dass sich niemand diesen Mechanismen entziehen kann.“ Andererseits habe sich aber auch gezeigt, dass Menschen, die über diese Mechanismen Bescheid wissen, in autoritären Versuchsanordnungen schneller selbstreflexiv werden und daraufhin auch schneller Widerstand leisten.

Anders formuliert:
Der Mensch ist unter bestimmten Umständen zwar leider schlecht, kann sich aber bessern. Sollte sich bessern, wie wiederum ein Blick in eine beliebige Tageszeitung verdeutlicht. Ob er es Gott oder seinen Kindern zuliebe macht, ob er dabei Aktienkurse im Blick hat oder Wähler, bleibt jedem selbst überlassen. In der besten aller Welten würde er es einfach so machen – grund-, aber nicht sinnlos. Es gilt das Diktum des Physikers und Moralisten Albert Einstein: „Wenn die Menschen nur deshalb gut sind, weil sie sich vor Strafe fürchten oder auf Belohnung hoffen, sind wir wirklich ein armseliger Haufen.“

Lesen Sie im profil 19/2011 ein Interview mit dem Wiener Philosoph Peter Kampits über die Schnittmenge von Gut und Böse und warum moralische Prinzipien auch nach hinten losgehen können