Was denn noch alles?

Was denn noch alles?

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Beharrlich diffamieren GegnerInnen der gemeinsamen Schule für die Zehn- bis Fünfzehnjährigen die Gesamtschule als undifferenzierte Gleichmacherei, bei der speziellen Begabungen und Schwächen keine Rechnung getragen würde (zuletzt behauptet von ÖVP-Bildungssprecher Werner Amon in einem Gastkommentar für den „Standard“ am 4. Februar).

Das Gegenteil ist der Fall. Das Konzept der Gesamtschule beruht auf Differenzierung, allerdings auf innerer. Die Zehn- bis Fünfzehnjährigen sollen zwar zusammen in die Schule gehen, aber trotzdem je nach Talenten beziehungsweise Schwächen individuell betreut werden, mit einem System von Förder- und Kompensationsunterricht. Was wegfällt, ist lediglich die äußere Stigmatisierung, die schon den Zehnjährigen signalisiert, ob sie würdig oder unwürdig sind, der so genannten höheren Bildung teilhaftig zu werden.

Genau darauf scheint es der Gegnerschaft aber anzukommen: auf das Beibehalten sozialer Schranken.

In dieser Hinsicht funktioniert unser früh selektierendes System auch ganz gut. Mehr Kinder aus Mittel- und Oberschichtfamilien maturieren bzw. absolvieren ein Studium als Kinder aus Unterschicht- und MigrantInnenfamilien.
So haben es die Bewahrer alter Ordnungen gern. Denn der Effekt beweist scheinbar, was sie behaupten: dass die Zugehörigkeit zu den privilegierten Schichten genetisch vererbbar sei. Kinder halbwegs gebildeter Eltern seien halt offenbar intelligenter, da könne man nix machen.

Vererbt werden indessen nur bessere Rahmenbedingungen wie häusliche Förderung und Nachhilfestunden. Das heißt: Man kann sehr wohl was machen. Wenn man will.

Die frühe Gabelung des Bildungsweges ist jedenfalls nicht dazu angetan, die wahren Probleme zu lösen.

In der Praxis hat sich Folgendes herauskristallisiert: In den Städten gehen die meisten Kinder aus einheimischen Familien in eine höhere Schule, die Hauptschulen sind ein Sammelbecken von Kindern aus zugewanderten und sozial problematischen Familien. Das heißt, die höheren Schulen sind – im städtischen Bereich – zur gemeinsamen Schule für einheimische Zehn- bis Fünfzehnjährige geworden.

Allerdings mangelt es ihnen an innerer Differenzierung und den Hauptschulen – wegen fehlender Mittel – an der Möglichkeit, ihre besonders schwierige Klientel effektiv zu betreuen.

Auf dem Land hingegen gehen nach wie vor viele Kinder in die Hauptschulen, auch solche, die vorhaben, später in höhere Schulen zu wechseln, erstens aus Gründen der Erreichbarkeit und zweitens, weil die ländliche Hauptschule – zumindest dort, wo sich SchülerInnen mit besonders großem Betreuungsbedarf zahlenmäßig in Grenzen halten – von beachtlicher Qualität ist.

In gewisser Weise sind also längst ohnehin andere Strukturen entstanden als die von der Politik intendierten.

Dass sie freilich besser sind als ein seriös umgesetztes Gesamtschulkonzept, sollte spätestens nach PISA nicht mehr behauptet werden.

Bildungsdebatten werden gern unter dem Titel geführt: Was soll denn die Schule nicht noch alles leisten?
Gute Frage. Die Kernfrage.

Am Beispiel einer Radiodiskussion über die PISA-Studie (am 2. Dezember 2004 in Ö1): Eine Elternvertreterin erklärt, die Schule habe auch die Aufgabe, soziale Defizite des Elternhauses zu kompensieren. Wenn eine Mutter selber nicht Deutsch könne, wie solle sie dann mit den Kindern lesen üben? Darauf ein Beamter des Unterrichtsministeriums, spöttisch lachend: Wie die Frau Ministerin immer sage, demnächst werde die Schule auch noch verantwortlich sein, wenn die Kinder Übergewicht hätten …

Ja, und? Übergewicht ist nicht selten ein Resultat sozialer Benachteiligung. Gesunde Ernährung setzt Information voraus und kostet Geld sowie Zeit. Nichts davon ist in Unterschicht- und MigrantInnenfamilien selbstverständlich vorhanden.
Die Schule kann nicht alles kompensieren, gewiss. Aber über gesunde Ernährung kann und soll sie zum Beispiel durchaus informieren. Und für Bewegung sorgen müsste sie auch. Stattdessen werden Turnstunden gestrichen.
Manchmal führt sich eine vermeintliche Absurdität selber ad absurdum.

Also: Was soll die Schule? Sich auf Wissensvermittlung an die Wissbegierigen beschränken? Oder auch Lust aufs Lernen wecken? Soziale Gerechtigkeit fördern? Oder möglichst früh die gute Gesellschaft von der Plebs trennen? Sich damit begnügen, Eltern, die ihre Kinder nicht fördern können, zu schlechten Eltern zu erklären? Oder versuchen, Verantwortung zu übernehmen für solche Kinder?
Kaum rief die Ministerin, erstaunlich genug, die Ganztagsbetreuung aus, kamen auch schon reflexartige Warnungen, zum Beispiel vom Gemeindebund: Bauliche Änderungen seien nicht leistbar, mehr als eine Aufbewahrung der Kinder in den Klassenzimmern sei nicht drin.

Im Klartext: Das (verwerfliche) Delegieren der Kinder an die Schulen könne nur eine Notlösung sein. Diese Haltung hat Tradition und trifft vor allem jene, die keine andere Wahl haben, als sich auf die Förderung oder Nichtförderung in öffentlichen Schulen zu verlassen. Man kann sich achselzuckend über sie hinwegsetzen. Dann darf man sich allerdings nicht über Leistungsdefizite wundern, die – auch – aus dem Brachlegen von Talenten plebejischer Herkunft resultieren.